Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Neue Zürcher Zeitung Literatur und Kunst, 6. Oktober 2001, Nr.232, Seite 82

 

Grosse Mutter der Armen

Griechenland zwischen Multikulturalität und Ethnozentrismus

Von Barbara Spengler-Axiopoulos

«Es war kalt, und wir mussten arbeiten. Die einzigen Lebewesen, die mir in meiner Einsamkeit Gesellschaft leisteten, waren mein Hund und mein italienischer Kollege Rocco», heisst es in einem Lied des Komponisten Jannis Markopoulos aus den siebziger Jahren. «Stiefmutter Heimat» betitelte der Dichter Michalis Ganas einen Lyrikband, in dem er die Erfahrungen von exilierten Griechen und Arbeitern in der Fremde poetisch verdichtete. Darin setzte er sich mit dem Griechenland der sechziger und siebziger Jahre auseinander, das seinen Bürgern nur die Auswanderung anzubieten hatte. Metaphern der Entwurzelung und der Heimatlosigkeit zogen sich jahrzehntelang als Sprachbilder durch den griechischen kulturpolitischen Diskurs.

Paradoxerweise ist Griechenland heute selbst unfreiwillig in die Rolle des Gastgebers gedrängt worden, ohne im mindesten darauf vorbereitet zu sein. Seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme im Osten 1989 ist es zu einem Einwanderungsland geworden. Bei einer Gesamteinwohnerzahl von 9 Millionen Griechen liegen untere Schätzungen bei 700 000, obere bei 1,5 Millionen Einwanderern. Für die bisherige Mehrheitsgesellschaft sind das über zehn Prozent neue Mitbürger, die sie verkraften muss. Der Wortschatz der Bürokraten unterscheidet sorgfältig zwischen Repatriierten, Rückwanderern, Einwanderern und Flüchtlingen. Zu der ersten Gruppe gehören vorwiegend Griechen aus dem Pontos- und Schwarzmeergebiet der ehemaligen Sowjetrepubliken. Sie sind, auch wenn ihr Selbstbild davon abweichen mag, eine privilegierte Gruppe, für die der Staat Förder- und Integrationsprogramme entwickelt hat. Zur zweiten Gruppe gehören Einwanderer aus afrikanischen Ländern, Kurden, Bulgaren, Filipinos und Albaner.

FILIPINAS UND ANDERE

Die sozial verträglichste Gruppe sind jene jungen, freundlichen Filipinas, die in griechischen Familien als Kindermädchen angestellt sind. Sie bekommen in der Regel die Erlaubnis für einen vierjährigen Aufenthalt, wohnen als Kost- und Logiergast in den Familien und erlauben so vielen Müttern, in ihre Berufe zurückzukehren, während sie selbst tapfer allmonatlich Geld nach Manila überweisen. Als der Philologe Babis Babioniotis vor einigen Jahren ein umfangreiches Wörterbuch herausgab, war unter «Filipina» auch der Eintrag «billige Haushaltshilfe» zu finden. Wohlmeinende Griechen reagierten empört, wussten aber allzu gut, dass die Ausbeutung dieser Frauen der Realität entspricht.

Weitaus schwieriger liegt der Fall der Albaner, deren genaue Zahl in Griechenland niemand kennt. Vorsichtige Schätzungen gehen von 500 000 Menschen aus. Die Amerikanerin Patricia Storace, die in den letzten Jahren eines der anregendsten Bücher über Griechenland schrieb, bezeichnet die Albaner darin als die griechischen «Joads» und bezieht sich dabei auf die entrechtete Landarbeiterfamilie Joad in John Steinbecks Roman «Früchte des Zorns». In der Tat vergeht kaum ein Tag, an dem die griechischen Medien nicht über Überfälle und Morde von Albanern berichten. Mitte August war eine Gruppe junger Albaner in ein Vergnügungslokal auf Lesbos eingedrungen und hatte eine Gruppe von Besuchern überwältigt und einen Griechen erstochen. Einige Bewohner Mytlinis, der Hauptstadt von Lesbos, erklärten darauf in leidenschaftlichem Hass, dass sie sich ab jetzt in einer Bürgerwehr gegen die Albaner zusammenschliessen wollten. Was in der Berichterstattung des griechischen Fernsehens kaum erwähnt worden war, war, dass jenen Albanern zuvor der Zutritt in das Lokal verweigert worden war.

In der Öffentlichkeit ist das Bild des deklassierten, oft kriminellen Albaners entstanden, der für einen Hungerlohn arbeitet. Aus der griechischen Bau- und Landwirtschaft sind die Albaner als Saisonarbeiter gar nicht mehr wegzudenken. Diejenigen, die als «Worioepirotes», als Nordepiroten, bezeichnet werden, sind Albaner griechischer Abstammung, die eine Aufenthaltserlaubnis und das Recht auf ärztliche Versorgung erhalten. Sie dürfen auch ihre Familien nachziehen lassen. Im Frühjahr erregte der Fall eines albanischen Schülers aus Athen ganz Griechenland. Dieser Junge war am 25. März, dem griechischen Nationalfeiertag, von seinem Klassenlehrer dazu auserkoren worden, die griechische Nationalflagge zu tragen. Dieses Privileg, bei der Parade das nationale Symbol des Griechentums schwenken zu dürfen, gebührt jeweils dem Klassenbesten. Daraufhin protestierten die Eltern so hartnäckig beim Schulleiter, bis der junge Albaner völlig entmutigt und entwürdigt von dieser Aufgabe zurücktrat.

An diesem Vorfall, der ein Licht auf den ungezügelten Nationalismus der Griechen wirft, ist auch die Kirche nicht unschuldig. Schon seit je bedeutet für sie die Zugehörigkeit zum Griechentum, Mitglied der griechisch-orthodoxen Kirche zu sein. Da Griechenland innerhalb Europas ein erstaunlich homogener Staat geblieben ist, bedurfte es bisher auch keiner Korrektur dieser Definition. Nach dem griechisch-türkischen Krieg von 1921, den Griechenland verloren hatte, als es seine Irredenta in Kleinasien zurückgewinnen wollte, mussten 1,8 Millionen Menschen die Türkei verlassen. Diese kleinasiatischen Flüchtlinge wurden nach dem Vertrag von Lausanne 1923 in Griechenland angesiedelt, und zwar auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit, weil sie griechisch-orthodox waren. Die Einwanderung der sogenannten «Kleinasiaten» von damals kann man heute als eine gelungene Integration bezeichnen. In Ostthrakien leben 95 000 Muslime, denen ebenfalls im Vertrag von Lausanne der Status einer Minderheit zuerkannt wurde. Sie machen etwa 1,5 Prozent der Bevölkerung Griechenlands aus. In der nordgriechischen Provinz Makedonien lebt eine unbekannte Anzahl von Slawo-Makedoniern, und auf Rhodos und Kos 2000 türkischstämmige Bürger. Einige tausend Juden und Armenier haben sich in den Grossstädten völlig assimiliert.

Der starke Einfluss der Orthodoxie auf den griechischen Staat zeigt sich in vielerlei Hinsicht. Erst im vergangenen Juli plädierte eine Gruppe von Athener Wissenschaftern für die endgültige Trennung von Kirche und Staat und die Entstehung einer «Bürgergesellschaft». Der Hauptgegner der Intellektuellen ist der Erzbischof von Athen und ganz Griechenland, Christodoulos, der sich auf populistische Weise immer wieder in die Geschäfte des Staates einmischt. Seit vielen Jahren versucht die sozialistische Pasok-Partei unter Ministerpräsident Kostas Simitis, die Personalausweise zu modernisieren. Griechenland ist das einzige Land Europas, das im Personalausweis an erster Stelle die Religionszugehörigkeit seiner Bürger vermerkt. Bereits 1994 hatte der Zentralrat der Juden Griechenlands den damaligen Innenminister Pangalos aufgefordert, diese Diskriminierung endlich abzuschaffen. Erzbischof Christodoulos sieht durch solche zivilen Reformen die Identität und den Fortbestand des Griechentums gefährdet, und er rief deshalb zu einer Unterschriftensammlung für eine Volksabstimmung auf, bei der die Griechen selbst über die Passfrage abstimmen sollen. Freilich bewegen die Griechen in ihrer alltäglichen Lebensrealität ganz andere Sorgen, etwa wenn sie sich von den vielen Einwanderern bedroht fühlen, die ihrer Meinung nach vom Staat viel zu sehr gehätschelt werden.

Solche zwiespältigen Gefühle betreffen eine grosse Gruppe von Immigranten, und zwar die sogenannten «Palinostountes», die Rückwanderer und repatriierten griechischstämmigen Einwanderer aus den ehemaligen Sowjetrepubliken im Pontosgebiet am Schwarzen Meer. Seit 1989 «durften» auch sie in die geistige Heimat zurückkehren, was für nicht wenige einen Kulturschock bedeutete. Die Pontos-Griechen, die auf eine jahrtausendealte Geschichte und Kultur zurückblicken können, zählt der Oxforder Historiker Anthony Bryer zu den «Überlebenden der Weltgeschichte». Jahrhundertelang und in verschiedenen historischen und politischen Systemen und Bezügen haben die «Pontier», wie sie auch genannt werden, ihre Religion, ihre Heimat und vor allem ihre Sprache aufrechterhalten. Das Pontische, das sich wie ein antiker griechischer Dialekt ausnimmt, wird in Griechenland belächelt, und jahrelang war den Pontos-Griechen die undankbare Rolle zugekommen, Zielscheibe von Minderheitenwitzen sein zu müssen. Darin spiegelte sich auch ein gewisser Neid auf diese tüchtigen und anpassungsfähigen Menschen, die den Zeitläuften unter den Osmanen, den Türken und später unter Stalin getrotzt und ihre Identität immer listig aufrechterhalten hatten.

SIEDLUNGSPOLITIK

Die meisten Pontos-Griechen hat es nach Nordgriechenland verschlagen, wo 59 Prozent von ihnen leben, und es ist, als ob das Volkslied «Mein Thessaloniki, du grosse Mutter der Armen» von Manolis Chiotis erneut an Aktualität gewinnt. 22 Prozent halten sich in Attika und in der Hauptstadt Athen auf. Auch wenn die Mehrzahl der Rückwanderer jung sind (fast die Hälfte von ihnen sind zwischen 19 und 40 Jahre alt), sind die meisten von ihnen arbeitslos.

Der griechische Staat hatte für sie nach 1989 mit Geldern aus den EU-Sozialfonds grosszügig Wohnungen und Häuser gebaut, dabei aber übersehen, dass diese in strukturschwachen Gebieten lagen, in denen es keine Arbeit gab. Diese Wohnungen wurden im griechischen Volksmund «Ektenopol» genannt, und sie lagen im thrakischen Xanthi, wo die Pontier angesiedelt worden waren, um dort ein Gegengewicht gegen die muslimische Bevölkerung zu bilden, die Ende der achtziger Jahre bei den Wahlen zwei Sitze im Parlament gewonnen hatte. Auch das Modell der «Empfangsdörfer», deren Prototyp das Dorf Sappes an der türkischen Grenze ist, hat sich nicht bewährt. Heute ist man dazu übergegangen, wie der damalige Verantwortliche des Aussenministeriums, Dimitris Kokkinos, selbstkritisch einräumt, das Programm zu dezentralisieren und Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Die Rückwanderer werden dabei hauptsächlich finanziell unterstützt und mit Sprachprogrammen begleitet. Ab dem Moment, sagt Kokkinos, da sich die Pontos-Griechen darüber beschwerten, dass der Staat sich nicht für sie einsetze, seien sie zu Griechen geworden und hätten sich vollständig integriert.

Die Erfahrungen der Rückwanderer bei ihrer «Heimkehr» aus Ostgeorgien, Kasachstan und Usbekistan hat Effie Voutira, Professorin für Ethnologie an den Universitäten Cambridge und Thessaloniki, in ihrer Feldforschung festgehalten. «Die Pontos-Griechen umschreiben ein sehr komplexes Rückwandererproblem», sagt sie, «und je nachdem, aus welcher Gegend der ehemaligen Sowjetunion sie stammen, sind sie entweder Repatriierte oder Flüchtlinge.» Pontier, die in Georgien lebten, konnten dort ihre kulturelles Netzwerk und ihre Sprache beibehalten. Dorthin waren sie in den zwanziger Jahren aus Angst vor dem aufkommenden türkischen Nationalismus gezogen. Tausende von Pontos-Griechen wiederum waren unter Stalin Ende der dreissiger Jahre als «Volksfeinde» verhetzt, nach Sibirien und Kasachstan vertrieben worden, wo sie auch ihre Sprache verlernten, also eine kulturelle Amnesie erlitten. Die zweite Deportationswelle traf sie während des Zweiten Weltkrieges als Opfer der Zwangsumsiedlungen, die Stalin aus geopolitischen Überlegungen heraus hatte anordnen lassen. Sie wurden in die zentralasiatischen Steppengebiete verbannt, in denen sie ein marginalisiertes Dasein führten.

Effie Voutira vertritt deshalb die Ansicht, dass die Pontier keine stabile, sondern eine überaus hybride kulturelle Identität besässen, die sie mit jeder ethnischen Gruppe, mit der sie gelebt hätten, in teilweisen Einklang bringen könnten. Wichtig aber sei bei ihnen allen eine gemeinsame «Rhetorik der Rückkehr», die für sie das Motiv gewesen sei, nach Griechenland zu remigrieren. In Zentralasien war ein wichtiger Grund die Angst vor dem aufkommenden Fundamentalismus der Muslime. Sätze, die Voutira immer wieder gehört hat, lauten: «Wir gehen für unsere Kinder nach Griechenland, um unseren Namen und unseren Glauben aufrechtzuerhalten.»

EIN GANG ÜBER DEN WOCHENMARKT

Wer heute einen griechischen Wochenmarkt besucht, sieht dort neben Obst- und Gemüseständen auch die Flohmärkte der Pontos-Griechen. An der antiken Rotonda in Thessaloniki, dem Grabmal des Kaisers Galerius, werden jeden Mittwoch die Habseligkeiten der Überlebenskünstler ausgebreitet. Achilleas, ein Tierarzt aus Georgien, schmückt den weitläufigen Tisch seines Standes mit altem Schmuck, Teleskopen, Kunstpostkarten, einem ächzenden Schifferklavier, Parteiabzeichen, die keiner mehr mag, russischen Teleobjektiven, Mikroskopen, Zucker- und Salzfässchen, Präzisionsgeräten und Bernsteinketten. Dieses Panoptikum aus versunkenen Schätzen hat er vor sechs Jahren ausgeführt, als er seinen ganzen Hausrat verkaufte, um nach Griechenland zu gehen. Er wartet auf seine Zulassung als Tierarzt und hofft, sich mit seinen Gütern noch eine Weile über Wasser halten zu können. Lida, eine magere junge Frau mit dem Profil eines Raubvogels und einem kunstvoll hochtoupierten Haarturm, hat von Grosshändlern chinesische und türkische Billigtextilien wie Jeansröcke und Büstenhalter bezogen, die sie zum Verkauf bietet. An drei Wochentagen ist Lida auf verschiedenen Märkten, an den beiden anderen arbeitet sie als Krankenschwester in der Röntgenabteilung des Ippokratio-Krankenhauses.

Ein 55-jähriger Journalist aus Batumi am Schwarzen Meer verkauft türkische und russische Popmusik auf Kassetten. Er ist verbittert, dass er nur eine vorläufige Gewerbeerlaubnis von 18 Monaten erhalten hat. Wenn er seine Kassetten um die Mittagszeit billig verramscht, machen ihm die griechischen Kollegen auf dem Flohmarkt den Vorwurf, die Preise zu drücken. «Ich weiss nicht, wo ich hingehöre», meint er. «In Georgien waren wir immer die Griechen, und hier nennen sie uns ÐRossoprósfygesð, Flüchtlinge aus Russland. Wir sind doch Griechen, deshalb sind wir hierher gekommen.» Einmal im Monat geht er mit seiner Frau zum Bus, der ihre Sehnsucht im Gepäck mitnimmt. An der römischen Agora in Thessaloniki fahren mittlerweile täglich Busse nach Georgien ab, die ihrerseits auch Briefe und Botschaften von den Lieben daheim mit zurückbringen. In den abgenutzten Brieffächern im Reisebüro des Herrn Panajotidis warten sie auf ihre Empfänger. Manche werden nie abgeholt.

Im Ministerium von Makedonien und Thrakien wartet vor dem Zimmer 130 eine Schlange junger Albaner auf ihre Arbeitserlaubnis. Ihre Gesichter sind verschlossen und misstrauisch. Neben ihnen patrouilliert ein junger Polizist, kaum älter als sie. Eleni Sotiriadou, eine junge Griechin aus Wladikawkas, hat diesen Raum soeben mit einem wichtigen Stempel verlassen. Nach zweieinhalb Jahren Wartezeit wurde ihr Medizinstudium endlich anerkannt, und sie kann jetzt ihr praktisches Jahr als Landärztin auf Rhodos beginnen. «Meine Eltern sind verbittert», sagt sie, «sie sind hier nur Gelegenheitsarbeiter geworden, weil sie in ihren Berufen nicht vermittelbar waren. Aber auf mich sind sie stolz, weil ich es geschafft habe.»

Es wird abzuwarten sein, ob sich Griechenland weiter als eine kulturell homogene Gesellschaft begreift oder ob in Zukunft auch das Anderssein der Zuwanderer seine Akzeptanz wird finden können. Thanos Lipowatz, ein Athener Rechtsprofessor, ist der Meinung, dass es ohne eine Reform der orthodoxen Kirche auch keine konsequente Modernisierung der griechischen Gesellschaft wird geben können. Effie Voutira vermag dem mangelnden Organisationsgrad und der Funktionsunfähigkeit griechischer Behörden auch positive Seiten abzugewinnen: «Nach meinen Forschungen über Rückwanderer und Migranten kann ich sagen, dass, je weniger Gesetze und Verordnungen es in einer Gesellschaft gibt, diese umso humaner und offener für Einwanderer funktioniert.»

 


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