Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Quelle:

Neue Zürcher Zeitung Literatur und Kunst, 6. Oktober 2001, Nr.232, Seite 83

 

Die «Kleinasiatische Katastrophe»

Ein unbewältigtes Trauma der neueren griechischen Geschichte

Von Ekkehard Kraft

Vor etlichen Jahren machte der Schreibende auf zwei Reisen zwei ähnliche Beobachtungen. In dem Dorf Krinides nahe dem antiken Philippi im Norden Griechenlands war er von einer Bauernfamilie zum Kaffee eingeladen worden; der Grossvater, sein Enkelkind auf dem Schoss, sprach mit diesem auf Türkisch. Einige Jahre später war beim Geldwechseln auf einer Bank in Ayvalik an der türkischen Westküste zu hören, wie sich eine junge Bankangestellte mit einem Mädchen in griechischer Sprache unterhielt. In beiden Fällen handelte es sich um Menschen, die aus ihrer ursprünglichen Heimat vertrieben worden waren, bzw. deren Nachkommen. Der ältere Herr in Krinides war zu Beginn des Jahrhunderts mitten in Anatolien geboren worden, seine Muttersprache war Türkisch, aber als orthodoxer Christ galt er als Grieche und musste als solcher nach 1922 seine Heimat verlassen. Die griechischsprachige Familie der Bankangestellten in Ayvalik stammte aus Kreta; als Muslime mussten sie ebenfalls ihre Heimat verlassen. In ihrer neuen Heimat sprechen sie nun weiterhin die Sprache jener, an deren Stelle man sie angesiedelt hatte.

Die demographische Karte Südosteuropas und der heutigen Türkei unterschied sich noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts grundlegend von der heutigen. Im Osmanischen Reich lebten mehr Griechen als im unabhängigen Königreich Griechenland, fast 1,8 Millionen davon in Kleinasien. Smyrna wetteiferte mit Athen und Konstantinopel um den Rang der ersten unter den griechischen Metropolen. Wenige Jahre später sollte diese griechische Welt östlich der Ägäis völlig verschwunden sein. 3000 Jahre griechischer Präsenz fanden in der «Kleinasiatischen Katastrophe» ein tragisches und unwiderrufliches Ende.

Um 1000 v. Chr. hatte diese Geschichte mit der Gründung ionischer und äolischer Kolonien in Milet, Ephesos, Phokaia, Smyrna, Halikarnassos, Kyme, Knidos und andernorts ihren Anfang genommen. Einige Jahrhunderte später folgten Abydos bei den Dardanellen, Kyzikos, Chalkedon und Byzanz am Marmarameer, Herakleia, Sinope, Amisos, Kerasus und Trapezunt sowie zahlreiche andere Städte an allen Küsten des Schwarzen Meeres. Die Eroberungen Alexanders öffneten der griechischen Sprache und Kultur das Innere Kleinasiens. Früh schon verbreitete sich hier das Christentum; Basilios von Cäsarea schuf in Kappadokien die Form des christlichen Mönchtums, die Benedikt von Nursia im Westen als Vorbild dienen sollte. - Das demographische und kulturelle Antlitz der Halbinsel veränderte sich nachhaltig mit der Einwanderung türkischer Nomadenstämme seit dem 11. Jahrhundert. Am Ende des Mittelalters hatte die Mehrheit der Bevölkerung Religion und Sprache der militärisch und politisch dominierenden Neusiedler übernommen. Das Griechentum konnte sich nur dort behaupten, wo es seine ältesten Wurzeln hatte, nämlich an der Westküste, in einigen landeinwärts führenden Tälern und im Nordosten der Schwarzmeerküste. Erst als sich das Osmanische Reich im 19. Jahrhundert dem Handel mit den europäischen Staaten öffnete, kam es zu einer Renaissance. Unter Sultan Mahmud II. begann die Ära der Reformen, die den Christen im Osmanischen Reich erstmals die Möglichkeit gaben, ihren Status einer zwar geschützten, aber inferioren Minderheit zu überwinden. Griechen - und Armenier - adaptierten sich rasch an die Bedingungen des Welthandels. Mit den Geschäftspraktiken und den Erwartungen der Käufer im Orient weitaus besser vertraut als die Europäer, wurden sie für das «Marketing» der europäischen Waren unentbehrlich.

Der zunehmende Wohlstand der christlichen Familien schlug sich in einer steigenden Geburtenrate nieder, die jene der Muslime deutlich übertraf. Darüber hinaus zogen die günstigen wirtschaftlichen Bedingungen viele Menschen von den Ägäischen Inseln und sogar aus dem Königreich Griechenland an. So wuchs die christliche Bevölkerung Kleinasiens bis zum Ende des 19. Jahrhunderts auf 20 Prozent der Bevölkerung, fast die Hälfte davon Orthodoxe, die man dem Griechentum zurechnete, auch wenn viele von ihnen nur Türkisch sprachen oder, wie die Pontier am Schwarzen Meer, sich eines Dialekts bedienten, der vom Standardgriechischen weit entfernt war. Dieses Wachstum ist noch erstaunlicher, wenn man sich vor Augen hält, dass zur selben Zeit mehrere hunderttausend Muslime aus den neu entstandenen Balkanstaaten und dem ins Zarenreich eingegliederten Kaukasus ins Osmanische Reich emigrierten und zum Teil in Kleinasien angesiedelt wurden.

Smyrna erlebte seit dem 18. Jahrhundert einen Aufstieg sondergleichen. Hier endete die durch Anatolien führende Karawanenstrasse; der Fernhandel reichte bis nach Indien. Die Stadt war, neben Odessa, Saloniki, Beirut und Alexandria, ein Glied in der Kette der grossen Hafenstädte zwischen dem Schwarzen Meer und der Levante. Bedeutende griechische Handelshäuser mit Niederlassungen in London und Bombay entstanden hier. Zählte die Stadt 1830 unter ihren Einwohnern 80 000 Türken und 20 000 Griechen, so waren es gut dreissig Jahre später bereits 75 000 Griechen und 41 000 Türken. Nördlich von Smyrna entwickelte sich Ayvalik zum Zentrum Äoliens. Am Schwarzen Meer drängte Trapezunt alle anderen Häfen in die zweite Reihe. In Bursa forcierten griechische Unternehmer den Aufbau der Textilindustrie. Die Landwirtschaft expandierte; griechische Geschäftsleute erwarben grosse Ländereien und versuchten sich als Grossgrundbesitzer.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schwappte der Nationalismus aus dem Königreich Griechenland nach Kleinasien hinüber. Hatte das Selbstverständnis der christlich-orthodoxen Kleinasiaten bis dahin weitgehend auf ihrer Religionszugehörigkeit beruht, so begann es sich nun im ethnischen Sinn, nach sprachlichen und kulturellen Kriterien, zu definieren. Wichtigstes Vehikel der neuen nationalen Ideologie waren die griechischen Schulen, die sich in einem immer dichter werdenden Netz über Kleinasien legten und an denen vom griechischen Staat entsandte bzw. in Griechenland ausgebildete Lehrer unterrichteten. Während die osmanische Regierung ein alle ethnischen und religiösen Gruppen vereinendes osmanisches Bewusstsein propagierte, wurden die Griechen Kleinasiens immer mehr zu Anhängern der «Megali Idea», der «Grossen Idee», die von dem Anschluss aller von Griechen besiedelten Gebiete an das Königreich Hellas träumten und auf diese Weise das Byzantinische Reich neu erstehen lassen wollten. Nur wenige erkannten die Gefahren, die diese Ideologie heraufbeschwor, am deutlichsten Ioakim III., der 1912 verstorbene Ökumenische Patriarch von Konstantinopel. Hellsichtig sah er voraus, dass der griechische Nationalismus zwangsläufig die Entstehung seines türkischen Pendants provozieren musste, was angesichts der Kräfteverhältnisse für die schwächere Seite, die griechische, nur das Ende ihrer Existenz im Osmanischen Reich bedeuten konnte.

IM LAGER DER SIEGER

Nicht viele waren damals zu einer derartig nüchternen Sicht der Dinge fähig, und eine jüngere Generation von Bischöfen stellte sich bedingungslos in den Dienst des griechischen Nationalismus. Am Ende des Ersten Weltkriegs schienen alle skeptischen Stimmen widerlegt, das «Griechenland der zwei Kontinente und fünf Meere» verwirklicht. Das Osmanische Reich war geschlagen, Griechenland stand im Lager der Sieger. Premierminister Eleftherios Venizelos hatte gegen den Widerstand von König und Generalstab, die beide auf die deutsche Karte setzten, 1916 den Kriegseintritt Griechenlands auf Seiten der Entente durchgesetzt, auch um den Preis der inneren Spaltung des Landes. Als Lohn erhoffte er sich dafür die Realisierung seiner «Ionischen Vision». Im Mai 1919 wurde die Provinz Smyrna griechischer Verwaltung unterstellt. Der 1920 mit dem Osmanischen Reich geschlossene Friedensvertrag von Sèvres sah vor, dass nach einer Übergangszeit eine abschliessende Volksabstimmung über den Anschluss an Griechenland stattfinden sollte. Die Griechen stellten jedoch nur in der Stadt Smyrna sowie einigen anderen Städten die Mehrheit; ihr Anteil an der Bevölkerung der gesamten Provinz betrug lediglich 38 Prozent. Venizelos schien aber überzeugt, mittels forcierter Ansiedlung von Griechen aus Europa die Region demographisch so gestalten zu können, dass die Abstimmung letztlich im gewünschten Sinne verlaufen würde.

Doch die «Ionische Vision» sollte sich als grösste und verhängnisvollste Chimäre der neueren griechischen Geschichte entpuppen. In Anatolien sammelte sich unter der Führung Mustafa Kemals, der später Atatürk genannt werden sollte, der türkische Widerstand gegen den Friedensvertrag von Sèvres. Im Herbst 1920 verlor Venizelos überraschend die Parlamentswahlen. Die Bevölkerung Griechenlands war des Krieges überdrüssig geworden: Seit den Balkankriegen 1912/13 stand das Land fast ununterbrochen unter den Waffen. Doch anders, als es den Erwartungen entsprach, die sie während des Wahlkampfes geweckt hatten, suchten die anti-venizelistischen Parteien, die nun die Regierung bildeten, und der ins Land zurückgekehrte König Konstantin nicht nach einer friedlichen Lösung in Kleinasien, sondern wollten die Herrschaft durch einen militärischen Vorstoss auf Ankara, das Zentrum des türkischen Widerstands, absichern; ein militärisches Unternehmen, das selbst einer der den Feldzugsplan ausarbeitenden Generäle als «Unsinn» bezeichnete.

Die Interessen der Weltkriegsverbündeten und Athens drifteten immer mehr auseinander. Frankreich und Italien arrangierten sich mit Kemal, allein England stand noch auf griechischer Seite, ohne indessen bereit zu sein, selbst militärisch einzugreifen. Im Sommer 1921 lief sich der griechische Vormarsch in der Schlacht am Sakarya vor Ankara fest. Ein Jahr lang standen sich die beiden Armeen gegenüber, bis Kemal Ende August 1922 durch eine Offensive an unerwarteter Stelle die überdehnten griechischen Linien innerhalb weniger Tage zusammenbrechen liess. Wenige Tage später erreichte die türkische Armee die Ägäis.

Smyrnas griechische und armenische Stadtviertel wurden niedergebrannt, 30 000 Menschen fanden in einer barbarischen Racheorgie den Tod. Drei Jahre zuvor noch hatten viele jener, die nun an den Quais der Stadt verzweifelt auf die rettenden Schiffe warteten, an gleicher Stelle begeistert die Ankunft der griechischen Truppen begrüsst. Hunderttausende retteten nicht mehr als ihr nacktes Leben auf die nahe gelegenen Inseln und das griechische Festland, fast alles Hab und Gut zurücklassend. Wenige Monate später, im Januar 1923, vereinbarten die griechische und die türkische Regierung einen Bevölkerungsaustausch, der die noch verbliebenen Minderheiten erfassen sollte. Als Kriterium galt die Religionszugehörigkeit und nicht die Sprache. So mussten alle orthodoxen Christen Anatolien (und Ostthrakien) verlassen und ebenso alle Muslime Griechenland. Ausgenommen blieben die Griechen in Istanbul und auf den Ägäisinseln Imvros und Tenedos sowie die muslimische Bevölkerung Westthrakiens.

Es wird immer wieder erwähnt, Venizelos, der nach dem Sturz der royalistischen Regierung aus dem Exil zurückgekehrt war und nun die Verhandlungen in Lausanne führte, habe diesem Bevölkerungsaustausch nur schweren Herzens zugestimmt. Der griechisch-amerikanische Historiker John A. Petropoulos hat an dieser Sichtweise plausible Zweifel geäussert. Umsiedlungen als Mittel der Politik waren Venizelos nie fremd gewesen, und jetzt bot sich, nachdem die «Grosse Idee» ausgeträumt war, wenigstens die Gelegenheit, das verbliebene griechische Territorium ganz im Sinne ethnisch-nationaler Homogenität zu gestalten. Den Preis dafür hatten jene zu zahlen, die Venizelos immer noch als ihren Messias betrachteten und zeit seines Lebens als Wähler unterstützten.

Ende der zwanziger Jahre zählte man in Griechenland 1,8 Millionen Flüchtlinge - 25 Prozent der Bevölkerung, also ein weitaus grösserer Anteil, als ihn die Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland ausmachten -, die meist in armseligen Notunterkünften als Holz und Wellblech an den Rändern der Städte und entlang der Ausfallstrassen hausten. Die allermeisten von ihnen kamen aus dem ehemaligen Osmanischen Reich, einige zehntausend auch aus Bulgarien und Russland. Der Empfang im «Mutterland» war beschämend gewesen, von vielen wurden sie als «Haschischraucher» und «Joghurtgetaufte» geschmäht. 80 Prozent der Flüchtlinge wurden in Nordgriechenland angesiedelt, dessen Gesicht sich dadurch vollständig veränderte. In Makedonien stieg der Anteil der Griechen an der Bevölkerung von 43 Prozent (1912) auf 90 Prozent (1928), in Thrakien von 21 Prozent (1906) auf 62 Prozent (1924). Viele der Kleinasiaten hatten in Städten gelebt und strebten nun ihrerseits wiederum in Städte. Saloniki, Kavalla, Drama und Serres wurden nun zu rein griechischen Städten. Die Einwohnerzahl von Athen und Piräus verdoppelte sich in jener Zeit. Darüber hinaus wurden die Flüchtlinge aber auch in neu angelegten ländlichen Siedlungen untergebracht, auch in den damals noch malariaverseuchten Ebenen Makedoniens. Die Namen vieler neuer Siedlungen, wie Neu-Mudania, Neu-Magnisia, Neu-Nikomidia, Neu-Trapezunt oder Neu-Ephesos, erinnern an die alte Heimat.

BEREICHERUNG

Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung, Hunger und Krankheiten prägten die ersten beiden Jahrzehnte des Flüchtlingsdaseins, dem viele, unter ihnen der junge Aristoteles Onassis, durch die Emigration zu entgehen suchten. Man schätzt, dass allein 10 Prozent der Flüchtlinge in der Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg der Malaria zum Opfer fielen. Heute leben bereits die dritte und die vierte Generation in der neuen Heimat. Das Flüchtlingselend kennen sie nur aus den Erzählungen ihrer Grosseltern und Eltern, aber sie sind sich ihrer Herkunft bewusst. Dadurch, dass die Ansiedlung oft geschlossen erfolgte, blieb man noch lange weitgehend unter sich, heiratete untereinander, pflegte den Dialekt und die alten Bräuche. Zugleich wurde ein Teil der Kultur der Flüchtlinge griechisches Allgemeingut. Besonders deutlich zeigt sich dies in der Musik. Die Bouzouki, die weltweit als typisch griechisches Instrument gilt und deren Klänge zum obligatorischen akustischen Ambiente eines griechischen Restaurants im Ausland zählen, stammt aus Kleinasien. Sie gehörte ursprünglich zur Standardbesetzung der Rebetiko-Musik, die in den zwanziger und dreissiger Jahren in den Grossstadtkneipen der Flüchtlinge gespielt wurde und als Musik einer gesellschaftlich verachteten Subkultur galt. Heute hat die Rebetiko-Musik nicht nur den Geruch der Haschischpfeifen verloren, sie gilt allgemein als wichtiger Bestandteil des nationalen musikalischen Erbes, aus dem sich auch Komponisten wie Mikis Theodorakis und Manos Chatzidakis, die beide nicht kleinasiatischer Herkunft sind, bedienten.

Für die Literatur war die «Kleinasiatische Katastrophe» für Jahrzehnte eines der grossen Themen. 1929 erschien der Roman «Geschichte eines Gefangenen» von Stratis Doukas, 1931 folgte Ilias Venezis mit «Die Nummer 31328». Der 1962 erschienene Roman «Blutige Erde» von Dido Sotiriou - für griechische Verhältnisse damals ein Bestseller - bildete den Schlussstein dieser Thematik, die für die nicht mehr in Kleinasien geborene Generation zunehmend an Interesse verlor, weil andere historische Erfahrungen stärker im Vordergrund traten.

Die «Kleinasiatische Katastrophe» ist das eigentliche Trauma der neueren griechischen Geschichte; die Literatur hat dieses Trauma nur zur Sprache bringen, aber nicht bewältigen können. Schwer zu verwinden ist nicht zuletzt die Tatsache, dass diese Katastrophe vor allem durch eigene Hybris und Verblendung ausgelöst wurde. Im offiziellen Geschichtsbild, wie es an den Schulen vermittelt wird und sich an Gedenktagen manifestiert, ist davon kaum die Rede. Die Verantwortung tragen die anderen, die untreuen Verbündeten, die Türken oder bestenfalls die Verräter im eigenen Lager. Solange die griechische nationale Identität massgeblich am türkischen Feindbild ausgerichtet ist und solange die politischen Streitfragen zwischen Griechenland und der Türkei ungeklärt bleiben, wird auch dieses Trauma unbewältigt bleiben.

 


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