Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

Logo

Klassische Sprachen
Latein, Griechisch
KZU


Quelle:

Neue Zürcher Zeitung Literatur und Kunst, 6. Oktober 2001, Nr.232, Seite 85

 

Unsere fremd gewordene Antike

Warum wir ihr mehr verdanken, als wir noch wahrhaben wollen

Von Egon Flaig

Ausstellungen führen vor Augen: Die Besucher bemühen sich, aus der Ausstellung just jene Bildung mitzunehmen, die sie mitbringen müssten, um das Ausgestellte zu verstehen. Die Museumsdidaktik vermag vieles; aber sobald es um Antikes geht, vermögen auch die besten optischen Arrangements und die besten Führungen nicht, dieses Defizit wettzumachen. In der europäischen Malerei des 16. bis 18. Jahrhunderts stellen die Sujets der griechischen Mythologie nach den biblischen Motiven das üppigste Themengebiet; wer sie nicht kennt, erhält keinen ikonologischen Zugang. Kunstkennern reicht oft ihr Geschmack, auch wenn ihnen die Sujets Hieroglyphen bleiben. Aber vor griechischen Vasen hilft kein Kunstgeschmack mehr weiter. Ohne genaue Kenntnis sind die raffinierten Aussagen der Vasenbilder nicht zu erfassen, ist die bildnerische Produktivität nicht wahrnehmbar. So ist die belesene Lateinlehrerin vor den Vasen einem Kunstkenner überlegen.

Bildung als die Fähigkeit, sich Wissen zu beschaffen, das man nicht hat, weil man es nicht braucht, da man ja weiss, wie man es sich verschafft, falls man es braucht - diese Bildung versagt augenfällig. Also ist Bildung ohne Wissen doch nicht zu haben? Nur: woher das Wissen nehmen, wenn die Lehrpläne unserer Schulen es ausscheiden? Bestimmen wir Bildung einmal ganz utilitaristisch als das Vermögen, uns in unserer Welt zu orientieren. Wenn nun unsere Welt schon bei der Benutzeroberfläche endet? Voilà. Darum geht der Kampf: Was heisst «unsere Welt»? Er wird erbittert geführt, und er geht um den Charakter unserer Kultur, um ihre Qualität und ihre Zukunftschancen. Wenn zu dieser Welt nicht nur Geld- und Verkehrsströme gehören, sondern Genozide und Terroranschläge sowie die Besinnung darauf, was «gutes Leben» sein soll, dann reicht Turbo-Bildung nicht. Dann bedarf es eines kulturellen Gedächtnisses; und das kriegen wir nicht umsonst und noch weniger per Mausklick. «Gut, aber deswegen braucht es nicht unbedingt die Griechen!», wird man einwenden. «Sind sie uns nicht furchtbar fremd, seit die eurozentrischen Konstruktionen kultureller Kontinuitäten lächerlich geworden sind? Hat nicht gerade die französische historische Anthropologie (Vernant, Detienne) uns unmissverständlich klar gemacht, wie wenig diese exotische Kultur mit uns zu tun hat?»

In der Tat. Der Anblick athenischer Frauen, die, ausgeschlossen aus der politischen Öffentlichkeit, ihr Leben in quasi-islamischer Abgeschlossenheit vor allem im Haus zubringen, macht uns diese Kultur nicht sympathisch, auch wenn die Frauen es in anderen Städten besser hatten. Die schönen Rekonstruktionen jener Tempel, deren einfache Architektur neben der Grossartigkeit unserer Kathedralen stets verblasst, lassen vergessen, was man dort tat. Gewiss, man opferte den Göttern. Aber können wir uns das vorstellen? Diese - oft massenhaften - Tierschlachtungen, bei der alle ihre kosmischen und sozialen Rollen einnehmen: Götter und Menschen, Menschen und Tiere, Männer und Frauen. Im Halbkreis ist die Opfergemeinde aufgestellt, wenn das Tier an den Altar geführt wird; gellend schreien die Frauen, wenn ihm das Beil in den Nacken fährt. Mit dem Blut wird der Altar des geehrten Gottes besprengt. Während die Männer die Kadaver zerschneiden und das Opferfleisch in gleich grosse Stücke zerteilen, verschlingt der Opferbrand auf dem Altar bereits die Knochen und das Fett, um mit dem Duft die Götter zu erfreuen. Wenn dann alle männlichen Bürger ihren gleichen Fleischanteil erhalten, beginnt der grosse Opferschmaus - die Chöre singen, man tanzt, nach Alter und Geschlecht geschieden. Der Rauch zieht über die Stadt. Es stinkt.

An den Tempelfriesen wimmelt es von Kampfdarstellungen - überall Bildnisse und Zeugnisse von Krieg und Sieg. Unten auf der Agora - dem grossen Platz - erschallen durchdringend die Schmerzensschreie der Sklaven, die beim Hephaistos-Tempel gezüchtigt oder gerichtlich gefoltert werden. Und beim Thergalienfest hetzt man in dieser kultivierten Stadt - der Schule von Hellas - zwei Menschen nackt durch die Strassen, mit Ruten auf sie einschlagend; und dann vertreibt man sie mit Steinen vom athenischen Boden - ob sie dabei sterben, ist egal. Pharmakoi nennen die Athener diese menschlichen Sündenböcke, mit denen die Stadt sich reinigt und entsühnt.

PROMINENTER PLATZ

Reichlich fremd, diese Kultur . . . Wie soll sie für uns noch bedeutsam sein? Und was an ihr? - Erinnern wir uns: Bildung soll das Vermögen sein, uns in unserer Welt zu orientieren. Und zu unserer Welt gehöre Besinnung darauf, was «gutes Leben» sei. Falls nun dieses «gute Leben» nicht Privatsache ist, sondern ein kultureller, also sozialer Vorgang, kommt das Politische ins Spiel. Und sofort drängen die Griechen nach vorne und besetzen die prominenten Plätze im kulturellen Gedächtnis. Sie tun das mit Platzkarten, die nicht mehr vom Eurozentrismus ausgestellt sind, sondern von einer politischen Anthropologie, die mit kühlem interkulturell vergleichendem Blick die Griechen zu Exoten gemacht hat. Ihre «Verfremdung», vor allem durch die französische Forschung, hat einen Segen erbracht: Wir sehen sie nicht mehr als die Erfinder von allem und jedem und als Alleskönner. Doch indem man sie ethnologisch und kultursoziologisch vergleichbar machte, traten einige Besonderheiten ihrer Kultur schärfer hervor, als das früher der Fall war: Und so lässt sich sagen, dass es keine Kultur gibt, die uns zum Politischen so viel zu sagen hat wie die griechische.

Jacob Burckhardt hat das Besondere scharf gesehen: Die kulturelle Dynamik in den hellenischen Gemeinden der vorklassischen Zeit, also vom 8. bis zum 6. Jahrhundert v. Chr., ist bedingt durch die extrem schwache Ausbildung des religiösen Feldes. Im Zentrum dieser Religion war und blieb das Schlachtopfer; und das konnte jeder Mann vollziehen. Keiner sozialen Gruppe gelang es, die religiösen Aktivitäten und Ressourcen - Gebet, Opfer, Orakel - zu monopolisieren; es konnte sich keine Priesterschaft herausbilden. Die kulturellen Konsequenzen waren enorm: Es bildete sich nie eine «rationalisierte Religion» (Max Weber): Nirgendwo gab es religiöse Spezialisten, die, als Gruppe organisiert, eine verbindliche Theologie entwarfen und Ethiken festschrieben, welche die Probleme des individuellen und gemeinschaftlichen Heils mit expliziten Regeln der Lebensführung verbanden. Religiöse Autorität blieb schwach, und sie wirkte nicht in die anderen sozialen Gebiete hinein. Die Poesie behauptete einen privilegierten Platz: bei den Opferfesten, bei den Gastmählern, beim öffentlichen Auftritt von Sängern, die sich untereinander Wettkämpfe lieferten. Versuche, kohärente Theologien zu formulieren, kamen von Dichtern, Weisheitslehrern, später von Philosophen. Sie alle konkurrierten miteinander: Pindars Götter sind ganz anders als jene des Aischylos. So konnte kein Gottesbild verbindlich werden. Kein Dogma schrieb vor, was man zu glauben hatte und was nicht. Jeder Poet ersann neue Geschichten über die Götter, neue Taten und Untaten. Anthropomorphe Götter werden niemals moralische Vorbilder, im Gegenteil. Aber sie liefern der literarischen Phantasie einen einzigartigen Stoff zu immer neuer Aus- und Umgestaltung. Daher die enorme Mythenmenge der griechischen Antike.

Diese starke Stellung der Poesie, die sich sehr früh ausdifferenzierte nach Gattungen mit strengen Formgesetzen, hat die Formierung und Tradierung beinahe des gesamten Wissens bestimmt. Texte von namentlichen Autoren finden sich auch anderswo und früher; aber bei den Griechen wird das schnell die Regel. Weil man die Texte schnell zu fixieren suchte, blockierte man sie weitgehend gegen «Fortschreibungen», gegen laufende Hinzufügungen von späterer Hand. Daraus ergab sich eine besondere kulturelle Motorik: Griechische Dichter verfuhren hypoleptisch (Jan Assmann), das heisst, sie zitierten, antworteten, widersprachen einander. Diese agonale, wettkampfmässige Weise des Austausches lockt einen Denkstil hervor, der tendenziell «polemisch» ist, auf Angriff und Verteidigung angelegt. Daher die Tendenz, Argumente nicht anzudeuten, sondern auszuführen. So wird alles expliziter, aber auch angreifbarer. Diese hohe Explizitheit macht die Texte auf seltsame Weise «nah» - die homerischen Epen noch nach 2700 Jahren; sie scheinen direkt verständlich zu sein, ohne Kommentar, ja geradezu für uns geschrieben. Die meisten platonischen Dialoge sind ohne Kommentar lesbar, auch wenn der Philologe der Interpretation des Philosophen widerspricht.

Explizitheit fördert einen intellektuellen Habitus, der zur forschenden Erschliessung der Welt neigt. Die Griechen übernahmen sehr viel Wissen aus dem Orient, aber sie organisierten es neu. Die geringe Hierarchisierung machte den Wissensaustausch agonaler; Techniken des Widerlegens und Begründens entwickelten sich in Hellas stärker, weil man sie mehr gebrauchte. Nur so können gattungsinterne Regeln der Auseinandersetzung - Disziplinarität - entstehen. Wenn Wissenschaft bedeutet, Sachverhalte systematisch gemäss ihrer spezifischen Logik innerhalb eines abgegrenzten Gebietes zu durchdenken, dann ist sie in der griechischen Kultur entstanden, deutlich zu sehen bei Mathematik und Philosophie und Historie. Thukydides beschreibt den Peloponnesischen Krieg als immanenten Prozess, in welchem keinerlei göttliche Kraft wirkt: Die Geschehnisse werden bei ihm zum Resultat politischer Entscheidungen und zu Resultanten von Machtkomponenten.

In einem enormen Tempo differenzierten sich in der klassischen Zeit Wissensgebiete aus. Dazu brauchte es besondere kulturelle Konstellationen: eine städtische Kultur, grossräumige Kommunikation, eine substanzielle Quote von Menschen, die nicht arbeiteten, sondern Musse pflegten; keinerlei religiöse Bedenken, wenn es ums Prüfen ging. Soziale Autorität behinderte den geistigen Austausch in weitaus geringerem Masse als etwa in Rom. Idealiter zählte nicht der soziale Rang des Sprechers, sondern die Stärke seines Arguments. Daher das Vergnügen an der logischen Sauberkeit einer Argumentation, an ihrem zwingenden Charakter, sogar dann, wenn die gedachten Konsequenzen Erstaunliches, ja Schreckliches ergeben.

Die Schwäche der Religion war eine kardinale Bedingung für Chancen der politischen Entwicklung. Gerechtigkeit und Gesetz fanden keine religiösen Stützen; die Ordnung war nicht religiös abzusichern. So experimentierten die Griechen bereits in der archaischen Zeit mit der Ordnung. Deren Veränderbarkeit beängstigte: Die gewaltsamen Auseinandersetzungen im Innern der Polis und die Umstürze der Ordnung waren endemisch. Stasis nannten die Griechen jene Plage. Um diese Konflikte einzudämmen, mussten sie die Institutionen stärken. Die griechische Polis entstand überwiegend im Kampf darum, wie man die Konflikte innerhalb der Bürgerschaften institutionellen Regelungen unterwarf. Stadtrepubliken gab es lange vor den griechischen in Kanaan, vielleicht auch anderswo. Aber dort entfaltete sich nicht diese starke institutionelle Dynamik.

RISKANTE KONTROVERSEN

Die politische Anthropologie hat Demokratien auch bei ostafrikanischen Stämmen gefunden, das heisst politische Gleichheit aller erwachsenen Stammesangehörigen sowie Versammlungen, die über das Wichtige entscheiden. Aber die griechischen Demokratien waren beträchtlich handlungsfähiger, weil ihre Versammlungen über viel mehr Gegenstände entschieden. Nirgendwo hat sich eine solche Menge an institutionellen Regelungen und Verfahren gefunden wie in diesen Poleis. Die athenische Demokratie erreichte die höchste Dichte an verfahrensmässiger Institutionalität, die uns aus vorindustrieller Zeit bekannt ist. Und was passierte in diesem politischen Raum? Der Entscheidung ging die meist kontroverse Debatte voraus. Kontroversen sind riskant, sie spalten, sie stiften Feindschaft. Anderswo sind Konsensverfahren üblich. Die können sehr effektiv sein, brauchen aber einen hohen Zeitaufwand. Und sie haben eine kulturelle Konsequenz: Die Redner mühen sich ab, Gegensätze abzuschwächen. Kontroverse Debatten dagegen bringen Gegensätze schnell auf den Punkt, klären die Vorannahmen, machen das Unausgesprochene explizit. Sie befördern keine blumige Rhetorik, sondern scharfe: Der Gegner ist zu widerlegen, die eigene Option als die bessere darzustellen. Die Bürger in der Volksversammlung übten permanent, entgegengesetzte Meinungen auszuhalten, und erlernten Taktiken des Widerlegens und Begründens. Religiöse Autorität war hier bedeutungslos. Es half auch kein Orakeln; ein Seher war Bürger wie andere auch. Dann fiel die Entscheidung - durch eine Abstimmung, in der die Mehrheit zählte.

Dieses Verfahren ist keine Erfindung der Griechen; man findet es auch anderswo, obschon selten. In der griechischen Polis wird es umfassend angewandt, auf allen institutionellen Ebenen und bei allen Themen. Es erlaubte eine unglaubliche Beschleunigung der politischen Prozesse, brachte aber auch Gefahren: Dauerhaft eingemauerte Minderheiten bildeten eine Gefahr für den Grundkonsens und den inneren Frieden. Hier können wir lernen. Je mehr unsere mühsam homogenisierten Bürgerschaften sich auflösen in Lebensstilgruppen und religiös definierte Gemeinschaften, desto schwieriger wird es, Entscheidungen zu treffen, in denen sich der Wille der Mehrheit der Bürger ausdrückt. Der Begriff des Gemeinwohls wird sinnlos, wo die Bürgergemeinschaft zerbröselt.

Damit stehen wir unversehens dem aktuellsten Vermächtnis dieser innovativen Kultur gegenüber: der politischen Theorie. Zwar begann das politische Denken nicht bei den Griechen. Die älteste uns überlieferte Verfassungsdebatte fand in Israel statt: Die Jotham-Fabel ist eine glühende Absage an alle Monarchie. Dieses Denken blieb atheoretisch, ebenso wie die grossartige politische Reflexion in den Tragödien von Aischylos oder Sophokles, die experimentell die extremsten Handlungsfolgen durchspielt. Doch Ende des 5. Jahrhunderts vor Christus kam systematisches Nachdenken über das Politische auf: Mit reicher Begrifflichkeit, mit bündiger Argumentation, ohne Rücksicht auf Religion und Konvention, reflektierte man über Herrschaft und die Eigengesetzlichkeit der Machtphänomene; so entstand politische Philosophie als ausdifferenziertes Wissensgebiet. Die Radikalität dieser Reflexion hat diesen Texten bis heute eine beachtliche Brisanz gesichert. Misst man sie an der modernen politischen Soziologie, war ihr begrifflicher Reichtum (Monarchie, Aristokratie, Demokratie, ihre Verfallsformen und einige Zwischenformen) gewiss arm. Sie haben aber der politischen Philosophie Europas als ständiger Bezugspunkt gedient, um die eigene Wirklichkeit begrifflich zu begreifen.

Doch wieso sollte politische Reflexion heute bei den Griechen ansetzen? Weil immer dann, wenn Gefahren abzuwehren sind, Rückbesinnung angesagt ist. Und zwar zuallererst auf das Schlimme, zu Vermeidende: Die Vorstellung, es gebe minderwertige Menschen, war bei den Griechen immer wirksam, und in der Klassik hat die Philosophie diese Vorstellung systematisiert und in ein kohärentes Konzept gebracht. Platon glaubt nicht nur, dass Griechen und Barbaren von Natur aus verfeindet seien (Politeia 470 c), sondern dass die meisten Nichtgriechen von Natur aus intellektuelle und moralische Defekte hätten, die sie dazu unfähig machten, als freie Menschen organisiert zu leben. Ebenso Aristoteles, für den die Nichtgriechen prädestiniert sind, als Sklaven zu dienen: «Diejenigen, die so weit voneinander verschieden sind wie die Seele vom Körper und der Mensch vom Tier . . . diese sind Sklaven von Natur» (Politik 1254 b 15 ff.).

Die griechische Klassik hat damit im Medium der Philosophie den Untermenschen erfunden. Diese Trennlinie zwischen Menschen und Untermenschen wirkte sogar bei einzelnen Kirchenvätern (Ambrosius und Thomas) weiter. Sie war virulent in den amerikanischen Diskussionen vor dem Bürgerkrieg; Nietzsche formulierte sie geschichtsphilosophisch, die Nazis setzten sie bei der Versklavung Osteuropas in politische Programmatik um. Diesem Sachverhalt müssen wir uns stellen: Die Gleichheit aller Menschen (nicht bloss der Bürger) ist von den Griechen nicht zu lernen. Der prophetische Universalismus des alten Israel fehlt ihnen völlig. Daher führt auch von der griechischen politischen Philosophie kein Weg zu den Menschenrechten. Diese speisten sich aus anderen Quellen. Auch suchen wir vergeblich nach einer Ethik, die Fürsorge für den Armen und Schwachen auch dann gebietet, wenn dieser kein Bürger, sondern ein Fremder - einfach ein Mensch - ist.

Aber von den Griechen lernen wir, dass Freiheit nicht die Summe von Individualrechten ist, sondern ein politischer Zustand. Über 2460 Jahre hinweg ruft uns aus der Tragödie des Aischylos die Göttin Athene zu: «Weder anarchon leben, noch einem Herrn gehorchen!» (Eumeniden 696). Aus den Schweizer Bergen hat Rousseau sein Echo klingen lassen: «Ein freies Volk gehorcht . . . nur den Gesetzen, und deswegen gehorcht es nicht Menschen» (Lettre 8). Um die bedingungslose Geltung des Gesetzes, das eine politische Gemeinschaft übernommen oder sich selber gegeben hat, schimmert ein enormer Stolz, der sich tausendfach in der notorischen Formel ausspricht «Der Rat und das Volk haben beschlossen» und der uns politisch beschämt. Das ist die griechische, die rousseausche Dimension aller Demokratie. An dieser Ideallinie wird nolens volens der Grad genuin politischer Freiheit gemessen, auch in der repräsentativen Demokratie, solange es sie geben wird.

SELBSTHERRLICHKEIT

Von den Griechen lernen wir, dass die entfesselte Freiheit keine ist. Nicht nur weil sie sich gegen die anderen richtet, sondern weil sie ein Abklatsch jener Selbstherrlichkeit ist, welche die Tragödiendichter so perhorreszieren: «Autonomos lebst du, darum gehst du alleine in den Tod», lässt Sophokles den Chor gegen Antigone ausrufen (821). Wenn jedes Individuum autonom(os) ist, nach eigenem Gesetz lebt, dann ist Gesellschaft nicht mehr möglich. Wieder kommt der Widerhall aus den Schweizer Bergen: Die Unabhängigkeit - Asozialität - ist der schlimmste Feind der Freiheit (Rousseau, Lettre 8). Der zur Ideologie erhobene entfesselte Kapitalismus hat die Unabhängigkeit des Verkäufer-Käufers zum Modell gemacht. Das Politische bei den Griechen lehrt uns anderes: Menschen sind in dem Masse frei, wie sie Gesetzen gehorchen, an deren Zustandekommen sie beteiligt sind; Markt-«Gesetzen» zu gehorchen dagegen, ist Sklavenart.

Vor unseren Augen zerstören zwei Kräfte den ohnehin nur regional etablierten Raum demokratischer Institutionalität: der enthemmte Kapitalismus und alle religiösen Strömungen, die es ablehnen, sich Gesetzen unterzuordnen, die von Menschen gemäss institutionalisierten Regeln gemacht wurden. Der sich selbst überlassene Markt zerbricht die Bürgergesellschaft in Verelendende und Wohlhabende. Aber ohne Gleichheit keine Freiheit: Wenn die soziale Ungleichheit zu gross ist, dann ist - wie Aristoteles sagt (Politik 1320 a 22) - keine Demokratie zu halten. Der verabsolutierte Markt weicht jegliche politische Legitimität auf: Er setzt das anonyme Urteil an die Stelle der gemeinschaftlich gefassten Entscheidung. Von den alten Griechen lernen wir, was der politische Raum wert ist: Es  gibt keine Freiheit, wenn er verloren geht.

Wer Globalisierung sagt, der sagt auch Weltgeschichte (Kittsteiner). Wer Weltgeschichte sagt, kann der Frage nicht ausweichen, wie er zur Universalisierung steht. Haben die Menschenrechte und die Regeln der Rationalität universal zu gelten oder nicht? Denn es hilft uns nichts, Weltbürger zu werden, wenn in dieser Welt die Rechte und der Raum des Bürgers verloren gehen. Bildung, die uns hilft, uns in dieser Welt zu orientieren, verlangt darum eine doppelte Rückbesinnung: Zum einen auf den Universalismus der israelitischen Propheten und ihren starken Gerechtigkeitsbegriff; diese werden desto dringlicher, je mehr wir uns global vernetzen. Zum anderen auf das institutionalisierte gemeinschaftliche Entscheiden bei den Griechen. Gerade wenn man den Eurozentrismus opfert, wird diese Besinnung zur globalen Notwendigkeit. Denn nur im Medium eines weltweit funktionierenden politischen Raumes kann jener Universalismus sich vollziehen - solange Gott nicht eingreift in die Weltgeschichte.

 


Zurück zur Seite "Varia 2001"

Zurück zur Seite "Varia"