Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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Quelle:
Neue Zürcher Zeitung Literatur und Kunst, 6. Oktober 2001, Nr.232, Seite 81
Griechendämmerung
Unsere Beilage zur Buchmesse
Nah ist Griechenland, und zugleich seltsam fern. Wer kennt, wer liebt sie nicht: die ewige griechische Szenerie aus Inseln und Meer, Bergen und Himmel, Säulen und Licht? Wer aber kann über die gängigen Bilder hinaus von sich behaupten, mit der griechischen Szene der Gegenwart auch nur annähernd vertraut zu sein? - Wo es den Horizont klassischer Bildung verlässt, verliert sich das Wissen um die griechische Historie im Nebel. Paradoxerweise wächst mit der zeitlichen Nähe die Ignoranz: Die Antike, der Hellenismus, Byzanz, die Türkenherrschaft, der Befreiungskampf . . . der Zweite Weltkrieg, der Bürgerkrieg, die Militärdiktatur - und was war dazwischen? Die Literatur: Kazantzakis und, allenfalls, Kavafis, natürlich die zwei Nobelpreisträger - wie hiessen sie doch gleich? Die Musik: Mikis Theodorakis, die Callas, Nana Mouskouri. Der Film: Theo Angelopoulos und Melina Mercouri. Und die Kunst . . ., und das Theater . . .?
Es ist kaum zu glauben, aber der letzte breite Bewusstseinsschub in Sachen Griechenland liegt hierzulande mehr als drei Jahrzehnte zurück. «Sorbas der Grieche», Michalis Kakojannis' Verfilmung eines Romans von Nikos Kazantzakis, prägte nach 1965 für zwei Generationen das Bild Griechenlands als Ort geschichtsloser Zivilisationsferne und eines lebensfrohen Anarchismus. Der atavistische Tanz des Hauptdarstellers Anthony Quinn zum Sirtaki von Mikis Theodorakis war geeignet, dem Nachkriegshumanismus seinen naiven Säulenglauben auszutreiben, gleichzeitig beförderte er jene Klischees, welche die Tourismuswerbung seither in der Apotheose von Sonne, Meer und Wein unermüdlich perpetuiert. Nicht zufällig fielen die Förderung und der Aufstieg des Tourismus in den sechziger Jahren in eine Zeit politischer Repression durch ein faschistoid-konservatives Machtkartell, das die Demokratie im Würgegriff hielt. Das wirtschaftliche Kalkül paarte sich mit dem moralischen: Wohin die Fremden strömen, da kann ja wohl nichts falsch sein . . . Es ist von bitterer Ironie, dass sich eben zu dieser Zeit viele Griechen gezwungen sahen, ihr Land ohne Hoffnung zu verlassen und in der Fremde das Glück zu suchen.
Die Wiederherstellung der Demokratie 1974 nach dem Sturz der Militärjunta brachte insofern eine Befreiung, als die über Jahrzehnte mundtot gemachte politische Linke endlich Gelegenheit erhielt, ihr utopisches Griechenland zu entwerfen. Viel mehr als ein mit Antiamerikanismus gepaarter, aufgeregter Nationalismus kam dabei nicht heraus. Es brauchte die Epochenwende von 1989, um dem steril gewordenen Kulturkampf zwischen Links und Rechts ein Ende zu setzen. Die Mitgliedschaft in der EU, die das Land aus der wirtschaftlichen Misere erlöste, hat die mentalen Vorbehalte gegen den Westen weiter eingeebnet. Ein säkularer Staat ist Griechenland dennoch noch lange nicht. Noch spielt die griechisch-orthodoxe Kirche eine politisch massgebliche Rolle, noch mauert sie erfolgreich gegen die Zumutungen der Moderne. Dennoch stellt der Wandel zur multikulturellen Gesellschaft (nicht zuletzt durch die starke Einwanderung aus den Armenhäusern des Balkans) den überkommenen politisch-religiösen Identitäts- und Sinnstiftungskomplex zunehmend in Frage.
Der Auftritt Griechenlands an der Frankfurter Buchmesse fällt in eine Zeit, da die alten Bilder wanken oder bereits gefallen sind. Die Entmythologisierung des heroischen Hellas und die Heiligung des griechischen Alltags haben ihr sichtbarstes Zeichen in den Filmen von Theo Angelopoulos gefunden. Die Erlösung der Antike aus dem Licht-Gewand, in das sie die humanistische Aufklärung und der bildungsbürgerliche Philhellenismus seit dem 18. Jahrhundert gesteckt hatten, ist dank einer neuen Generation von Anthropologen, Archäologen, Linguisten und Historikern (lange Jahre vornehmlich angelsächsischer oder französischer Provenienz) in vollem Gang. Einen neuen politisch-historischen Realismus hat schliesslich auch der blutige Zerfall Jugoslawiens mit sich gebracht. Man erinnert sich wieder der historischen Gewordenheit und der kulturellen Interdependenz dieses Raumes, zu dessen Produktivität immer auch das islamische Element gehört hat.
Längst Überfälliges wird in Frankfurt geschehen. Dank einer breiten Übersetzungsinitiative steht in diesem Herbst die griechische Erzählkunst der Gegenwart zu entdecken - und mit ihr eine Geschichte, die den Griechen mancherlei Verheerung beschert hat: die «kleinasiatische Katastrophe» 1922 (das Ende des imperialen Traums von Grossgriechenland dies- und jenseits der Ägäis), das Thema der Dichter-«Generation der dreissiger Jahre». Die traumatische Erfahrung von Krieg und Bürgerkrieg, der Stoff der «Generation der Niederlage», die - unter den Bedingungen der Repression - viel von ihrer Kunst auf dem Altar der Politik zu opfern gezwungen war. Brisant ist die Nachkriegsepoche noch heute, doch nähern sich ihr die Schriftsteller mittlerweile entspannt mit Skepsis und Ironie, dabei nicht selten die Grenzen des Realismus sprengend. Bei den Jüngeren weitet sich der Blick entschieden ins Internationale, und die Perspektive der Frauen kommt hinzu. Arkadien, das war einmal. Es ist Zeit aufzuwachen - die Griechendämmerung hat begonnen.
Andreas Breitenstein
- Ein Schiff namens
Agonia - Griechenland und seine Literatur auf der Reise durch die
Jahrhunderte
- Grosse Mutter der
Armen - Griechenland zwischen Multikulturalität und
Ethnozentrismus
- Die
«Kleinasiatische Katastrophe» - Ein unbewältigtes
Trauma der neueren griechischen Geschichte
- La belle inconnue -
Ein kleiner Rundgang durch die griechische
Literatur
- Unsere fremd
gewordene Antike - Warum wir ihr mehr verdanken, als wir noch
wahrhaben wollen
- Die
Selbstverständlichkeit der Gegensätze - Athen - eine
Beschreibung wider seine Verächter
- Das wahrhaft Altneue
- Spiel, Mode, Religion: der europäische
Philhellenismus
- Orthodoxie oder Tod? - Die gespaltene Identität der griechischen Moderne
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