Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Quelle:

Neue Zürcher Zeitung Literatur und Kunst, 6. Oktober 2001, Nr.232, Seite 88

 

Orthodoxie oder Tod?

Die gespaltene Identität der griechischen Moderne

Von Heinz Gstrein

«Orthodoxie oder Tod!» verkünden Spruchbänder am Kloster Esfigmenou auf dem heiligen Berg Athos. Die nordgriechische Abtei betrachtet sich als Bollwerk gegen das Aufgehen des orthodoxen Griechenland in einer multikulturell-multireligiösen EU. Zum Unterpfand dieser nicht nur bei den Athos-Mönchen als gefährdet empfundenen religiösen Identität der modernen Griechen hat Erzbischof Christodoulos von Athen die polizeilichen Identitätskarten erklärt. Auf diesen war im Zweiten Weltkrieg unter deutscher Besatzung die Angabe der Religion obligatorisch geworden. Konkret «orthodoxer Christ», «armenischer Christ», «Katholik», «Evangelist» (sic), «Muslim» oder «Israelit». Letzteres wurde den über 60 000 Juden in Thessaloniki, dem damaligen Jerusalem des Balkans, zum Verhängnis: Der Glaubensvermerk auf den Ausweisen erleichterte der Gestapo wesentlich eine lückenlose Festnahme zum Abtransport in die Vernichtungslager. Hingegen konnte der damalige Athener Polizeichef Angelos Evert zahlreiche «Israeliten» durch ein Umschreiben zu «orthodoxen Christen» vor dem Holocaust bewahren.

REST VON MISSTRAUEN

Den Schrecken des Weltkriegs folgten bis in die fünfziger Jahre hinein die oft noch schlimmeren Greuel des Bürgerkriegs zwischen dem linken Flügel der Partisanen und dem vom Exil samt seinen Rechtspolitikern heimgekehrten Königshaus. Damals diente der Vermerk «orthodoxer Christ» als Nachweis einer auch weltanschaulich rechten Gesinnung und zur Ausgrenzung von glaubensfeindlichen oder auch nur zur slawischen (bzw. rumänischen) statt der griechischen Orthodoxie zuneigenden Dissidenten. Dies, obwohl die Religion quer durch die Bürgerkriegslager lief, sich bei den Verbündeten der Volksarmee Bischöfe der orthodoxen Landeskirche genauso fanden wie ausgesprochen antiklerikale Liberale oder Ultranationale im Regierungslager. Auch heute ist ein Rest von Misstrauen gegen alle zurückgeblieben, die sich nicht als griechisch-orthodox und damit auch nicht als richtige Griechen ausweisen können. Das geht bis hin zur Diskriminierung: Weitgehend verschlossen bleibt Nichtorthodoxen der höhere Staats-, Armee- und Polizeidienst, das Lehramt an öffentlichen Schulen - aber auch die Anstellung bei der Berufsfeuerwehr, weil sie eben mit ihrem falschen Glauben auch nicht die rechte Zuverlässigkeit beim Brandlöschen mitbringen . . .

Die derzeitige griechische Regierung des Reformsozialisten Kostas Simitis war daher gut beraten, neben ihren erfolgreichen Anstrengungen um Wirtschafts- und Währungskonvergenz mit den EU-Staaten die Abschaffung dieser staatskirchlichen Relikte in Angriff zu nehmen. Den Auftakt bildete im Frühsommer 2000 die Ausmerzung der Religionsangabe auf den Personalausweisen, das erklärte Fernziel dagegen eine klare Trennung der orthodoxen Landeskirche vom Staat. Die heftigen Reaktionen des Athener Erzbischofs Christodoulos als Oberhirten der meisten griechischen Orthodoxen - die anderen unterstehen dem ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I. - werden nur vor dem Hintergrund der Schmälerung der bisherigen öffentlichen Rolle der Orthodoxie im modernen Griechenland verständlich. Der streitbare Kirchenfürst hat es verstanden, über drei der insgesamt elf Millionen griechischen Bürger zur Unterschrift für eine zumindest fakultative Beibehaltung des «orthodoxen Glaubensbekenntnisses auf der Identitätskarte» zu bewegen. Anderenfalls, warnt er, sei die gesamte orthodoxe Identität des griechischen Volkes gefährdet. Dagegen sind nicht nur viele Griechen bereit zu unterschreiben, sie demonstrieren auch lautstark in den Strassen Athens und anderer Städte. Auf Spruchbändern werden jene denunziert, die für die ganze unchristliche Globalisierung und besonders für die Zerstörung des byzantinischen Glaubens- und Kulturerbes verantwortlich sein sollen: «Juden und Freimaurer: In Griechenland habt ihr nichts verloren!»

In der Suche nach dem Sündenbock treffen sich die Ultraorthodoxen und radikale Nationalhellenen, die sonst nichts miteinander gemein haben. Sich am Ideal des klassischen Hellas orientierend, haben die Nationalhellenen die Athos-Parole «Orthodoxie oder Tod» in «Griechentum oder Tod» abgewandelt. Zu lesen war das aber seit längerem nur noch in Cheimarra oder anderen Städten der griechischen Minderheit im Süden Albaniens, wo sich Ewiggestrige noch immer Hoffnung auf eine Wiedervereinigung dieser «verlorenen Heimat» mit dem Mutterland machen. Erzbischof Christodoulos hatte diese «Hellenisierer» zunächst fast ebenso heftig wie die Europäisierer bekämpft. Anfangs bezeichnete er sogar die für Sommer 2004 in Athen geplanten Olympischen Spiele als unchristliche Reverenz an das antike Heidentum.

VOM WESEN DER WIEDERGEBURT

Seither haben seine Orthodoxie-Jünger aber ihren Frieden mit den Griechentümlern gemacht, so dass diese der Kirche nicht länger vorwerfen, das klassische Griechenland mit seinen Göttertempeln und Philosophenschulen vandalisch ausgelöscht und durch eine bei aller späteren Hellenisierung zutiefst fremde, weil jüdische Religion und Kultur ersetzt zu haben. Die orthodox-nationalgriechischen Einheitsideologen der Stunde sprechen in ihren Schriften von einem urgriechischen Alten Testament, das von den Juden verfälscht worden sei. Schon Adam und Eva hätten miteinander Griechisch gesprochen, in dieser Sprache hätten auch die Propheten und schliesslich Jesus Christus gepredigt. Bei ihm habe es sich um einen griechischen «Arier» gehandelt, wie auch der Name seiner Mutter, Maria, beweise. Derartig nationalorthodox-neuheidnisch-antisemitische Schulterschlüsse sind übrigens nicht nur im heutigen Griechenland, sondern seit der Wende von 1989 auch in Russland und Rumänien zu beobachten.

Bei der staatlichen Wiedergeburt der kleineren orthodoxen Nationen Ost- und Südosteuropas war in den letzten 200 Jahren allgemein eine Prädominanz der kirchlichen über die eigentlich politischen Faktoren zu beobachten. Selbst der arabische Nationalismus nahm im 18. Jahrhundert mit dem Ersetzen der griechischen durch die arabische Kirchensprache im orthodoxen bzw. katholisch-unierten Patriarchat Antiochia seinen Anfang. Den Serben diente ihre Orthodoxie von der ersten Erhebung gegen den Sultan 1804 an sowohl zur Abgrenzung von den sprachlich eng verwandten, aber katholischen bzw. islamischen Kroaten und Bosniaken sowie zur Verbindung mit den Griechen - eine Achse, die bis in die jüngste Vergangenheit Bestand hatte. Bei den Bulgaren wiederum wurde ihre kirchenpolitische Auferstehung, das orthodoxe bulgarische Exarchat von 1870, zur Keimzelle der späteren Eigenstaatlichkeit. Beim rumänischen Risorgimento spielte die Orthodoxie hingegen nur eine geringere Rolle, da es dort in erster Linie die unierte rumänisch-katholische Kirche war, die zur Herauslösung des Landes aus der balkangriechischen bzw. kirchenslawischen Kulturdominanz, zur Rückbesinnung auf das romanische Erbe und schliesslich zur nationalen Einigung und Eigenstaatlichkeit mit Hilfe Napoleons III. beitrug. In der heutigen Ukraine sind es sowohl die starke katholische Kirche slawisch-byzantinischer Tradition sowie orthodoxe National- und Freikirchen, die den politischen Nationalismus unter dem Motto «Los von Moskau» tragen. Der ukrainische Patriotismus hingegen fehlt dort fast völlig, wo die russische Orthodoxie weiter kirchlich das Sagen hat.

KIND DER ORTHODOXIE

Das moderne Griechenland ist fast ausschliesslich ein Kind der Orthodoxie, wobei die verschiedensten Faktoren zusammengekommen sind: das byzantinische Erbe; bittere Erfahrungen mit abendländischen Kreuz- und Seefahrern, nach deren Wüten die osmanische Herrschaft sich geradezu tolerant ausnehmen musste; aber auch eine Aufklärung, ein revolutionäres und nationales Erwachen, die bald selbst in den Bann der stärkeren orthodoxen Kräfte gerieten. Die Versuche der Philhellenen, an die antike Grösse Griechenlands anzuknüpfen, gerieten gegenüber der «grossen Idee» einer Wiedergewinnung Konstantinopels und der Errichtung eines neuen byzantinischen Reichs bald ins Hintertreffen. Nach dem militärischen Scheitern des Traumes vor bald 80 Jahren wurde die orthodoxe Kirche erst recht für viele Griechen zum liebevoll gepflegten Ersatz für das verlorene Reich.

Im Unterschied zum weströmischen Abendland hatte das oströmische Byzanz nach der Verchristlichung die sprachliche Kontinuität des Griechischen zumindest in den Kernländern bewahrt. Andere ostchristliche Kirchen und Kulturen entstanden nur ausserhalb der Reichsgrenzen in Armenien, Georgien und später der Kiewer Rus. Auf dem Balkan widersetzen sich Kaiser und Patriarch jedoch erfolgreich der Bildung eigenständiger kirchenslawischer Jurisdiktionen und Kulturen bis ins späte Mittelalter hinein. Sogar der griechische Charakter der an die Araber verloren gegangenen Patriarchate von Alexandrien, Antiochien und Jerusalem wurde weiter gesichert. So entstand jene innige Bindung von Orthodoxie und Griechentum, etwas, was weder dem Katholizismus noch dem Protestantismus widerfuhr.

Hingegen hat die Ersetzung der den Byzantinern vertrauten Weströmer durch andere Völker und Sprachen nicht allein zum politischen, sondern auch zum konfessionellen Auseinanderleben von christlichem Morgen- und Abendland beigetragen. Die alte, ungeteilte Kirche des ersten Jahrtausends brach nicht zuletzt deshalb 1054 unheilbar auseinander, weil es sich bei den von den Orthodoxen angefeindeten «Lateinern» in Wirklichkeit inzwischen um Germanen, Romanen und Normannen handelte. In den Kreuzzügen sowie in der Expansion der italienischen Seerepubliken in der Levante stiessen die beiden einander fremd geworden Welten dann nur mehr feindlich aufeinander. Die anhaltenden griechischen Vorurteile, bei einem Katholiken könne es sich um keinen wahren Griechen handeln, oder die Animositäten, die beim Papstbesuch in Athen letzten Mai zum Vorschein kamen, haben in dieser lange vergangenen, doch im Religions- und Geschichtsunterricht lebendig gehaltenen Zeit ihre Wurzeln. Dieser Tage versucht ein Kongress in Lepanto daran zu erinnern, dass es vor 430 Jahren im Golf von Korinth eine abendländische Flotte war, die den orthodoxen Griechen zu Hilfe kam.

Für die Byzantiner war das klassische Griechenland durch Christi Kreuzigung eine glücklich überwundene heidnische und unsittliche Welt. Zwar schätzten seine grössten Geister vom Konstantinopler Patriarchen Photios bis zum Renaissance-Wegbereiter Georgios Plethon die antiken Autoren; im mittel- und teilweise auch noch neugriechischen Sprachgebrauch wurde «Hellene» jedoch mit Heide gleichbedeutend, während sich die orthodoxen Griechen selbst Rhomäer oder später «Rhomioi» nannten. Heute versucht der Athener Religionsphilosoph und Soziologe Christos Yannaras nachzuweisen, dass es zwischen klassischem Hellas und orthodoxem Byzanz keinen Bruch gegeben habe. Das antike Erbe habe in christlicher Form weitergewirkt, so etwa die altgriechische Tragödie im «Mysterienspiel» der byzantinischen Liturgie. Tatsächlich erinnert die Ikonenwand der orthodoxen Gotteshäuser zwischen Kirchenschiff und Altarraum an das antike griechische Theater.

DOPPELTE ENTTÄUSCHUNG

Mit der Türkenherrschaft, die in vielen Gegenden des heutigen Griechenland über ein halbes Jahrtausend dauerte und endgültig erst 1913 abgeschlossen war, kamen Griechentum und Orthodoxie völlig unter den gleichen Nenner: unter das bestehen gelassene Patriarchat von Konstantinopel, das der Hohen Pforte gegenüber auch für die Selbstverwaltung, Gerichtshoheit und das Steueraufkommen aller orthodoxen Untertanen verantwortlich wurde. Orthodoxe Griechen fanden sich in führenden osmanischen Positionen wieder, gerieten aber auch gegen Ende des 18. Jahrhunderts unter den Einfluss von Aufklärung, Freimaurerei und Französischer Revolution. Aus ihren Reihen rief zuerst Rigas Ferraios zu einem Befreiungskampf aller Nachfahren der alten Griechen ohne jeden Unterschied der Religion auf. Er wurde von den Türken 1798 in Belgrad hingerichtet.

Dieses säkular-nationale Konzept galt ursprünglich auch für den 1814 in Odessa gegründeten Geheimbund zur Befreiung von Griechenland - ja ganz Südosteuropa - von der Osmanenherrschaft, die sogenannte «Philiki Hetairia». Ihre Führung ging jedoch 1820 an den in den Diensten des Zaren stehenden Alexandros Ypsilantis über. Als Freimaurer der russischen, «lopuchinschen» Schule waren für ihn weder Freiheit noch Fortschritt ohne die Orthodoxie denkbar. So begann er den Unabhängigkeitskampf 1821 in der orthodoxen Kathedrale des heute rumänischen Iasi. Der Funke sprang bald auf die Peloponnes über, wo Metropolit Germanos von Patras für ein freies, erneuertes, aber auf jeden Fall orthodoxes Griechentum zu den Waffen rief. Dieses sollte womöglich das ganze «Genos» umfassen, d. h. alle Orthodoxen griechischer und zum Teil auch anderer, türkischer, balkanromanischer oder albanischer Sprache.

Für diese hauptsächlich religiös motivierten Väter des modernen Griechenland gab es bald eine doppelte europäische Enttäuschung. Zunächst einmal die anfangs freudigst begrüssten europäischen Philhellenen, die in den zeitgenössischen Griechen nur die Nachfahren der Heroen und Halbgötter, Dichter und Denker von einst finden wollten und nicht fanden. Sie luden den Neugriechen eine psychologische Last auf, an der sie bis heute tragen. Sodann wurden dem Land ab 1832 fremde Herrscher aus deutschen Königs- und Fürstenhäusern verordnet. Der noch dem Josephinismus verhaftete Otto I. von Wittelsbach liess allein in Athen mehr orthodoxe Kirchen dem Erdboden gleichmachen als die Türken in 400 Jahren. Es sind diese Schatten der Vergangenheit, gegen die Befürworter der europäischen Öffnung in Griechenland heute noch ankämpfen.

 


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