Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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Neue Zürcher Zeitung Literatur und Kunst, 6. Oktober 2001, Nr.232, Seite 81
Ein Schiff namens Agonia
Griechenland und seine Literatur auf der Reise durch die Jahrhunderte
Von Thanasis Valtinos
«Wohin ich auch reise, Griechenland verletzt mich»: Der bekannte Vers von Giorgos Seferis ist inzwischen zum Gemeinplatz geworden. Jeder missvergnügte Neugrieche, unzufrieden mit seiner Frau, seinem Nachbarn, seinem Leben (vor allem aber mit den Behörden), lässt ihn sich auf der Zunge zergehen.
Der Titel des Gedichts lautet «In der Art des G. S.», der Bezug ist unmissverständlich. Nach Seferis' Angaben wurde das Poem im Sommer 1936 verfasst. Das kleine griechische Königreich hatte schon ein Jahrhundert freiheitlichen Lebens hinter sich. In jenem Sommer, am 4. August, rief der pensionierte General Ioannis Metaxas, in Absprache mit dem Königshaus, die Diktatur aus.
Es ist ein Sommer, der nichts Gutes verheisst. Der Dichter taucht schreibend im Mythos unter und geht eigene Wege, bis er zu den «gelben staubigen Tagen» gelangt, die ihn «schwindsüchtig» machen. Auf dem Berg Pilion, den er vom Meer her auf der Suche nach Quellwasser im Schatten der Kastanien besteigt, wird er vom Mantel eines Zentauren eingehüllt, und in Mykene geht er mit den Steinen und den Schätzen der Atriden im Hotel «Die Schöne Helena des Meinelaos» zu Bett. Am nächsten Morgen wird mit dem Krähen des Hahnes, den Kassandra an ihrem schwarzen Hals trägt, alles verflogen sein.
Im Gedicht geschehen auch andere Dinge: Einige Leute singen Barkarolen auf Mykonos, Spetses, Poros (Mode-Inseln damals wie heute), andere wiederum kaufen in Athen Mandelkonfekt für ihre Hochzeit oder Mittel gegen Haarausfall. Und inmitten von all dem, mitten in einem Griechenland, das «reist, unentwegt reist», steht ein Vers von Aischylos: «Wir sehen in der Ägäis die Toten blühen.» Der Vers stammt aus «Agamemnon», natürlich.
Seferis setzt die Mythen klug ein und führt die Sprache mit sicherer Hand, wie eine Stute. Doch was «verletzt» ihn wirklich? Es ist wohl eher ein lyrischer Schmerz über etwas, das nicht stattgefunden hat, über Versprechen, die uneingelöst in der Tiefe des Horizonts davonziehen und dabei mit dem Taschentuch winken. Der Dichter schaut ihnen vom Deck eines abfahrenden Schiffes namens «Agonia 937» zu.
SCHUTT UND ASCHE
Die Ereignisse, die der Niederschrift des Gedichts folgten, sind wohlbekannt. Sie hinterliessen ein Griechenland in Schutt und Asche. Der Krieg von 1940 bis 1941 gegen die Italiener und die Deutschen, die Besetzung des Landes durch die Deutschen wie auch durch die Bulgaren, die unterwegs hinzukamen, der Widerstand des eigenen Volkes - ein besonders blutiger - und dann, gegen Ende 1944, die Befreiung. Darauf folgend wiederum der elendige Bürgerkrieg, der volle vier Jahre, bis 1949, dauerte. Der Kalte Krieg war nicht überall kalt. Eine verzweifelte, dogmatische Linke probte den Salto mortale, ihren Teil zum Unheil beitragend.
Der griechische Staat der Neuzeit wurde 1829 gegründet. Er war gewiss auch das Ergebnis der Tapferkeit seiner Kinder, doch in erster Linie eines Entscheids der damaligen Grossmächte - Russland, England, Frankreich -, die sich selbst zu seinen Beschützern ernannten. Geographisch bestand er aus dem Peloponnes und einem winzigen Teil Thessaliens. Schwach, arm, unsicher war das Gebilde, weshalb es sich an etwas festklammern musste. Und Griechenland klammerte sich an seiner Vergangenheit fest. - Aber an welcher Vergangenheit? Jahrhunderte osmanischer Herrschaft hatten nicht nur die Bevölkerung schrumpfen, sie hatten das Gedächtnis schwinden lassen.
Innerhalb der Grenzen des griechischen Hoheitsgebietes allerdings hatte es einst die grosse Zivilisation der Antike gegeben. Athen, ein kleines staubiges Dorf, sollte bald Hauptstadt werden. Das Parthenon, 1687 vom venezianischen Dogen Morosini unter Kanonenfeuer genommen, stand noch aufrecht - eine ruhmreiche Ruine. 1826, während der Belagerung der Akropolis durch die Türken und zu einem Zeitpunkt, da der griechische Befreiungskampf noch auf wackeligen Füssen stand, verteidigte der ungebildete General Makrijiannis diesen Ort so hartnäckig und selbstlos, als wäre er sein Eigentum. Später wird uns dieser General, der mal den einen, mal den anderen bat, ihm das Schreiben beizubringen, seine Memoiren vermachen, einen kraftvollen, empathischen Text, den die «Generation der dreissiger Jahre», die Generation von Giorgos Seferis und Odysseas Elytis, nicht zu Unrecht als ein nationales literarisches Denkmal beachtete. Makrijiannis' Tugend war die Sprache. Sie war einfach, ursprünglich, drastisch. Eine lyrische Sprache.
Zur selben Zeit, als der General - 1829, 32-jährig - seine Erinnerungen an den gewonnenen Krieg und seine Wut über alles dabei Schiefgegangene aufs Papier zu kritzeln beginnt, kämpft in Korfu ein Gleichaltriger - der westlich erzogene, italienischsprachige Comte Dionysos Solomos - um die Rückeroberung der griechischen Muttersprache, die er mit elf Jahren aufgeben musste, als sein Vormund ihn zum Studium nach Italien schickte, um ihn seiner plebejischen Mutter zu entreissen. Dieser eher geizige und schwierige Mann wird in die Situation geraten, Wörter von den einfachen, ungebildeten Inselbewohnern zu «kaufen». Wörter, die durch den Gebrauch weder beschädigt noch verfälscht sind, die weder an Vitalität eingebüsst noch die Urkraft ihrer Bedeutung verloren haben.
«Habe ich wohl nichts anderes im Sinne als Freiheit und Sprache?», wird Dionysos Solomos schreiben. Es geht um die griechische Sprache. Wie so vieles mehr war auch sie in einem heute kaum mehr vorstellbaren Mass geschwunden. Ein Bildungssystem war nicht einmal in Rudimenten vorhanden, es gab - fast vier Jahrhunderte lang - nicht die geringste Möglichkeit, Ideen zu verbreiten, und so verkümmerte die Sprache zu einem ärmlichen Instrument des Merkantilen. Ein Wunder ist, dass dies ihre Ausdruckskraft nicht beeinträchtigte. Das Volkslied, eine Kind jener Zeit, ist eine «triumphale» lyrische Errungenschaft, von der alle grossen neugriechischen Dichter - selbst Konstantinos Kavafis - lernen und schöpfen werden. Auch wenn es seltsam erscheint: Kavafis, dieser schlaue und eigenbrötlerische Alte aus Alexandria, kannte das Volkslied sehr wohl und hatte es eingehend studiert. Der innere Aufbau seiner Verskunst verdankt dem Volkslied Entscheidendes.
Dionysos Solomos suchte die Kraft der Sprache, wie sie im Mund der einfachen Menschen überlebt hatte, einzufangen. Er war der Erste - und er zerbrach daran. Er hinterliess lyrische Fragmente, geniale Blitze, jedoch kein einziges vollständiges Werk.
Die Literaturwissenschafter datieren den Beginn der neugriechischen Literatur recht weit zurück, in die Zeit von Byzanz. Als Meilenstein betrachten sie den Zyklus der Akritika-Lieder. Es handelt sich um Balladen, welche die magischen Heldentaten der Grenzsoldaten des weiten byzantinischen Reiches lobpreisen. Ich meinerseits denke, dass die neugriechische Literatur mit Solomos und Makrijiannis anhebt, einen Zeitraum von weniger als zwei Jahrhunderten abdeckt und eng mit den historischen Ereignissen des Landes verbunden ist. Wie könnte es auch anders sein. Kalvos, ein Zeitgenosse von Solomos, verfasste zwei Gedichtsammlungen, «Oden» und «Lira», um sofort danach von der Bildfläche zu verschwinden. Thematisch geht es in der Lyrik von Kalvos um das Leiden seiner Landsleute bei der Befreiung vom Joch der Sklaverei. Seine Gedichte sind authentische Produkte des romantischen 19. Jahrhunderts. Ihr Wert übersteigt den Stoff, den sie thematisieren, er liegt im Bewusstsein der «Handhabung» der Sprache. Kalvos' Sprechen ist artifiziell, mutig baut er auf ein in die Tiefe gehendes Verständnis und auf hohe Sensibilität - dabei in gewissem Sinn Kavafis vorwegnehmend.
AUS DER TRAUM
Das 19. Jahrhundert schliesst mit drei grossen Prosaisten: Giorgos Viziinos, Alexandros Papadiamantis, Emmanouil Roidis. Und auch mit einer enormen Auswandererwelle vor allem in die sogenannte Neue Welt. - Konstantinos Kavafis wurde 1863 geboren. Er verbrachte fast sein gesamtes Leben im ägyptischen Alexandria. Weit entfernt vom griechischen Vaterland bewohnte er einen eigens für sich geschaffenen, historisierenden Kosmos, innerhalb dessen er sich die vielfältigsten Masken überzog. Kavafis' Ironie, sein Mut hinsichtlich seiner unorthodoxen erotischen Vorlieben und sein eigenwilliger sprachlicher Duktus verstören die Menschen in ihrer Auffassung von der Lyrik der damaligen Zeit. Kavafis starb 1933, am 29. April, an seinem Geburtstag.
Ein Jahrzehnt zuvor hatte die «kleinasiatische Katastrophe» stattgefunden. 1919, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, setzt Eleftherios Venizelos im Auftrag der siegreichen, doch müden Entente die ersten Regimente in Smyrna ab. Für die Griechen lodert hinter derartigen politisch-militärischen Spielen der Traum von der «Grossen Idee». Ionien, Konstantinopel, die Königin unter den Städten, und der Pontos waren einst griechisch. Der Traum scheint Wirklichkeit zu werden. Doch in Wahrheit beginnt hier das Desaster. Es wird drei Jahre später, im August 1922, mit der Zerschlagung eines Heeres von 200 000 Mann durch die Türken auf der Hochebene des Sagarios-Flusses enden. Jungen Männern, die meist Auswanderer gewesen und aus Amerika herbeigeeilt waren, um freiwillig für die «Grosse Idee» zu kämpfen.
Smyrna wird ein Raub der Flammen. Und dann folgt der Austausch der Bevölkerung. Ungefähr eine Million gebürtige Griechen von der östlichen Küste der Ägäis werden expatriiert. Für das kleine, erschöpfte Griechenland, das sie aufnehmen muss, wird die «kleinasiatische Katastrophe» die Dimension eines nationalen Traumas annehmen. In Kavafis' Lyrik ist, mit Ausnahme weniger allegorischer Andeutungen, kein Hinweis auf dieses erschütternde Ereignis zu finden. Zeugnis zu leisten, wurde Pflicht der nächsten Generation - der bekannten «Generation der dreissiger Jahre», von der viele in Ionien geboren und aufgewachsen waren: Seferis, Venezis, Doukas. Prosaisten und Lyriker. Letztere taten sich mehr hervor und glänzten. 1963 wird Giorgos Seferis, von Haus aus Diplomat, den ersten Literaturnobelpreis nach Griechenland bringen. Ihm wird 1979 Odysseas Elytis folgen. Der wie einst Sappho aus Lesbos stammende Elytis starb 1996. Er wurde «der Dichter der Ägäis» genannt. Zugleich hiess er «der Sonnentrinkende». Seine Beziehung zur Sprache ist eine ästhetische, eine heidnische. Seferis und Elytis beherrschen nach wie vor die griechische literarische Bühne - und dies nicht allein wegen ihrer Nobelpreiswürde.
In der Zwischenzeit reist Griechenland, «reist unentwegt». Das Schiff «Agonia 937» hat den Zweiten Weltkrieg hinter sich gelassen. Es hat auch den Bürgerkrieg durchquert. 1967 wird eine Bande von Obristen die Diktatur ausrufen, die politische Instabilität dieser Jahre ausnutzend. Diese wird bis 1974 dauern. Sieben Jahre - für all jene, die sie damals lebten, eine ungeheuer lange Zeit. 1970 erscheinen die «18 Texte», von ebenso vielen Schriftstellern verfasst. Es ist ein Akt des Widerstandes gegen den Geist der Zensur und der Repression. Diese Schriftsteller werden alle auf die eine oder andere Art verfolgt. Manche kommen ins Gefängnis, andere werden alltäglicher Freiheiten beraubt, etwa der Möglichkeit, ins Ausland zu reisen. Die meisten von ihnen haben den Zenit ihres Lebens während der Okkupation oder des Bürgerkrieges erreicht. Sie hatten gehungert, sie hatten sich gefürchtet, sie hatten das Grauen in seinem ganzen Ausmass erlebt. Der Stoff ihres Schreibens war autobiographisch, und es war zu erwarten, dass sie ihn beherrschen würden. Das Ergebnis waren einige hervorragende Bücher: Lyrik und Prosa auf der Suche nach neuen, eigenwilligen Gestaltungsformen. Ich erwähne dies deshalb, weil sich später daraus ein Problem ergeben wird. Später, das heisst heute.
LITERATUR OHNE GRENZEN?
Die Literatur kennt keine Grenzen, sie hat aber mit Sicherheit einen Herkunftsort. Ich meine, dass in Griechenland Literatur von hohem Niveau entstanden ist und entsteht - vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und wahrscheinlich wird dies so bleiben. Doch ohne recht zu bemerken, wie uns geschah, finden wir uns, an der Schwelle des dritten Jahrtausends, eingespannt ins Netz der Globalisierung. Das Verlegen von Büchern hat sich in eine Industrie verwandelt, die ständig darauf bedacht ist zu expandieren, indem sie ihr Produkt dem Zeitgeist anpasst. Heutzutage wird kaum mehr Literatur verlegt, wenn sie nicht Umsatz verspricht. Dieser Druck nimmt sogar zu, wenn es sich um kleine Sprachen handelt.
In Griechenland ist die Frage «Was tun wir, um unsere Literatur unter die Menschen zu bringen?» fast von Panik begleitet. Es ist eine Ironie, dass die häufigste Antwort darauf lautet: «Passt euch an. Ändert eure Thematik. Vorbilder gibt es. Die internationalen Bestseller.» Dieser Rat stammt nicht nur von den zuständigen Stellen im Inland. Er wird auch von den Vertretern ausländischer Verleger grosszügig erteilt.
Mich überkommt jedes Mal eine unendliche Traurigkeit, wenn ich solches höre. Natürlich weiss ich, dass die Wirklichkeit ihren Weg ohne Rücksicht auf unsere persönlichen Gefühle beschreitet, doch das macht meine Traurigkeit nicht geringer. Heutzutage befördern und beschleunigen die unendlichen Möglichkeiten der Information und Kommunikation die Tendenzen der Nivellierung auf internationaler Ebene. Das Prinzip der kommunizierenden Gefässe funktioniert in Sachen Kultur geradezu unerbittlich. Jeans trägt man überall, und ebenso allgegenwärtig sind die Klänge des Rock in seinen Variationen. Auch die Sprache ist dem Prinzip der Vereinheitlichung ausgesetzt. Nur schwer kann ich wiedergeben, welches Entsetzen mich überkam, als ich Italo Calvinos Roman «Wenn ein Reisender in einer Winternacht» las und mich als Grieche selber erkannte. Einige der Kapitel spielen in Universitätskreisen, die Hauptfiguren sind Akademiker, deren Forschungsfeld die Literatur einer kleinen, fast toten Sprache ist. Konfrontiert damit, frage ich mich: Was bleibt in fünfzig Jahren von der Leidenschaft, die wir durch unser Schreiben zu vermitteln suchen, in welchen Regalen werden unsere Bücher verstauben, und welch seltsamen Gelehrten werden sie ausgeliefert sein? Defaitismus ist hier gewiss fehl am Platz. Doch habe ich als griechischer Schriftsteller das Recht zu fragen: Wie kann dieser unheilvollen Perspektive begegnet werden?
Es ist bekannt, dass seitens verschiedener internationaler Organisationen - der Europäischen Union, der Unesco - Anstrengungen unternommen werden, das Fortbestehen der kleinen Sprachen zu sichern. Ich möchte nicht verbittert wirken, doch mich erinnert dies an die Massnahmen, die zum Schutz der Fauna getroffen werden: Schutzgebiete für die Mönchsrobben und aphrodisische Umgebung für die übrig gebliebenen, in Gefangenschaft lebenden Pandabären.
Ein Freund übrigens, dem ich die Problematik einmal darlegte, machte mich sprachlos mit seinem Zynismus: «Schreibe auf Englisch.»
Ein PS als Widerruf: 1. Die griechische Sprache besitzt eine alles andere als tröstliche Gegenwart. Trotzdem wurde das europäische Denken und Empfinden nach ihren Massgaben abgesteckt. 2. Ich behaupte von mir nicht, ein direkter Nachfahre von Homer und Aischylos zu sein - indes überkommt mich oft ein Gefühl der Euphorie beim Gedanken, Wörter zu benutzen, die auch die ihren waren: Himmel zum Beispiel, Meer oder Wind.
Aus dem Griechischen von Maria Stavraka
Thanasis Valtinos, geboren 1932, zählt zu den massgeblichen griechischen Gegenwartsschriftstellern. Als sein bedeutendstes Werk gilt «Die Legende des Andreas Kordopatis» (Romiosini-Verlag, Köln).
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