Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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NZZ Ressort Literatur und Kunst, 21. Juli 2001, Nr. 167, Seite 73
Ideologische Artenvielfalt
Alte und neue Darwinismen
Von Helmut Mayer
Charles Darwin verwies an hervorgehobener Stelle darauf, dass ihm die Bedeutung des Mechanismus der natürlichen Auslese erst bei der Lektüre von Malthus' «Essay on the Principle of Population» aufgegangen sei: Der Kampf ums Überleben sei eine «Anwendung der Malthus'schen Doktrin auf das Ganze der animalischen und pflanzlichen Naturreiche». Vor diesem Hintergrund verliert die Anmerkung von Engels, die Darwin'sche Theorie sei «einfach die Übertragung der Hobbe'schen Lehre vom bellum omnium contra omnes und der bürgerlich-ökonomischen von der Konkurrenz sowie der Malthus'schen Bevölkerungstheorie aus der Gesellschaft in die belebte Natur», etwas von ihrem kritischen Salz. Schliesslich war sie auf Entlarvung angelegt: Darwin wisse gar nicht, welche «bittere Satire» auf die von seinen englischen Zeitgenossen so gepriesenen Zustände des freien Wettbewerbs und der harten Konkurrenz er geschrieben habe, indem er ebendiese als solche des Naturzustands präsentiere.
POLITISCHE PROGRAMME
Um Übertragungen ging es zweifellos, doch lässt sich Darwins Aufnahme kurrenter Vorstellungen der liberalen Ökonomen auch als umsichtige Strategie verstehen: Wenn der Rückgriff auf eine planende Instanz (vom Gott der Gläubigen zu schweigen) endgültig kassiert werden sollte, dann lag nichts näher als der stützende Verweis auf die emergenten, hinter den Rücken der Subjekte sich einstellenden Ordnungen, auf welche die Theoretiker des Marktes bereits setzten.
Die Evolutionstheorie der Arten setzte sich auf jeden Fall trotz vielen heiklen und offen gelassenen Problemen, die Darwin generell eingestand, überraschend schnell durch. Doch die Wirkung in die Breite war so durchschlagend, dass sie Darwin zunehmend unheimlich wurde: Hatte er mit seiner Rede vom «survival of the fittest» an das Weltbild des viktorianischen Bürgertums angeschlossen, so wurde im Gegenzug seine Theorie bedenkenlos in die Schemata ursprünglich geschichtsphilosophisch gestützter Fortschrittsideologien gezwängt.
Schon zu Lebzeiten Darwins bekam dadurch die «natürliche Selektion» einen deutlich überhöhten Stellenwert. Gleichzeitig wurde die Rede von einer beständigen Höherentwicklung und Vervollkommnung der Organismen - die naturhafte Entsprechung der geschichtsphilosophischen Perfektibilität - gängige Münze. Obwohl von einer absoluten Tendenz zum Fortschritt, wie Darwin sich schon früh notiert hatte, gar keine Rede sein kann: Alle Adaptationen sind räumlich wie zeitlich strikt lokale Anpassungsleistungen.
Es hat einen fast komischen Effekt, wenn man die historischen Inanspruchnahmen des «Darwinismus» durch verschiedene politische Programme Revue passieren lässt, die sich damit ebenso auf die «Natur» wie auf ein ihr verpflichtetes wissenschaftliches Weltbild beriefen. Mit Darwin konnte, wie es bevorzugt in England der Fall war, der Status quo verteidigt werden, samt Hinweis darauf, dass allenfalls stetige kleine Verbesserungen, aber keine Revolutionen naturgemäss und also zweckvoll seien. (Nur im Kontext kolonialer Eroberungen musste man manchmal mit Gewalt dafür sorgen, dass sich die höheren Rassen auch tatsächlich durchsetzten.) Die deutschen Liberalen und Republikaner setzten demgegenüber auf Umwälzung, Weiter- und Höherentwicklung als natürliches Gesetz. Das blieb nicht ohne Einfluss auf die sozialdemokratische Aneignung Darwins als Gewährsmann eines aufklärerischen Materialismus. Worauf von konservativer Seite repliziert wurde, gesellschaftliche Hierarchien brächten nur das natürliche Gesetz zum Ausdruck, dass die «Tüchtigeren» eben Vorteile gewinnen - und auch gewinnen müssten, wenn die Gesellschaft nicht insgesamt verlieren sollte.
Auch die lange wogende Debatte über die Vererbung erworbener Eigenschaften war entsprechend politisch aufgeladen: Gab es eine Vererbung, konnte die Verbesserung der Lebenslage der Arbeiter als Investition in die stetige Hebung der Klassenlage und damit für den Fortschritt zur besseren Gesellschaft insgesamt angesehen werden. Als sich abzeichnete, dass dieser Lamarckismus nicht zu halten war, kam prompt noch eine andere Position ins Spiel: Sie optierte etwa dafür, das Erbrecht abzuschaffen, um jede Generation unter gleichen Bedingungen antreten und auf solche Art die unverzerrte, natürliche Rangabstufung sich herstellen zu lassen.
Das entsprechende Spiel, aus dem Zylinder der «Natur» hervorzuzaubern, was weltanschaulich jeweils ins Konzept passt, ist auch heute noch durchaus beliebt und geht selten ohne Berufung auf evolutionäre Prinzipien ab. Trotzdem zeigt der Vergleich mit den angeführten historischen Beispielen der Indienstnahme von Darwin gleich die entscheidenden Unterschiede. Es geht längst nicht mehr um eine fundamentale Kategorie des Fortschritts und klar geschiedene politische Weltanschauungen. Statt eine Fortschrittsideologie mit dem Schein des Naturhaften auszustaffieren, bestätigen neuere Darwinismen, dass der Sinn von Geschichte dispensiert bleiben kann. Anders formuliert: Die biologische Gattung ist eben kein Subjekt einer Fortschrittserzählung.
Die weltanschaulichen Verwendungen der in Leitfunktion aufgerückten Biologie sind, so könnte man es formulieren, konkreter und kleinteiliger geworden: Empfehlungen zur Selbstauslegung des Menschen aus der Naturwelt. Die politische Verrechenbarkeit ist gegenüber einer grundlegenderen, übergreifenden Tendenz zur Naturalisierung in den Hintergrund getreten. «Naturalisierung» meint dabei, den Menschen als Naturwesen ins Auge zu fassen, zusammen mit der nachdrücklichen Betonung, dass dies letztlich zur vollständigen Beschreibung bzw. Rekonstruktion unserer Weltbewältigung hinreichen muss.
UNIVERSALER ALGORITHMUS
Die Evolutionstheorie hat dabei einen zentralen Stellenwert, genauer die Evolutionstheorie, so wie sie ein «universaler Darwinismus» reformuliert, der mit der Biologie der «working scientists» nur ziemlich lose verknüpft ist: Von der in den siebziger Jahren auf den Plan tretenden «Soziobiologie», die mittlerweile von der «evolutionären Psychologie» beerbt wurde, über die Karriere des «selfish gene» bis zu einer «darwinisierten» Kulturtheorie von konkurrierenden «Memen» - um einige hervorstechende Beispiele zu nennen, in denen sich die Berufung auf Darwins grundlegende Einsicht in den Prozess der natürlichen Selektion als denkbar allgemeine Matrix für naturalistische Perspektiven präsentiert.
Aus der Idee der Adaptation von Organismen via Selektion von genotypisch zufallsmutierten Phänotypen wird dabei ein universaler Mechanismus. Im ersten Schritt wird er auf alle organischen Eigenschaften in einem halbwegs handfesten Sinn ausgeweitet, dann konsequent auf alle Eigenschaften und Verhaltensweisen ausgedehnt, bis er schliesslich als «universaler Algorithmus» postuliert und tendenziell zur unhintergehbaren Basis aller Erklärungsansprüche wird. Mit den Worten des amerikanischen Philosophen Daniel Dennett: «Weil es sich um die Idee von einem algorithmischen Prozess handelt, der als solcher indifferent ist gegenüber den verschiedenen Substraten, erlaubt er die Anwendung auf einfach alles . . . einschliesslich alle Errungenschaften der menschlichen Kultur - Sprache, Kunst, Religion, Ethik, Wissenschaft selbst.»
Von der Biologie her gesehen, baut dieser «Ultra-Darwinismus», wie ihn Kritiker getauft haben, auf beherzte Verallgemeinerungen von vereinfachenden Konzepten wie das «genetische Programm» und die einsinnige genetische Determination von Entwicklungsprozessen, deren Unangemessenheit mittlerweile offen liegt. Unter biologischem Gesichtspunkt ergibt ein «Gen für X» im Allgemeinen keinen Sinn, und das «selfish gene», das sich einen Organismus bloss zu Testzwecken seiner Fitness als Überlebensmaschine zulegt, hat weder mit dem Genom noch mit den Organismen der Biologen sehr viel zu tun. Vielmehr ist inzwischen das Konzept des Gens selbst problematisch und unscharf geworden.
Der Attraktionskraft des «gene talk» hat das noch nicht besonders geschadet. Das mag daran liegen, dass Metaphern wie «Text», «Programm» und «Informationstransfer» inzwischen einfach zu gut verankert sind, auch in ökonomischen und therapeutischen Naherwartungen. Die Beharrungskraft des Ultra-Darwinismus im Feld populärer Darstellungen und diverser «Anwendungen» der Evolutionstheorie hat aber eher damit zu tun, dass er die Biologie ohnehin schon hinter sich gelassen hat. Das ist nur konsequent, bedenkt man die Reichweite seiner Erklärungsansprüche, insbesondere bei Annäherung an seine universelle «algorithmische» Gestalt. Gleichzeitig wird klar, dass dieser universale Darwinismus über jede empirische Theorie noch so grosser Allgemeinheit hinausgeht, oder anders formuliert: Er gibt die selbst nicht mehr direkt testbaren Rahmenbedingungen für ein Bild der Welt unter naturalistischer Perspektive.
Zu ihm gehört dann auch, folgt man Dennett und einigen neueren Autoren, eine naturalisierte Theorie der kulturellen Entwicklung in Form der Selektion unter «Memen». Wie wackelig auch die Ontologie dieser kulturellen Selektionseinheiten ist, die sich in unseren Köpfen vermehren, und wie schief die Parallelführung mit der genetischen Selektion sein mag: Die Pointe dieses Ansatzes liegt darin, dass die Meme durchaus unabhängig von genetisch-biologischen Erfolgskriterien anzusehen sind. Die Universalisierung eines Selektionsalgorithmus bricht gerade den genetischen Determinismus, wie ihn die «evolutionäre Psychologie» mit ihren phantasievollen Geschichten von einstmals in der Gattungsgeschichte errungenen adaptativen Vorteilen immer noch mit sich schleift. Die Vorstellung, dass die kulturelle Evolution von den Genen «am langen Zügel» geführt werden könnte, ist damit nicht länger zu halten.
Ein «universaler Darwinismus», wie eigenartig er sich von biologischer Seite ausnehmen mag, hält auf diese Weise zumindest die gängigen weltanschaulichen Indienstnahmen Darwins auf Distanz. Er verzichtet dabei auf manchen Reiz naturalisierender Ernüchterung, die mit der Erinnerung an die Naturbasis des Kulturwesens Mensch arbeiten. Aber die diversen Darwinismen sind das beste Beispiel, dass sich diese Erinnerungen an die Naturgeschichte ohnehin längst ins Affirmative verkehrt hatten. Vorbei die Zeiten, wo man noch sinnvollen rhetorischen Gebrauch von ihnen machen konnte. Gottfried Benn, der sich auf Ernüchterungen verstand, hat das gut gesehen: «Die Darwinschen Sachen sind mir natürlich bekannt. Aber was nützt das uns, ob sich etwas aus dieser ekelhaften Naturmasse mit Pollen, Insectenkolben, klebrigen Rundungen befruchtet, befliegt, bestreicht oder sonst wie zum Platzen bringt, das ist schliesslich ihre Sache: wir kommen damit nicht weiter. [. . .] Die Erkenntnis über Sie u[nd] Ihre Existenz, die Entscheidung über Ihr Dasein, ohne diese bequemen Rundungen, nimmt Ihnen niemand ab.» Woran sich - naturgemäss - nichts geändert hat.
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