Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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NZZ Ressort Literatur und Kunst, 21. Juli 2001, Nr. 167, Seite 72

 

Ohne Jenseits

Der Positivismus als wissenschaftliche Weltanschauung

Von Michael Hampe

«Weisst du was? Vati hat keine Weltanschauung!» Diese für ihn erschütternde Einsicht teilte der Ökonom Albert O. Hirschmann in den späten zwanziger Jahren seiner Schwester mit. Hirschmann, damals zwölf oder dreizehn Jahre, hatte begonnen, sich mit «philosophischen und halbreligiösen Fragen» zu beschäftigen, auf die sein Vater, ein Neurochirurg, nach eigenem Bekunden keine Antwort wusste. Hirschmann erinnert dieses Ereignis so deutlich, weil er damals glaubte, zum ersten Mal einen Punkt erreicht zu haben, an dem er es besser als sein Vater machen werde: Niemand werde ihn, wenn er einmal erwachsen ist, dabei ertappen, ohne Weltanschauung dazustehen. Die Frage, ob es gut oder schlecht ist, der Welt mit einem vollständigen Geistesservice und Ideenbesteck zu begegnen, mit dem sich jedes komplexe Phänomen sogleich intellektuell tranchieren und dann anschaulich bewertet servieren lässt, hat Hirschmann nach eigenem Bekunden sein ganzes Leben nicht losgelassen.

Zweifellos war es in den zwanziger bis vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine geistige Mangelerscheinung, nicht im Besitz einer Weltanschauung zu sein. Hirschmann nahm denn auch zunächst eine an - und zwar die sozialistische. Dass sein Vater keine hatte und brauchte, mag man auf seine nüchterne Chirurgenmentalität schieben, der es um die Tatsachen von Tumoren und Läsionen und nicht um hochfliegende Gedankengebäude ging. Doch eine solche Gegenüberstellung kühler wissenschaftlicher Faktenorientierung mit einer spekulativen Mentalität, die die Welt überhaupt sozialistisch oder nihilistisch, ganzheitlich oder agonal, katholisch oder schopenhauerisch sehen will, greift zu kurz.

SAINT-SIMON, AUGUSTE COMTE

Denn die aufklärerischen Wissenschaften, die sich seit dem 17. Jahrhundert auch gegen religiöse Weltanschauungen wendeten, bildeten einst selbst die Keimzelle einer Weltanschauung, eben der wissenschaftlichen. Wissenschaften als detailbesessene und kritische Projekte anzusehen, denen die Welt als ganze gar nicht zugänglich sein will, Weltanschauungen dagegen als intellektuell unseriöse Geistesgebilde zu betrachten, die nicht allzu deutlich unterscheiden dürfen und vor allem nicht selbstkritisch sein können, damit auch alles in ihren Rahmen passt - diese Diagnose dürfte neuesten Datums, vielleicht erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Allgemeingut geworden sein.

Schon 1819 entwarf Claude-Henri de Rouvroy, Comte de Saint-Simon, in seinem Buch «L'Organisation» die Vision einer Gesellschaftsordnung, in der Wissenschafter und Industriekapitäne und nicht Bischöfe und Grossgrundbesitzer das Sagen haben sollten. Wissenschafter, und zwar Naturwissenschafter, als diejenigen, die die strengen Gesetze der Welt kannten, sollten diese Welt auch sozial gestalten. Angesichts der Tatsache, dass in den Augen Saint-Simons die religiösen und militärischen Interessen durch ökonomische abgelöst worden waren, lag es auf der Hand, die Herren der Wirtschaft neben den Naturwissenschaftern die Geschicke der Gesellschaft lenken zu lassen.

Von 1817 bis 1824 war der junge Auguste Comte Privatsekretär von Saint-Simon. Es steht ausser Frage, dass Saint-Simon nicht allein wegen seiner Rezeption durch Marx und Engels als Grossvater der sozialistischen, sondern, als Vorgesetzter von Comte, auch der positivistischen Weltanschauung angesehen werden muss. Comtes von 1830 bis 1842 in sechs Bänden erschienener «Cours de philosophie positive» ordnet und expliziert in einem Monumentalwerk Gedankengut, das der wenig systematische Saint-Simon an verschiedenen Stellen verstreut hatte. In ihm wollte Comte eine «Religion der Humanität» stiften. 1851/52 erschien in vier Bänden Comtes «Système de politique positive», 1852 sein «Catéchisme positiviste».

Comte ging es in diesen Büchern nicht allein um eine Synthese aller positiven Wissenschaften, die nach seiner Stadientheorie der menschlichen Entwicklung Mythos, Religion und Metaphysik als Determinanten der Kultur abgelöst hatten, sondern um den Entwurf einer Gesellschaftsordnung - einschliesslich eines nachreligiösen Kultes -, die ganz von den positiven Wissenschaften getragen sein sollte. Die um diese Weltanschauung zentrierte Kultur sollte von allen Illusionen über den transzendenten Grund oder ein jenseitiges Ziel des menschlichen Daseins befreit sein. Der Positivismus sollte eine republikanisch aufgeklärte Bürgergesellschaft begründen, die den Glauben an etwas anderes als das Gegebene nicht mehr nötig hatte, die den Menschen und seine Erkenntnisse als das Höchste ansah, was es zu feiern gibt.

Bernard Plé hat 1996 in einer umfangreichen Studie über den Positivismus («Die Welt aus den Wissenschaften») gezeigt, dass dieser ursprünglich «nicht für die Wertfreiheit der Wissenschaften» eintrat, «geschweige denn für das Ziel ihres Rückzugs in einen Freiraum, wo die Forschung sich unabhängig von Gesellschaft und Politik entwickeln sollte», wie die Gegner des Neopositivismus im 20. Jahrhundert (allen voran Horkheimer und Adorno) es diesem im sogenannten Positivismusstreit vorwarfen. «Positivismus» bezeichnete ursprünglich vielmehr «geradezu das Gegenteil dessen, was als Wertfreiheit und Öffentlichkeitsferne später mit ihm in Verbindung gebracht worden ist», so Plé.

WIEN, BRASILIEN, ANKARA

Der von Spinoza und Hobbes zuerst formulierte, von den französischen Aufklärern Diderot und D'Holbach dann ausgearbeitete und an Saint-Simon weitergegebene Gedanke, die Welt sei von einer immanenten Gesetzlichkeit getragen, ohne jenseitigen Schöpfer und ohne jenseitiges Ziel, sollte im ursprünglichen Positivismus zu einer Frömmigkeit gegenüber dem Diesseits führen. Dieser Gedanke ist noch bis in den sogenannten Immanenzpositivismus von Avenarius und Schuppe zu spüren, die in Wien die Ära des sogenannten Neopositivismus einleiteten, der dann auch die Philosophie des 20. Jahrhunderts bestimmte - vor allem über den frühen Wittgenstein und den sogenannten Wiener Kreis: Schlick, Waismann, Neurath und Carnap. Doch wenn Neurath auch noch starkes politisches Interesse und Engagement zeigte, so war der Neopositivismus im Unterschied zu der Bewegung, die er wiederzubeleben meinte, insgesamt ohne gesellschaftsformende Kraft.

Der junge Wittgenstein, der mit seinem «Tractatus» eine Leitfigur des Wiener Kreises war, hatte sich in seiner später offener zutage tretenden Wissenschafts- und Fortschrittsfeindlichkeit geradezu anti-comtisch geäussert, als er schrieb: «Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind», und: «Die Darwinsche Theorie hat mit Philosophie nicht mehr zu schaffen als irgendeine andere Hypothese der Naturwissenschaft.»

Der einheitswissenschaftliche Impetus der Neopositivisten des 20. Jahrhunderts, die sich selbst lieber als «logische Empiristen» bezeichneten, dieser Impetus, der teilweise - bei Carnap - in der reduktionistischen Gestalt eines Physikalismus auftrat (etwas, das Comte ganz fern lag), war nicht auf die Ausbildung einer Kosmosfrömmigkeit gerichtet, in der die diesseitige Gesetzmässigkeit der Welt und die erkenntnisfähige Humanität verehrt werden. Schon Ernst Mach waren die Naturgesetze ja zu blossen Ökonomieprinzipien des wissenschaftlichen Denkens geworden, in denen sich die Datenmassen in handlichen Formeln komprimieren liessen. Dem ursprünglichen Positivismus ging es dagegen um viel mehr als um eine vereinheitlichende Theorie der Wissenschaften, nämlich um eine «nationenübergreifende . . . kulturelle Erneuerung» (Plé). Dieses Vorhaben gelang auch teilweise.

Bei der Neugründung Brasiliens 1891 erhielt beispielsweise die Verfassung den positivistischen Leitspruch Ordem e Progresso, und die geistige Elite des Landes sollte auf die positivistischen Prinzipien des Fortschritts der Wissenschaften als Motor des Fortschritts der Menschheit eingeschworen werden. Auch Kemal Atatürk berief sich in seiner Verwestlichung der Türkei auf die Fortschrittsprinzipien von August Comte. Sowohl in Brasilien wie in der Türkei scheint die positivistische Weltanschauung eine staatstragende Rolle gespielt zu haben. Bernard Plé betont, dass diese Wirkungen zwar nicht mit denen des «wissenschaftlichen Sozialismus» vergleichbar sind, der sich ebenfalls auf den «Fortschritt der Wissenschaften» verliess, das jedoch sei lediglich auf das Fehlen von «positivistischen» Massenorganisationen zurückzuführen. Tatsächlich sind die beiden Weltanschauungen Geschwister, haben in Saint-Simon nicht allein einen gemeinsamen Vorfahren, sondern auch gemeinsame Ziele: Desillusionierung der Menschheit und Errichtung einer streng diesseitigen Kultur auf der Basis der positiven Wissenschaft.

OHNE HOFFNUNG LEBEN?

Die Fortschrittshoffnungen der positivistischen wie der sozialistischen Weltanschauung scheinen inzwischen an der Wirklichkeit zerschellt zu sein. Sowohl der Proletkult wie die Feier der immanenten Gesetzmässigkeit der Welt und der Menschheit wirken heute wie alberne Gottesdienstimitate. Stattdessen entdecken die Wissenschaften via Urknall und Quantenphysik wieder die Transzendenz. An den kulturellen Fortschritt durch die Naturwissenschaften glauben nach dem Abwurf der Atombomben und dem Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums eher Anhänger sogenannter konservativer Parteien. Wer sich heute zur kulturellen Avantgarde zählt, traut den Wissenschaften nicht über den Weg und engagiert sich lieber für die interkulturelle Ausbreitung des tibetischen Buddhismus als für die Entwicklung der Biotechnologie. Ob es sich hierbei nur um ein vorübergehendes Stottern des wissenschaftlichen Motors der Aufklärung handelt und Comte letztlich Recht behalten wird, dass eine Kultur der Diesseitigkeit angebrochen sei, oder ob die Schwierigkeiten der technischen Anwendung der Wissenschaften so gross sind, dass an ihnen aufklärerische Weltanschauungen wie Positivismus und Sozialismus endgültig scheitern - diese Frage werden nur Propheten beantworten wollen.

Saint-Simon wollte 1824 in «Nouveau Christianisme» die Ideale der Brüderlichkeit und Nächstenliebe auch in einer transzendenzlosen Gesellschaft verankert sehen. Comte führte diesen Gedanken in seinem «Cours» weiter, als er «die Menschheit» zum «Grand Etre», zum Nachfolger Gottes, erklärte, dem individuell private Interessen unterzuordnen seien. Hellhörige ahnen hier bereits die totalitäre Mentalität, die individuelle Interessen für vermeintlich zukünftiges Glück opfert. Nutzen und Schaden von Weltanschauung - ebenso wie von Religionen - lassen sich nicht gegeneinander aufrechnen, das gilt auch für den Positivismus und sogar für den Sozialismus. Neue realhistorische Inkarnationen dieser Gedankengebäude könnten ein anderes Gesicht zeigen als Brasilia und das Lenin-Mausoleum, diese unheimlichen Monumente misslungener moderner Humanismen.

 

 


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