Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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NZZ Ressort Literatur und Kunst, 21. Juli 2001, Nr. 167, Seite 74
Die Welt zur Formel
Die Physik denkt das Ganze
Von Ulf von Rauchhaupt
Die Biowissenschaften sind zu «Leitwissenschaften» avanciert; die Physik scheint ins Hintertreffen zu geraten. In dieser Situation entdeckt sie neu, was man ihre Weltbildfunktion nennen könnte.
Was tat Gott, bevor er die Welt erschuf? Der heilige Augustinus, sonst nicht gerade für seinen Humor bekannt, soll diese Frage einst dahingehend beantwortet haben, dass Gott da wohl die Hölle erschaffen haben müsse - für alle, die solche törichten Fragen stellen. Denn für Augustinus gehörte die Zeit zur Welt und ist daher auch mit ihr entstanden, womit sich die Frage nach dem «Davor» erübrigt.
Die Frage nach dem «Warum» hingegen erübrigt sich nie - wie Eltern neugieriger kleiner Kinder wissen. Jede Erklärung enthält Aussagen, die ihrerseits Erklärungen verlangen können. In der Naturwissenschaft landet man damit früher oder später bei der Physik, die alles materielle Sein in Elementarteilchen und Grundkräfte zerlegt. Inzwischen ist die Physik bei ihren Erkundungen dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, so weit gekommen, dass manche Physiker ihrer Zunft sogar allerletzte Antworten zutrauen.
Faustische Allüren wurden der modernen Physik schon früher nachgesagt, doch weniger wenn es darum ging, die Welt zu erklären, als wenn es darum ging, sie mit entfesselten Kräften zu verändern. Dieser Verdacht trifft heute eher Medizin und Biologie. Der Homunculus bestimmt den Diskurs, von der Physik erwartet man heute weder Heil noch Horror, allenfalls noch schnellere Computer, um Genome zu entschlüsseln. Doch just zu der Zeit, da die Physik ihren Status als «Leitwissenschaft» der technischen Zivilisation schwinden sieht, entdeckt sie ihre Weltbildfunktion neu. Sie stellt plötzlich wieder uralte, für unser angeblich nachmetaphysisches Zeitalter unglaublich unzeitgemässe Fragen und beansprucht Aufmerksamkeit für Antworten, die man von Theologie und Philosophie schon lange nicht mehr hören will.
EXPANSION
Bei Augustinus ist man schon angekommen. Dabei hat die physikalische Kosmologie lange gebraucht, bis sie dessen um das Jahr 400 n. Chr. aus rein philosophisch-theologischen Erwägungen propagierte Einheit von Zeit und Welt für sich entdeckte. Bis in die zwanziger Jahre des kürzlich verronnenen Jahrhunderts ging man von Seiten der Naturwissenschaft selbstverständlich davon aus, dass zumindest Raum und Zeit immer schon bestanden, lieferten sie doch das Substrat für alle Naturprozesse. Dann jedoch stellte sich heraus, dass das Universum stetig expandiert: Ab einer gewissen Entfernung sehen die Astronomen die Galaxien sich voneinander weg bewegen, und zwar umso schneller, je grösser der Abstand zwischen ihnen ist. Dabei ist es der leere Raum selber, der sich da ausdehnt und die Galaxien auseinander treibt wie ein aufgehender Hefeteig seine Rosinen.
Aber ein expandierendes Universum kann nicht schon immer bestanden haben. Rechnet man zurück, so kommt man zu dem Schluss, dass das sichtbare Universum vor gut 15 Milliarden Jahren als ein unvorstellbar dichter und unvorstellbar heisser Klumpen Raumzeit begonnen haben muss. Diese «Urknall»-Hypothese hat bisher alle Anfechtungen überlebt, und heute stehen ihre letzten Kritiker vor der Emeritierung. Zu viele voneinander unabhängige Beobachtungstatsachen sprechen inzwischen für den Urknall.
Doch damit ist das letzte Wort über den Anfang der Welt noch nicht gesprochen. Denn das früheste direkt messbare Relikt des Urknalls - die kosmische Hintergrundstrahlung - stammt aus einer Zeit, als das Universum bereits einige hunderttausend Jahre alt war. Indirekt lässt sich die Expansion des Alls bis auf die erste Sekunde zurückverfolgen. Doch auch was während des grössten Teils dieser ersten Sekunde geschah, ist mit bekannten physikalischen Gesetzen beschreibbar. Das Problem ist der erste billiardste Teil der ersten Sekunde. Da war es im Universum so irrwitzig heiss, dass man über die physikalischen Gesetze, die dort herrschten, allenfalls gelehrte Spekulationen anstellen kann. Experimentell überprüfen lassen sie sich mit der heute und in absehbarer Zeit verfügbaren Technik nicht.
Man mag fragen, wen dieses eine Sekunden-Billiardstel schon kümmere, wenn sonst alles klar ist. Doch es ist eben das erste Sekunden-Billiardstel, und in seinen ersten Momenten muss es heiss genug gewesen sein, um der Weltsubstanz jegliche Struktur - vielleicht sogar den Unterschied zwischen Raum, Zeit und Materie - zu verwehren und ihre fundamentalste Natur zu offenbaren.
Manche der Mutmassungen über die Vorgänge in jenem allerersten Moment werden heute schon als physikalische Theorien gehandelt, was allerdings mehr über ihre Verbreitung aussagt als über ihren epistemischen Status. Denn der ist prekär. Grosse Vereinheitlichte Theorie, Supersymmetrie, String- oder M-Theorie, wie die wichtigsten Theorien heissen, enthalten kaum testbare Hypothesen. Es sind von mathematischer Ästhetik geleitete Extrapolationen von bekannter, durch Beobachtung geprüfter Physik auf unbekannte.
Die Hoffnung der Forscher, dass daraus einmal richtige Theorie werde, speist sich auch aus ihren Erfolgen in der Vergangenheit. So erkannte etwa im 17. Jahrhundert Isaac Newton die Kraft, die einen Apfel vom Baum fallen lässt, und die, welche den Mond an die Erde kettet, als ein und dasselbe. Newtons Theorie der Schwerkraft war die erste «vereinheitlichte Theorie». Sie brachte zwei bis dahin als völlig getrennt angesehene Phänomenbereiche unter einen mathematischen Hut. Seither ist es das wichtigste Programm der theoretischen Physik, immer weitere Phänomenbereiche mit immer weniger, aber immer umfassenderen Theorien zu beschreiben. - Heute stehen nur noch zwei Theorien völlig unversöhnt nebeneinander: Die eine ist die Quantentheorie, zuständig für die mikroskopische Struktur der Materie, vom Eiweissmolekül bis zum Elementarteilchen. Die andere ist Einsteins Gravitationstheorie, welche die Welt im Grossen beschreibt - samt dem Raum, den sie erfüllt, und der Zeit, in der sie altert. Eine Vereinigung dieser beiden Theorien wäre die letzte mögliche und ihr Resultat die allumfassende Lehre von der Natur, die «Weltformel», mit der sich auch jenes erste Billiardstel der ersten Sekunde berechnen lassen müsste. Es wäre der Heilige Gral der Physik.
«STRINGS»
Doch die Gralssuche hat schon mehrere Generationen theoretischer Physiker verschlissen. Bisher scheiterte man schon an der Mathematik: Wenn immer Physiker versuchten, Quanten und Gravitation in gemeinsame Formeln zu zwängen, wurden die Nenner irgendwelcher Brüche zu null - ein untrügliches Zeichen dafür, das etwas falsch ist. Doch seit einigen Jahren gibt eine neue Theorie-Idee Hoffnung: Statt die elementarsten Quantenteilchen, wie bisher, als ausdehnungslose Punkte zu betrachten, postuliert man sie als winzig kleine Fädchen (englisch «strings»). All die verschiedenen Elementarteilchen, so die Idee, könnten auf eine einzige Sorte Strings zurückgeführt werden, die lediglich in unterschiedlichen Frequenzen schwingen. Damit wäre nicht nur die unschöne und jeder fundamentalen Theorie unwürdige Teilchenvielfalt aus der Welt. Die endlich ausgedehnten Strings vertrügen sich auch besser mit der Gravitationstheorie. Vielleicht lässt sich am Ende ja sogar das Gefüge von Raum und Zeit selber als ein Gewebe solcher schwingenden Fäden beschreiben.
Doch noch lässt sich auch die String-Theorie mathematisch nicht fassen. Der Raum, in dem sich diese Fädchen tummeln, müsste elf Dimensionen haben; und die Frage wie die Strings es anstellen, in einem Raum-Zeit-Gefüge zu schwingen, das sie selber aufbauen, gibt eine Ahnung von den Problemen, die String-Theoretiker noch lösen müssen, bevor sie ihre Ideen überhaupt widerspruchsfrei formulieren können.
Der Slogan von der Weltformel ist mitnichten ein blosser PR-Gag. Zwar werden die Physiker nicht müde zu betonen, dass es auch nach der Entdeckung der finalen Theorie noch unendlich viel zu erforschen gäbe - nämlich die unübersehbar vielen Möglichkeiten, mit denen die Strings, oder was immer sich als letzte Einheit erweisen wird, sich zu immer komplexeren Systemen bis hinauf zum Menschenhirn organisieren. Dennoch zielt die Vision von der einen fundamentalen Theorie auf nicht weniger als auf Letztbegründung. Dass das Projekt sehr wohl ein «ontologisches» ist, wird nicht jeder so offen zugeben wie der amerikanische Theoretiker Brian Greene, dessen Buch «Das elegante Universum» im letzten Sommer der Kassenschlager unter den Physik-Sachbüchern war. «Wir wollen nicht nur Modelle konstruieren», sagte Greene bei der Vorstellung seines Buches in Deutschland, «wir wollen Wahrheit.» Mündet die moderne Physik damit in eine Naturphilosophie vorsokratischen Typs, nur eben mit multidimensionalen Strings als neuer Arché, als dem einen Urstoff, aus dem alles besteht? Mindestens. Aber im Grunde hofft man auf mehr. Schon Einstein fragte sich, «ob Gott bei der Erschaffung der Welt überhaupt die Wahl hatte», und Greene bestätigt, dass bei einer fertig formulierten String-Theorie möglichst herauskommen sollte, dass Er sie eben nicht hatte - woraus sich dann auch ganz zwanglos ergäbe, warum überhaupt Seiendes ist und nicht vielmehr nichts: Letzteres wäre einfach logisch unmöglich.
Allerdings könnte es auch anders kommen, wie Greene frei, aber auch ein wenig wehmütig einräumt. Die letzte Vereinheitlichung der Physik könnte sich durchaus auch als unhintergehbar kontingent erweisen. Elementare Grössen wie Naturkonstanten könnten jedem Versuch widerstehen, sie auf blosse Logik zurückzuführen; und wir würden, so Greene, ein für alle Mal zu der Einsicht gezwungen, «dass das Universum bestimmte Eigenschaften hat, weil der Zufall oder göttlicher Ratschluss es so gewollt hat». Dieselbe Kontingenz gälte dann auch für das Leben und damit für unsere menschliche Existenz. Denn wie man zeigen kann, hätte es nie zur Entstehung des Lebens kommen können, wenn die physikalischen Gesetze unseres Universums auch nur geringfügig anders ausgefallen wären. Gilt damit das, was die Kosmologen das «starke anthropische Prinzip» nennen, dem gemäss unser Universum bereits bei seiner Entstehung auf die Entwicklung von Leben und Intelligenz angelegt war?
Dieser Schluss auf das starke anthropische Prinzip ist jedem ein Greuel, dem Naturwissenschaft Weltanschauung ist - aber mit etwas Phantasie liesse er sich vielleicht vermeiden. Dazu muss man sich nur vorstellen, unser Universum wäre lediglich Teil eines grösseren kosmischen Gebildes, eines «Multiversums» aus - möglicherweise unendlich vielen - parallelen oder auseinander hervorgehenden Universen. Diese Idee vertritt der russische Kosmologe Andrei Linde, der damit die stark-anthropischen Folgen einer etwaigen Kontingenz der Physik wieder loswerden möchte: Unter unendlich vielen Universen mit allen nur denkbaren Eigenschaften wäre eines eben zufällig mit einer «lebensfreundlichen Physik» ausgestattet. Dass es gerade unseres ist, darüber brauchten wir uns nicht zu wundern, so Linde, denn in den anderen gäbe es ja niemanden, der sich wundern könnte.
LETZTE LÜCKE
Diese Denkfigur des «schwachen anthropischen Prinzips» wurde unlängst von dem amerikanischen Gravitationstheoretiker Lee Smolin noch radikalisiert. In seinem Bestseller «Warum gibt es die Welt?» schlägt er einen - selbstverständlich hoch spekulativen - Prozess vor, durch den Universen auseinander hervorgehen, wobei Mutteruniversen ihre physikalischen Gesetze mit kleinen zufälligen Änderungen an ihre Tochteruniversen weitergeben. Wären nun die lebensfreundlichen Universen auch jene, die am meisten Töchter produzieren - wofür Smolin Gründe anführt -, so wären sie nach einer gewissen Anzahl von Generationen qua Mutation und Selektion in der Mehrzahl und somit am wahrscheinlichsten.
Fazit: Sollte nicht bereits die letzte vereinheitlichte physikalische Theorie der Welt die Kontingenz austreiben, dann tut es spätestens - wenn auch nur statistisch - Lee Smolins darwinistisches Multiversum. Die Konsequenz wäre in jedem Fall eine geschlossene und dabei rein rationale, rein materiale Welterklärung, die kein weiteres «Warum?» mehr zulässt - und das Einzige, was dazu fehlt, ist ein bisschen Physik.
Aber kann man, was immer diese letzte Lücke schliesst, noch Physik nennen? Dürfte es noch mit dem Anspruch einer Wissenschaft auftreten, die ihre Erfolge und ihre intellektuelle Autorität der Nachprüfbarkeit ihrer Hypothesen durch wiederholbare Experimente oder Beobachtung von Gleichartigem verdankt? Diese Nachprüfbarkeit hat aber ihre Grenzen im Einmaligen und im Einzigartigen; und genau dies, einmalig und einzigartig, ist auch das Universum als Ganzes - und wäre es ein Multiversum. Eine Letztbegründung der physikalischen Welt mit den Mitteln der Physik bliebe damit doch ein Gedankengebäude, das sein eigenes Fundament gleich mitliefert, und damit eine rationalistische Metaphysik - seit Kant ein für jede Wissenschaft tödlicher Vorwurf. Oder die Konstruktion wäre etwas, das einzelne Sinneserfahrung ins Absolute projiziert und damit nichts anderes tut als das, was die Weltentstehungsmythen aller Völker stets getan haben.
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