Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Quelle:

NZZ Ressort Literatur und Kunst, 21. Juli 2001, Nr. 167, Seite 71

Die Artikel

 

Wissenschaft und Weltbild

Zu unserer Beilage

Unter den zivilisationskritischen Seufzern, die durch den Echoraum der Gegenwart hallen, ist dieser einer der verlässlichsten, aber auch entbehrlichsten: Wissenschaft sei abstrakt. Manchen Klagenden gilt dies als gleichbedeutend mit: Wissenschaft sei unanschaulich. Wer indes abstrahiert: von etwas absieht, sieht nicht nichts mehr. Eine Wissenschaft, die ihren Blick vom sogenannt sinnlich Wahrnehmbaren «wegzieht» (wie das lateinische Verb «abstrahere» übersetzt werden könnte), richtet ihn - beispielsweise - auf den Mikrokosmos und macht auch die staunenden Laien zu Zuschauern, zu Betrachtern einer «unsichtbaren» Welt. Und da, wo es selbst für Elektronenmikroskope nichts zu sehen gibt, gibt es doch etwas zu sehen, das nämlich, was «bildgebende» Verfahren zu sehen geben: keine Abbilder zwar, aber doch Anschauliches, abstrahiert - «herausgezogen» - aus Unanschaulichem.

Um solche Bilder, die bei der Verständigung zwischen Wissenschaft und Publikum ihre suggestive Rolle spielen, wie etwa die zum Archetypus stilisierte Doppelhelix (vgl. NZZ vom 21. 6. 01), geht es in unserer Beilage zwar auch. Das «Weltbild» jedoch, das der Titel mit «Wissenschaft» verknüpft, hat ein grundsätzlich anderes Format. Es ist das Bild, in das man sich setzt oder setzen lässt. «Im Bilde» ist man - und zwar vorab - informiert, verständigt und orientiert. Der Rahmen, um im Bild vom Bild zu bleiben, ist dann der, aus dem man nicht fallen kann: Es ist der Horizont, vor dem etwas thematisch, der Grund, vor dem eine Figur wahrgenommen werden kann. Dass Wissenschaften sich einen solchen Rahmen spannen müssen, um überhaupt etwas erkennen zu können, ist trivial. Dass sie damit auch der Gesellschaft und den Menschen einen vorzeichnen, ist weniger trivial; zumal wenn es sich um Naturwissenschaften handelt.

Freilich wird ausserhalb der Wissenschaften nicht schlicht nachgezeichnet. Auch dort herrschen Ansichten. Weltbilder sind so etwas wie Gemeinschaftsprojekte, mehr oder minder stabile, mehr oder minder konturierte Muster von Interferenzen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, Labor und Leben. Es wäre daher nicht ganz richtig, stets und nur von Vulgarisierungen oder Popularisierungen wissenschaftlichen Wissens zu sprechen, wo etwa naturalistische, materialistische, darwinistische oder deterministische Weltbilder ihr Wesen treiben. Dennoch besitzen Naturwissenschaft und Technik gewissermassen einen institutionellen Vorsprung in der Entwicklung «weltbildgebender» Verfahren. Dies gilt vermehrt in der «Wissensgesellschaft», in der politische Legitimität ohne wissenschaftlichen Beistand, ohne Expertise und Gegenexpertise (auch derjenigen von Ethikkommissionen), nicht mehr beschafft werden kann.

Ginge man einen Schritt weiter, liesse sich in Anlehnung an Heidegger behaupten, die «Zeit des Weltbildes» sei allererst mit der neuzeitlichen, modernen Wissenschaft und der ihr zugehörigen Technologie gekommen: Wo ein erkennendes «Subjekt» die Natur sich als Bereich von «Objekten» vor- und gegenüberstellt, da wird die Welt zum Bild. Dieses Weltverhältnis färbt gewissermassen ab auf andere, auf nichtwissenschaftliche Formen und Techniken des Wissens; selbst dort noch, wo im Gegenzug zum Positivismus und Naturalismus der Wissenschaften idealistische oder spiritualistische Vorstellungen vom Ganzen sich artikulieren. Ein Bild kann man sich machen - oder ein anderes. Der Relativismus folgt den Weltbildern und Weltanschauungen wie ein Schatten. Das 19. Jahrhundert hat es gezeigt; wie auch dies, dass der Relativismus die Kippfigur des Dogmatismus ist. Den von Max Weber so genannten «Polytheismus der Werte» hat, wenn diese Redeweise erlaubt ist, das 20. Jahrhundert als Kampf der Weltanschauungen und Ideologien ausgefochten.

Mit dem «Ende der Ideologien» sind die Ideologien nicht am Ende. Die Entkrampfung der geistespolitischen Situation nach 1989 liess dennoch die Ideologiekritik alten Schlags erlahmen. Entspannter Wertepluralismus und kultivierter Indifferentismus begannen Platz zu greifen. Das mag auch die Bereitschaft erhöht haben, wieder von Weltbildern und Weltanschauungen zu reden: standpunktgebundenen Sichtweisen, die nicht sofort dem Ideologieverdacht ausgesetzt sind. (Was einst «Postmoderne» hiess, hatte dem bereits vorgearbeitet.) Dass eine umfassende Weltdeutung nicht falsches Bewusstsein oder bösen Willen widerspiegle, heisst indes nicht, dass sie wahr oder auch nur richtig wäre. Wie auch immer: Die Zeichen mehren sich, dass die mittlere Temperatur im Diskursuniversum wieder im Steigen begriffen ist. Bemerkenswerterweise sind es gerade die «wertneutralen» Naturwissenschaften, die - Stichwort human engineering - neue weltanschauliche Kontroversen auslösen.

Unsere Beilage will diese Kontroversen nicht anheizen. Doch kann man sich nicht darauf verlassen, dass niemand die in lebensfreundlichem Relativismus schlummernden Hunde des Dogmatismus wecken werde. Darum sind vorsichtige Expeditionen in wissenschaftliche Ateliers, in denen Weltbilder - so oder so - entworfen werden, allemal von Nutzen; ebenso wie die Erinnerung an kulturpolitisch bereits in Dienst genommene wissenschaftliche und pseudowissenschaftliche Weltanschauungen.

Uwe Justus Wenzel

 

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