Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Quelle:

Neue Zürcher Zeitung Literatur und Kunst, 6. Oktober 2001, Nr.232, Seite 85

 

Die Selbstverständlichkeit der Gegensätze

Athen - eine Beschreibung wider seine Verächter

Von Demosthenes Kourtovik

Es gibt wohl keine andere europäische Metropole, die einen so schlechten Ruf wie Athen hat. Das iostefes asty der Antike, die mit Veilchen bekränzte Stadt, soll heutzutage hässlich, amorph, chaotisch, verschmutzt sein, eine «Betonwüste», wie auch die Athener in Selbstmitleid betonen. - Alles wahr. Und trotzdem nur die halbe Wahrheit. Denn Athen ist auch eine betörend bunte und lebendige Stadt, unerschöpflich an Überraschungen (nicht nur für Besucher), voller extremer Gegensätze, deren an Selbstverständlichkeit grenzende Koexistenz zum Staunen Anlass gibt.

Nehmen wir zum Beispiel die Euripides-Strasse im Stadtkern. Eine Strasse, die ihres Namens zu spotten scheint. Oder vielleicht nicht? War der grosse Tragiker nicht der Erste, der die Trennlinie zwischen hohen und niederen, rationalen und irrationalen Aspekten menschlichen Verhaltens unscharf gemacht, ja verwischt hat? Hier, auf einer Länge von knapp hundertfünfzig Metern, drängen sich orientalisch anmutende und duftende Gewürzläden, wunderschöne, wenn auch verfallende klassizistische Bauten, billige Bordelle und Stundenhotels, hinzu kommt eine der beliebtesten Tavernen alteingesessener Athener (über den Köpfen der Gäste zwitschern Vögel in Volieren), ein sehr renommierter Verlag. Und der Gipfel: Neben der roten Glühbirne eines Freudenhauses findet sich das blaue Neonkreuz einer bescheidenen alten Kirche, deren sonderbarer Name, «St. Johannes der Säule», dem Betrachter sofort einleuchtet, denn mitten aus dem Dach ragt eine vorchristliche korinthische Säule.

TIEFERE KONTINUITÄT

Letzteres verdeutlicht, wie sich alles in dieser Stadt im Lauf der Geschichte verflochten hat: ohne Plan, aber auch ohne weltanschauliche oder moralische Vorurteile. Die Christen störten sich nicht am heidnischen Tempel, sie machten sogar einen seiner Teile zum augenfälligsten, wenn auch paradoxen Merkmal ihres eigenen Heiligtums. Aber hier wird auch eine tiefere Kontinuität versinnbildlicht, die historischen Zäsuren trotzt. Denn der Ort war in vorchristlicher Zeit die Kultstätte eines gewissen Toxaris, dem die Athener damals Heilkräfte zuschrieben. Und St. Johannes der Säule führte diesen Glauben fort: Bis vor wenigen Jahrzehnten banden kranke Bewohner der Gegend verschiedenfarbige Fäden um die Säule (je nach Art der Krankheit) und wickelten sie dann um ihren Finger, um geheilt zu werden.

Athen war stets eine offene, multiethnische, multikulturelle Gesellschaft, auch in der langen Zwischenzeit, in der es politisch und wirtschaftlich nicht mehr bzw. noch nicht bedeutend war. In den Jahren der osmanischen Herrschaft umfasste seine Bevölkerung fast ebenso viele Albaner wie Griechen, von den Türken nicht zu sprechen. Kurz nach der griechischen Unabhängigkeit von 1830 lebten neben den Einheimischen eine grosse Zahl bayrischer Soldaten und Bürokraten, polnischer Philhellenen, maltesischer Gepäckträger, schwarzer Handwerker (ehemaliger Sklaven der Türken). Dabei war das Städtchen von kaum 14 000 Einwohnern eher ein verelendetes, von Kämpfen halb zerstörtes Dorf, in dem Neuerungen wie der eiserne Ofen oder der Lehnstuhl, Ersterer von einem Preussen, Letzterer von einem britischen Admiral eingeführt, grosse Bewunderung erregten.

«Woher kommst du?» - «Aus Athen.» - «Ja, aber woher kommst du eigentlich?» Dieser Wortwechsel ist sehr üblich unter Griechen. Nur wenige der vier Millionen Menschen, die heute in Athen leben, können ihre Wurzeln in dieser Stadt mehr als zwei Generationen zurückverfolgen. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg und dem kurz darauf folgenden Bürgerkrieg strömten Millionen von Landbewohnern in die Hauptstadt, die bis dahin weniger als 500 000 Einwohner gezählt hatte. Sie bezogen Kellergeschosse in Altbauten oder Appartements auf den unteren Etagen der charakteristischen Betonklötze, die damals entstanden und das heutige Bild der Stadt prägen. Mit der Zeit stiegen sie höher und liessen ihr proletarisches Schattenreich für neue Umsiedler frei, zuerst für Pakistaner, Ägypter und Filipinos, dann, in den neunziger Jahren, für die massenweise ankommenden Einwanderer aus dem ehemaligen Ostblock. Heute ist jeder achte Bewohner Athens Ausländer. Die Albaner, Bulgaren, Polen, Russen Athens haben ihre eigenen Zeitungen und Stammlokale, die Polen sogar ihre eigene Schule.

EIN DORF GEBLIEBEN

In einer Grossstadt, in der die meisten Einwohner über vierzig auf dem Land aufgewachsen sind, ist es nicht verwunderlich, dass urbane Manieren und metropolitanes Raffinement selten anzutreffen sind. Das hat ärgerliche Seiten, andererseits aber sorgt es für eine rührende Unmittelbarkeit und Vertrautheit im Umgang der Athener miteinander. In vieler Hinsicht ist Athen ein Dorf geblieben. Ganze Stadtteile haben den Charakter der Nachbarschaft behalten. Im Sommer, wenn es dunkel wird, sitzen die Leute auf ihren Balkons und unterhalten sich laut mit ihren Nachbarn über die Strasse hinweg bis tief in die Nacht hinein. Und es gibt - vielleicht einzigartig in Europa - im Herzen der Stadt ein Viertel, das, eingekeilt zwischen der Akropolis und dem Getümmel der kosmopolitischen Plaka, geradezu eine ländliche Idylle darstellt: enge Gässchen, weiss getünchte Häuser mit blauen oder grünen Türen und Blumengärten. Man fühlt sich plötzlich auf eine Ägäisinsel versetzt. Und tatsächlich wurde dieses Stadtviertel, Anafiotika genannt, im 19. Jahrhundert von Bewohnern der Insel Anafi gegründet, die als Maurer nach Athen kamen, um sich beim Aufbau der neuen Metropole zu verdingen.

Athen schläft nie. Wenn man nachts über die Stadt fliegt, erscheinen die Verkehrsadern wie endlose Trosse forttreibender Leuchtkäfer. Wohin fahren alle diese Autos zu so später Stunde? Zu Freunden und Liebespartnern, denn Verabredungen nach Mitternacht sind gang und gäbe in Athen. An die Strände, die fast rund um die Uhr von Badegästen, Romantikern und Schlemmern aufgesucht werden (hier sind die besten Restaurants, und die Athener essen gern spät). Zu den unzähligen Nachtlokalen, die immer brechend voll sind - allen voran jene Amüsierbetriebe, deren aggressiver Kitsch, pathetische Musik und ausgelassene Stimmung ihnen den Namen skiladika (Hundelokale) eingebracht haben.

Es gibt über hundert Theaterbühnen, über zweihundert Kinosäle in Athen. Letztere erleben eine neue Blüte nach zwei Jahrzehnten vernichtender Konkurrenz durch das Fernsehen. Viele dieser Lichtspielhäuser funktionieren nur im Sommer, das heisst von Mitte Mai bis Ende September, und sind eine echt griechische Tradition. Vor Jahren antwortete ein französischer Besucher auf die Frage, was ihn in Athen am meisten beeindruckt habe: «Die Akropolis und die Freilichtkinos.» Es ist tatsächlich ein Erlebnis, mit Dutzenden anderen in einer Art grossem Garten zu sitzen, dessen Boden meist mit Schotter bestreut ist und dessen niedrige Wände mit Kletterpflanzen bedeckt sind, und einen Film anzusehen, während hinter der Leinwand der Mond aufsteigt. Übrigens laufen die Filme in Griechenland immer in der Originalversion und sind mit Untertiteln versehen. Die Griechen waren empört, als man ausländische Filme synchronisieren wollte. Das zeugt vielleicht von ihrem Sinn für die Einheit menschlicher Ausdrucksmittel: Wort, Mimik und Gestik müssen zusammenpassen.

Wäre der oben erwähnte Franzose heute befragt worden, hätte er wahrscheinlich noch ein drittes Schmuckstück Athens genannt: die voriges Jahr in Betrieb gesetzte U-Bahn. Die Athener, notorische Nörgler, finden wenig Lobenswertes an ihrer Stadt. Aber sie sind stolz auf ihre U-Bahn, die nicht wenige vielgereiste Gäste für die schönste der Welt halten. Zu Recht wird sie als unterirdisches Museum beschrieben. Die jahrelangen Bauarbeiten hatten erwarteterweise auch den Charakter archäologischer Ausgrabungen und brachten eine Fülle kostbarer Funde ans Tageslicht. Die wichtigsten von ihnen werden in den verschiedenen Stationen, vor allem denjenigen der Stadtmitte, ausgestellt. Viele sogar in situ: Der Besucher kann sie an ihrem Fundort sehen, auf riesigen Wänden, die anschauliche Querschnitte durch die Schichten des Athener Bodens darstellen. So gewinnt man ein gutes Bild von der Geologie und der Lebensweise der Athener im Lauf der dreitausendjährigen Existenz dieser Stadt. Die Stationen werden überdies von oft kühnen Skulpturen zeitgenössischer griechischer Künstler geschmückt.

GESCHICHTE IM ALLTAG

Aber obwohl es ihrer nicht weniger als 103 gibt, eignen sich Museen schlecht, wenn man die besondere Wirkung der historischen Vergangenheit auf das heutige Leben Athens begreifen will. Die Akropolis ausgenommen, haben die weltberühmten, für die politische und geistige Geschichte der Menschheit so symbolhaften Altertümer Athens nicht die Mächtigkeit, die der Reisende vielleicht erwartet. Sie sehen eher bescheiden aus und vermischen sich mit dem Alltag der Stadt: die Agora, wo einst Philosophen, Demagogen und Händler um die Gunst des Publikums buhlten; die Pnyx, das erste Parlament der Geschichte; das Dionysos-Theater, wo Aischylos, Sophokles, Euripides, Aristophanes triumphierten; der Keramikos, der Friedhof der glorreichen Stadt. Der Athener von heute trinkt seinen Kaffee neben diesen Orten, durcheilt sie auf dem Weg zur Arbeit, macht dort kleine Picknicks, als wäre das alles etwas Selbstverständliches. Eben deshalb bleiben sie für ihn lebendig.

Der bekannte griechisch-schwedische Schriftsteller Theodor Kallifatides hat einmal bemerkt, dass die Griechen keinen Respekt vor der Geschichte haben, weil sie fühlen, dass sie selbst die Geschichte sind. Genau darum geht es. Aber man darf diese «Respektlosigkeit» nicht mit Gleichgültigkeit verwechseln. 1822 wurde die türkische Garnison auf der Akropolis von den aufständischen Griechen belagert. Als den Türken die Munition ausging, fingen sie an, die Säulen des Parthenon zu zerstören, um die bleiernen Klammern im Innern für die Herstellung von Kugeln zu benutzen. Daraufhin, so erzählt man, erklärten sich die Belagerer bereit, den Belagerten die fehlende Munition zu liefern, damit das Denkmal geschont wurde. Und der Freischärlerführer Makrijannis, fast ein Analphabet, hinderte unmittelbar nach der Befreiung seine hungernden Männer, antike Kunstgegenstände an Ausländer zu verkaufen, mit den Worten: «Für diese Steine haben wir gekämpft.»

Der Keramikos-Friedhof ist vielleicht die schönste Ecke Athens, vor allem im Frühjahr und im Spätherbst (der in Athen eine grüne Jahreszeit ist!). Die Grabmäler erheben sich aus dem Blumenmeer und dem frischen Gras, die darauf gemeisselten Gestalten trauern anständig, sie sehen eher versonnen als trübsinnig aus. Der sagenumwobene Fluss Heridanus fliesst immer noch durch die Gegend, wenn auch nur noch als Bächlein. Man schreitet andächtig zwischen den Grabstelen und lauscht dem Flüstern der Geschichte, die nirgendwo in Athen so versöhnt mit ihrer Vergänglichkeit erscheint wie hier. Und plötzlich wird die Stille von einem schnellen, anhaltenden, fröhlichen Klappern unterbrochen. Was ist denn los? Man nähert sich neugierig der Stelle, woher dieses seltsame Geräusch kommt, und sieht - zwei Schildkröten, die sich paaren! Man befindet sich in Athen, wo selbst ein Ort wie der Keramikos (der übrigens im Altertum auch der Athener Strich war) mit einer unbändigen Lebenslust verbunden sein kann.

Der griechische Schriftsteller Demosthenes Kourtovik lebt in Athen. Sein jüngster Roman, «Die Nostalgie der Drachen», ist kürzlich in deutscher Übersetzung im Dielmann-Verlag, Frankfurt am Main, erschienen.

 


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