Verschiedene Verfahren zum Lösen von Extremalaufgaben
Funktioneller versus struktureller Zugang zur Mathematik
Vielleicht scheint es ein bisschen gesucht, an dieser Stelle einen Vergleich
mit dem Unterricht in einer Fremdsprache anzustellen. Auch bei Fremdsprachen
gibt es einen "User-Standpunkt'' -- man möchte in der fremden
Sprache kommunizieren können -- und den "reinen Standpunkt'',
der Wert auf präzise Formulierungen, eleganten Satzbau und ähnliches
legt. Im Fremdsprachenunterricht gibt es seit jeher zwei Ansätze. Beim
strukturellen Ansatz steht die Struktur, die Grammatik, das Vokabular
im Vordergrund. Die Funktion und die Wirkung der Sprache ist sekundär.
Der strukturelle Sprachunterricht ist geprägt durch formale übungen
der Art "ich liebe, du liebst, er liebt, wir lieben, ...''. Die Grenzen
eines rein strukturellen Ansatzes sind offensichtlich: Zwar ist der Satz
"Das Bruttosozialprodukt ist im Laufe der Zeit immer wieder grossen
Schwankungen unterworfen gewesen.'' syntaktisch richtig, wird aber in einer
lauschigen Sommernacht als Liebenserklärung wohl wenig Wirkung zeigen.
Im Gegensatz zum strukturellen Ansatz findet man heute häufig den funktionellen
Ansatz. Hier steht die Wirkung der Sprache im Vordergrund. Fehler in
der Syntax und Grammatik werden in Kauf genommen, solange damit die Sprache
nicht ihre Wirkung verfehlt. Ein Satz der Art "Ich dich lieben!'' wird
trotz seiner syntaktischen Fehler seine Wirkung nicht verfehlen und die
Angesprochene oder den Angesprochenen entweder erröten oder fliehen
lassen. Im Fremdsprachenunterricht herrscht heute weitgehender Konsens,
dass der funktionelle Ansatz besonders im Anfängerunterricht weitaus
geeigneter und motivierender ist. So erfolgt bei den meisten Lehrgängen
der Einstieg mit situationsbezogenen Szenen, einfachen Alltagsbeispielen.
Erst später werden sukzessive die strukturellen, ordnenden Prinzipien
der Sprache erarbeitet. Ganz ohne Struktur wird niemand auskommen. So erzeugt
die Formulierung "Sie lieben ich'' anstelle der eigentlich geplanten
Aussage "Ich liebe dich'' möglicherweise allerhand Verwirrung.
Kurz: Die nicht einfache Aufgabe der Lehrerin oder des Lehrer ist es, die
Funktion und Struktur der Sprache in geschickter Art und Weise miteinander
zu verbinden.
Ist die Ausgangslage im Mathematikunterricht nicht ziemlich ähnlich?
Betonen wir im Unterricht nicht allzu stark den strukturellen Aspekt? Wäre
es nicht angezeigt, dem funktionellen Ansatz mehr Rechnung zu tragen? Aus
der Denkpsychologie ist ja bestens bekannt, dass sich Lernen auf verschiedenen
Repräsentationsebenen abspielt. Sollten wir im Mathematikunterricht
nicht vermehrt mit Alltagsbeispielen beginnen? Ausgehend von realen Situationen
aus dem Umfeld der Schüler und Schülerinnen könnte man auch
vermehrt enaktive Komponenten berücksichtigen, mathematische Problemstellungen
und Verfahren visualisieren, durch numerische Werte an Beispielen konkretisieren.
Erst in einer letzten Phase erreicht man die formale, symbolische Ebene
und fasst die gemachten Erkenntnisse in allgemeine, prägnante Aussagen.
Zusammenfassend ergibt sich die folgende Hypothese:
Bei der Einführung neuer Begriffe und Methoden soll im Mathematikunterricht
sowohl dem funktionellen als auch dem strukturellen Ansatz Rechnung getragen
werden. Komplexe Aufgabe der Lehrkraft ist es, Funktion und Struktur so
miteinander zu verbinden, dass bei den Lernenden eine möglichst hohe
Funktionalität mittels optimaler Strukturen erzielt wird.
Zugegeben: Diese Gedanken und die Begriffe `"funktioneller Ansatz''
bzw. "struktureller Ansatz'' sind aus der Unterrichtspraxis abgeleitet.
Gewiegte Theoretiker mögen darunter etwas anderes verstehen und den
Sachverhalt begrifflich präziser formulieren. Es geht hier auch nicht
um eine wissenschaftliche Abstützung der Hypothese, sondern vielmehr
um den Versuch, Erkenntisse aus der kognitiven Theorie in Handlungsanweisungen
für die Lehrkraft zu fassen. An dieser Stelle ist aber zumindest ein
Hinweis auf aktuelle Forschungsarbeiten im Bereich kognitiver Strukturen
mathematischen Denkens angebracht. I. Schwank unterscheidet zwischen
einer prädikativen und einer funktionalen Struktur der
Lernenden. Unter prädikativem Denken wird der Vorrang eines Denkens
in Beziehungen und Urteilen, unter funktionalem Denken der Vorrang für
das Denken in Handlungsfolgen und Wirkungsweisen verstanden. Die durchgeführten
Experimente weisen auf eine Präferenz der Lernenden für eine der
beiden kognitiven Strukturen hin. Die übliche Einführung des Funktionsbegriffes
über Relationen spricht sicherlich nicht das funktionale Denken an.
Das die individuelle kognitive Struktur beschreibende Begriffspaar "prädikativ
/ funktional'' steht in enger Beziehung zum Begriffspaar "statisch
/ dynamisch'', das zwei grundlegende Sichtweisen mathematischer oder algorithmischer
Gegenstände beschreibt. Am Beispiel des Dualismus von statischer und
dynamischer Auffassung des Funktionsbegriffes weist Schwank darauf hin,
dass fruchtbare Entwicklungen in der Mathematik oft gerade durch einen Paradigmenwechsel
initialisiert wurden. Eine Verbindung des "strukturellen / funktionellen
Ansatzes'' mit dem Modell der prädikativen und funktionalen Denkmuster
herzustellen scheint gewagt und bedürfte genauerer Abklärungen.
Immerhin soll hier noch vermerkt werden, dass auch in der Informatik ähnliche
Paradigmen von grosser Bedeutung sind. So gibt es den eher "funktionalen''
imperativen und den eher "prädikativen'' objekt-orientierten Ansatz
beim Software-Entwurf. Algorithmen können eher statisch betrachtet
werden, eine Sichtweise, die für Invarianten, Programmoptimierung und
-verifikation und die Wahl geeigneter Datenstrukturen oft nützlich
ist. In vielen Fällen ist aber die dynamische Sichtweise eines Algorithmus
dem Problem angepasster. Im Informatikunterricht kann durch Einbezug beider
Paradigmen das Verständnis auch für komplizierte Algorithmen oft
effizient gefördert werden.
Im nächsten Abschnitt soll an einem Beispiel gezeigt werden, wie ein
funktioneller Zugang zu einem neuen Thema im Unterricht auf der Sekundarstufe
II konkret aussehen kann. Als Thema wird die Einführung des Funktionsbegriffes
gewählt. Diese Wahl ist nicht zufällig, ist doch der
Funktionsbegriff für die Mathematik zentral und bereitet den Schülern
und Schülerinnen immer wieder grosse Mühe.