Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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NZZ Ressort Literatur und Kunst, 21. Juli 2001, Nr. 167, Seite 73
Biologie des vollkommenen Menschen
Wissenschaft und Ethik im Monistenbund um 1900
Von Helmut Zander
Als der Fortschritt unumkehrbar und dem Menschen alles machbar schien, gründete Ernst Haeckel den Monistenbund. Er lud auf den 11. Januar 1906 Freidenker und Freireligiöse in sein Zoologisches Institut an der Universität Jena, und die Avantgarde der populären Wissenschaftsvermittler kam: Wilhelm Bölsche, der dem literarischen Naturalismus eine Programmschrift über «Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie» vermacht hatte, Raoul Francé, Mitglied im «Ehren- und Freundesrat» der naturkundlichen Zeitschrift «Kosmos», oder der liberale Bremer Pastor Albert Kalthoff, den sich die versammelten Herren zum Vorsitzenden erwählten - um, so Haeckel, die Unerlässlichkeit der «Religion in den Grenzen der reinen Vernunft» innerhalb der «wahren Naturerkenntnis» zu unterstreichen.
Spiritus Rector war jedoch Haeckel selbst. Er hatte 1899 mit seinem Buch «Die Welträthsel» (das präziser «Die Lösung aller Welträtsel» hätte heissen müssen) die Aufklärung der Geheimnisse des Lebens verkündet und damit den «Koran des Monismus», wie seine Gegner spotteten, offenbart. Nachdem Haeckel 1904 auf dem internationalen Freidenkerkongress in Rom die Weihen als «Gegenpapst» einer wissenschaftlichen Weltanschauung erhalten hatte, war er zum Oberhaupt der deutschen Monistengemeinde prädestiniert. Er blieb, bis der Chemiker und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald 1911 den Vorsitz übernahm, der zentrale Referenzpunkt der heterogenen deutschen Monisten.
ALLE ANTWORTEN
In Haeckels Werk fanden die Monisten die Antworten auf alle Fragen, die die Naturwissenschaften der Kultur um 1900 diktierten. Woher stammt das Leben? Es schafft sich aus anorganischer Materie in der «Autogonie oder Selbsterzeugung». Und der Mensch? Entsteht aus dem Urschlamm und zählt, wie Haeckel mit feinem Gespür für die Verletzlichkeiten wilhelminischer Bürger hinzufügte, den Affen zu seinen unmittelbaren Vorfahren. Gott? Ein «gasförmiges Wirbeltier». Der «Dualismus» von Geist und Materie sei im Monismus aufgehoben. Haeckel verstand sein Werk als Grabrede auf das cartesianische Zeitalter, diese - in seinen Augen - Missgeburt des theologischen Denkens.
Dabei war allerdings die Schere zwischen naturwissenschaftlicher und kultureller Vernunft aufgesprungen. Die monistische Deutung der Kultur als Epiphänomen der Natur hatte ein Unterordnungsverhältnis hergestellt, in dem die Gesellschaft ihres Geistes beraubt worden war. In der Eindeutigkeit des Faktischen gab es keine Hermeneutik mehr. Interpretation hatte vor dem Richterstuhl des empirischen Beweises nur mehr den Rang einer aufklärungsbedürftigen Meinung. Um die Freiheit des Verstehens war es geschehen. Zwingende Konsequenzen sah Haeckel vor allem von der Evolutionslehre ausgehen, der durch eine unscheinbare Drehung ein sozialdarwinistisches Anwendungsprogramm entstieg: Entwicklung wurde zu «Fortschritt» überhöht, und «die» Wissenschaft zu einem Aufklärungsunternehmen, das nur eine Richtung wies: nach oben. Dass die Lösung von Rätseln zugleich die Fragen exponentiell vermehren oder Unsicherheit sozusagen kreative Vorzüge haben könnte, lag jenseits der von Haeckel zur totalen Welterklärung aufgespreizten Wissenschaft.
Aber Haeckels Monismus wurde nicht nur durch die Erledigung aller Rätsel aller Zeiten populär, sondern mehr noch durch das Angebot, komplexe Theorien «einsichtig» zu machen: Haeckel, der Augenmensch, hatte schon seine wissenschaftlichen Werke mit atemberaubend schönen Illustrationen von Mikroorganismen ausgestattet, in seinen populären Schriften illustrierten «Stammbäume» den Weg vom Einzeller in den Wurzeln zum Menschen in der Baumkrone, und in grossen Tafelwerken blätterte Haeckel die Schau der «Lebenswunder» auf. Diese «eidetische» Verklärung war ein genialer Kunstgriff für den Weg der Wissenschaft vom Reagenzglas in die Herzen der Menschen. Wo die bilderstürmerische Molekularbiologie den Menschen in Atome zertrümmerte, liessen sich bei dem grossen Wahrnehmungsregisseur Haeckel die «Kunstwerke der Natur» bewundern.
Allein, in der Gesellschaft gab es auch renitente Ungläubige gegenüber den Verheissungen des wissenschaftlichen Äons. So wurde die Kultur zum Operationsgebiet der Monisten. Haeckel forderte etwa naturwissenschaftlichen Unterricht statt griechischer Vokabeln oder den Umbau von Kirchen in entwicklungsgeschichtliche Museen. Doch politisch blieb der Monistenbund ohne Biss. Ein Grund lag in der sozialdarwinistischen Abschnürung der Wissenschaft, denn der Glaube an den wissenschaftlichen Fortschritt degradierte abweichende Positionen zu Traditionalismen, die im Verlauf der Evolution fast von selbst überholt sein würden. Ein politischer Gegner musste deshalb nicht bekämpft, sondern aufgeklärt und pädagogisch behandelt werden.
Das Abstraktum «Fortschritt» entpolitisierte den Monistenbund weitgehend. Ein demokratisches Engagement, das die Wissenschaftspopularisierer nach der Revolution von 1848 noch in die Politik getragen hatte, war um 1900 zu einem überparteilichen Glauben an die Führung durch die Evolutionsagentur Wissenschaft geworden. Erst mit der Krise der schönen neuen Wissenschaftswelt in den flandrischen Schützengräben erhielt auch der Selbstläufer namens Fortschritt einen Steckschuss, von dem sich die Weltanschauungsproduktion seitens der Biologie in Deutschland erst am Ende des 20. Jahrhunderts wieder erholte.
ETHIK
Doch lange vor dieser Apokalypse des Fortschritts hatte Haeckel geglaubt, die Eindeutigkeit seiner biologischen Theorien in ethische Programme umsetzen zu können, ja zu müssen. Bei der Lösung der Welträtsel gab es die Antworten auf die existenziellen Fragen inklusive.
Dieses Überlegenheitsgefühl der biologischen Anthropologie um 1900 versteht man nur, wenn man kurz innehält und sich die revolutionäre Beschleunigung von Erkenntnissen vor Augen hält, die im Abstand weniger Jahre das Wissen ins Innerste des Körpers vorantrieben: In den 1860er Jahren setzte sich die Einsicht in die zellulare Struktur des Organischen durch; 1871 postulierte Friedrich Miescher, im Protoplasma, nicht mehr in der Zelle habe das Leben seinen Sitz; vier Jahre später realisierte Oscar Hertwig, dass die Befruchtung in der Verschmelzung von Ei und Samenzelle bestand.
Aber schon 1884 schieden mit der Entdeckung der Chromosomen die Geschlechtszellen als letzte Instanzen der Fortpflanzung aus, ehe die Zytologie 1900 mit der Entdeckung der genetischen Strukturen die traditionelle Biologie in Biochemie verwandelte. Die Einlösung der im Umfeld dieser Forschungen gemachten Heilungsversprechen liess nicht auf sich warten. Die Entdeckung der Erreger von Milzbrand (1876), Tuberkulose (1882) und Cholera (1883) etwa machte mit einem Schlag jahrtausendealte Geisseln der Menschheit besiegbar. Die Vision eines Lebens, in dem Krankheiten weitgehend kontrollierbar sein würden, schien nicht zu hoch gegriffen.
Man muss sich die realen Fortschritte ins Gedächtnis rufen, um die virtuellen Konsequenzen zu verstehen, die Haeckel für die Ethik forderte: das Glück der Gesellschaft als Recht auf einen mehr als gesunden, auf einen vollkommenen Menschen. An den Grenzen des Lebens forderte er, dem Fortschritt unter die Arme zu greifen: Eine Abtreibung sei dabei problemlos, weil der Embryo «eine reine Reflexmaschine ist, gleich einem niederen Wirbelthiere». Wer etwas anderes behaupte, müsse ja gleich den Embryo mit unter «Rechtsschutz» stellen. Auch «die Tötung von neugeborenen verkrüppelten Kindern» könne «vernünftiger Weise gar nicht unter den Begriff des Mordes fallen, wie es noch in unseren modernen Gesetzbüchern geschieht. Vielmehr müssen wir dieselbe als eine zweckmässige, sowohl für die Betheiligten wie für die Gesellschaft nützliche Massregel billigen.» «Geisteskranke», die in zivilisierten Gesellschaften zunähmen, würden, so wiederum Haeckel, zu einer Belastung für die Gesunden in der Gesellschaft und insbesondere für die Familien: Welche «Schmerzen und Verluste» - damit meinte Haeckel «Privatvermögen und Staatskosten» - «könnten gespart werden, wenn man sich endlich entschliessen wollte, die ganz Unheilbaren durch eine Morphium-Gabe von ihren namenlosen Qualen zu befreien»! «Die Todesstrafe für unverbesserliche Verbrecher und Taugenichtse» sei «nicht nur gerecht, sondern auch eine Wohlthat für den besseren Theil der Menschheit»; dadurch würde einem nicht nur «der Kampf ums Dasein erleichtert, sondern auch ein vortheilhafter künstlicher Züchtungs-Prozess ausgeübt, indem jenem entarteten Auswurfe der Menschheit die Möglichkeit benommen würde, seine verderblichen Eigenschaften durch Vererbung zu übertragen». Und die Euthanasie hielt Haeckel bei unheilbarer Krankheit und der Bitte um den Tod für so rechtens wie den Gnadentod für «treue Hunde und edle Pferde».
Der letzte Grund dieser Erlösungsvorschläge aus dem Geist der Biologie war die Metaphysik des Fortschritts. Es liege nämlich «ein höherer Trost in dem Gedanken, dass es durchschnittlich der vollkommnere und veredeltere Mensch ist, welcher den Sieg über die anderen erringt, und dass das Endergebnis dieses Kampfes der Fortschritt zur allgemeinsten Vervollkommnung und Befreiung des Menschgeschlechts, zur freien Selbstbestimmung des menschlichen Individuums unter der Herrschaft der Vernunft ist».
Mit seiner eugenischen Viehzüchterlogik sprach Haeckel sicher nicht für alle Monisten, artikulierte aber die weitverbreitete Wissenschaftseuphorie um 1900. Kulturelle Grenzen des Machbaren, philosophische oder theologische Abschrankungen des Fortschritts galten ihm als bocksfüssige Geister aus der Zeit des «dualistischen Aberglaubens». Man wird Haeckel nicht als barbarischen Frankenstein stigmatisieren, der böswillig Menschen zu Zellverbänden erniedrigte und sie zur Vervollkommnung freigab. Haeckel zog nur die Konsequenzen seiner «monistischen Sittenlehre», in der der Mensch mit der wissenschaftlichen Entwicklung Schritt halten muss.
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