Verschiedene Verfahren zum Lösen von Extremalaufgaben
Ein alternativer Zugang zum Funktionsbegriff
Wie soll dem Schüler und der Schülerin der Funktionsbegriff beigebrachtwerden? Soll man zuerst systematisch einzelne Funktionsklassen behandeln und von den linearen über die quadratischen Funktionen zu den Potenzfunktionen sowie zu den trigonometrischen Funktionen vorstossen? Ein solcher Aufbau hat den grossen Nachteil, dass die interessanten, anwendungsorientierten Fragestellungen erst relativ spät behandelt werden können und die Motivation für manche Begriffedeshalb weitgehend fehlt. Schüler neigen gern dazu, den formalen, symbolisch-algebraischen Zugang dem inhaltlichen, graphisch-visuellen Zugang vorzuziehen. Ein Grund dafür mag sein, dass es der formale algebraische Zugang eher erlaubt, ein Problem rein mechanisch zu lösen, ohne die zugrundeliegenden Konzepte zu verstehen. Bis vor kurzem war die Herstellung geeigneter Visualisierungen (z. B. Funktionsgraphen) noch relativ aufwendig. Dank graphikfähigen Taschenrechnern fällt diese Einschränkung weg. Begriffe wie "Funktion'' oder "Graph'' lassen sich in einem frühen Zeitpunkt im Unterricht einführen und durch wirklichkeitsbezogene Problemstellungen gut motivieren. Nachfolgend wird beschrieben, wie man ausgehend von Problem materialoptimaler Verpackungen den Funktionsbegriff und die wichtigsten elementaren Eigenschaften funktionell einführen kann.
Bei Verpackungsproblemen handelt es sich oft um Extremalaufgaben. Die zu optimierenden Funktionen lassen sich typischerweise mit elementaren Mitteln herleiten. Verpackungsprobleme eignen sich deshalb zur Einführung des Funktionsbegriffes und zeigen gleichzeitig reale Anwendungen von Funktionen auf. Die Visualisierungsmöglichkeiten von Graphikrechner oder Computern allgemein erlauben die exemplarische, numerische Lösung der Extremalaufgaben, ohne dass weitergehende Kenntnisse aus der Analysis benötigt werden.
Optimale Getränkepackungen
H. Boer untersucht die Milchtüte. Getränkepackungen sind industrielle Massenprodukte, und für die Herstellung lohnt es sich, den Materialaufwand zu minimieren. Eine der handelsüblichen 1-Liter-Getränkepackungen hat die Form eines Quaders mit quadratischer Grundfläche. Eine aufgetrennte Packung liefert das untenstehende Netz.
Faltmuster einer Getränkepackung
Interessant ist, im Unterricht zuerst selber aus einem dünnen, rechteckigen
Stück Karton eine 1-Liter-Getränkepackung falzen und kleben zu
lassen. Erst nach dieser enaktiven Phase, in welcher der Ingenieurstandpunkt
eingenommen wird, stellt man die Frage nach dem optimalen Abmessungen: Für
welche Werte der Breite b und der Höhe h wird der Materialverbrauch
minimal?
Anhand der aufgetrennten Getränkepackung leiten wir eine Formel für
den Materialverbrauch her. Der Einfachheit halber vernachlässigen wir
für erste Untersuchungen den Klebefalz und messen alle Längen
in cm. Der Materialverbrauch wird dann durch folgende Formel beschrieben:
M(b,h) = 4b(b+h)
Aufgrund der Volumenbedingung b^2h=1000 ergibt sich
M(b) = 4b^2+4000/b
Für welche Werte von b wird der Ausdruck M(b) minimal? Diese Frage
führt uns auf natürliche Art und Weise zu einer Wertetabelle und
die Schülerinnen und Schüler werden mit gezieltem Probieren wohl
schnell eine recht gute Näherungslösung finden und quasi nebenbei
eine "Bisektionsmethode für Extremalstellen'' entdecken. An dieser
Stelle können die numerischen Werte visualisiert und der Graph der
zugrundeliegenden Funktion M(b) betrachtet werden. Abbildung 2 zeigt den
Materialverbrauch in Abhängigkeit der Breite. Für die Fortsetzung
ist der Einsatz eines graphikfähigen Taschenrechners sehr nützlich.
Durch fortlaufendes Zoomen erhalten wir für die Breite b näherungsweise
7.9 cm. Für die Höhe h resultiert 16.0 cm und der entsprechende
Materialverbrauch beträgt rund 756 cm^2. Die reale Getränkeverpackung
weist ohne Klebfalze einen Materialbedarf von rund 742 cm^2 auf. Der scheinbare
Widerspruch: Die reale Packung hat einen kleineren Materialbedarf als die
theoretisch optimale Packung! Der Grund liegt in unserer vereinfachenden
Modellannahme b^2h=1000 cm^3 für das
Volumen der Packung. Für die reale Packung ergibt b^2h nur rund 955
cm^3. Will man das Modell verbessern, muss berücksichtigt werden, dass
sich eine gefüllte Getränkepackung nach aussen wölbt. An
dieser Stelle sollte im Unterricht auf die Modellbildung ganz allgemein
eingetreten und den Schülerinnen und Schülern klar werden, dass
Funktionen typischerweise nur eine Idealiserung von realen Beziehungen darstellen.
Die graphische Bestimmung von Extremalstellen durch fortlaufendes Zoomen
ist natürlich langfristig umständlich und lässt sich schlecht
automatisieren. Deshalb soll jetzt auf numerische Verfahren eingegangen
werden. Das beschriebene, einfache numerische Verfahren ist auch für
die Schüler und Schülerinnen leicht nachvollziehbar und kann gegebenenfalls
auch als Programm auf dem Rechner implementiert werden. Damit ist das Verständis
für die Struktur und den Einsatz eines Werkzeuges zur Bestimmung von
Extremalstellen gegeben und der Modellbildungsaspekt bei Optimierungsaufgaben
rückt in den Vordergrund. Die
notwendigen Berechnungen können nach geeigneter Aufbereitung der Problemstellung
"per Knopfdruck'' gelöst werden. Man mag vielleicht einwenden,
dass man mit numerischen Methoden immer nur Näherungslösungen
erhalten wird und keine exakten Resultate. Daraus ein Plädoyer für
die Methode "Ableiten und Nullsetzen'' zu folgern, ist aber ein Trugschluss.
Man vergleiche dazu die Ueberlegungen beim Schubkurbelgetriebe.
Nach der Behandlung des einfachen Modells für die Getränkepackung
erlaubt es nun der graphikfähige Taschenrechner oder ein Computer Algebra
System, ohne grossen Aufwand das Modell zu verbessern und zum Beispiel auch
den Klebefalz in die Betrachtungen einzuschliessen. Die neu eingeführten
Begriffe Funktion, Wertetabelle, Graph und Extremalstellen können anhand
weiterer Verpackungsprobleme (z. B. 1/2-Liter Verpackungen, Konservendosen)
und fast beliebiger anderer Optimierungsprobleme vertieft werden.
Wer ganz mutig ist, kann auch eine Verpackung mit rechteckiger Grundfläche
untersuchen. Damit zeigt sich auf elementare Art und Weise, dass Funktionen
auch mehrere Variablen enthalten können. In jedem Fall wird der Schüler
und die Schülerin zum Experimentieren angeregt. Durch die Veranschaulichung
erhalten die Schülerinnen und Schüler nicht nur ein formales Verständnis
für Funktionen, sondern sie können Funktionen quasi dynamisch
"miterleben'' und auch ein inhaltliches Verständnis entwickeln.
Die mit elementaren Werkzeugen behandelten Extremalaufgaben können
später wieder aufgenommen und auch analytisch gelöst werden.