Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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NZZ Ressort Literatur und Kunst, 21. Juli 2001, Nr. 167, Seite 76

 

Nimmt uns die Neurowissenschaft unsere Freiheit?

Selbstbild und Wissenschaft im Wechselspiel

Von Michael Pauen

Was heisst es für das Selbstverständnis von Personen, wenn die Hirnforschung die Vorstellung zerstört, es gebe eine zentrale Ich-Instanz? - Überlegungen zum Verhältnis von individuellem Weltbild und wissenschaftlicher Empirie.

Seit dem ersten Griff nach dem Apfel vom Baum der Erkenntnis, genauer: seit dessen theologischer Nachbereitung in der biblischen Genesis, verbindet sich mit dem menschlichen Wissenserwerb der Verdacht des Frevelhaften: Versuchen wir nicht doch, in Geheimnisse einzudringen, die uns nichts angehen; schliesst nicht einen Bund mit dem Teufel, wer - wie seinerzeit der Doktor Faust - seiner Neugier freien Lauf lässt? Immerhin: Verglichen mit Adam und Eva, die ihren Vorwitz mit der Vertreibung aus dem Paradies bezahlen mussten, und Prometheus, der an den Kaukasus geschmiedet wurde, wo ihm täglich aufs Neue ein Adler die Leber aushackte, sind die Risiken heutiger Wissenschafter geradezu lächerlich: Sie müssen ihre Haut allenfalls in publizistischen Kämpfen verteidigen.

Diese Auseinandersetzungen haben einen ernsten Hintergrund: Es geht nicht mehr um den Zorn eifersüchtiger Götter, die sich nicht in die Karten schauen lassen wollen. Die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse scheinen vielmehr ganz irdische und noch dazu schwerwiegende Bedrohungen für das menschliche Selbst- und Weltverständnis mit sich zu bringen. Neben der Gentechnologie kommt hier den Neuro- und Kognitionswissenschaften eine besondere Rolle zu. Sie schicken sich an, eben die Prozesse zu entschlüsseln, die den Menschen als ein bewusstes, intelligentes und für seine Handlungen verantwortliches Wesen, kurzum: als eine Person konstituieren.

Entschlüsseln heisst dabei, hochkomplexe Phänomene auf möglichst einfache und gut beherrschbare Mechanismen zurückzuführen. Doch gerade das wird hier zum Problem: Können wir uns noch als verantwortliche Subjekte verstehen, wenn wir erkennen, dass geistige Prozesse auf einfachen Rechenoperationen beruhen, die im Prinzip auch auf Computern zu realisieren wären? Können wir noch für unser Tun zur Rechenschaft gezogen werden, wenn diese Prozesse nicht von uns, sondern durch Naturgesetze determiniert werden, so dass wir niemals anders hätten handeln können?

VERSTEHEN, ERKLÄREN

Es sieht so aus, als könnten die Ergebnisse der Neurowissenschaften zu einer fundamentalen Veränderung unseres Selbstverständnisses und damit indirekt auch unseres gesamten Weltbildes führen. Sie würden damit Einfluss auf einen Bereich gewinnen, der traditionell als die Domäne der Geisteswissenschaften - insbesondere als die der Philosophie galt: «Das theoretische Ziel der Philosophie», so heisst es kurz und bündig in einem gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts erschienenen philosophischen Wörterbuch, «ist, uns eine Weltanschauung zu geben.»

Tatsächlich hatten die empirischen Wissenschaften schon zu jener Zeit begonnen, der Philosophie und den anderen Geisteswissenschaften Konkurrenz auf deren eigenem Territorium zu machen. So beanspruchte die Psychologie die Zuständigkeit für die Logik, und die Psychophysik warf ein begehrliches Auge auf die Ästhetik. Gustav Theodor Fechner etwa misst auf der Suche nach den objektiven Merkmalen des Schönen Büchereinbände, Schokoladentafeln, Schnupftabakdosen und Ziegelsteine. Die Ausbeute ist mager: Das «Wohlgefälligkeitsmaximum» bei Rechtecken, so zeigt Fechner, entspricht etwa dem goldenen Schnitt.

Diese Entwicklung mündet in einer grundsätzlichen wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung, die im Endeffekt zu einer Grenzziehung zwischen den verstehenden, am einzelnen Phänomen orientierten Geisteswissenschaften einerseits und den erklärenden, an allgemeinen Gesetzmässigkeiten interessierten Naturwissenschaften andererseits führt.

Diese Grenzen waren niemals völlig unumstritten, Forderungen nach ihrer Überwindung sind immer wieder laut, Versuche, diesen Forderungen gerecht zu werden, immer wieder unternommen worden - gerade in der Philosophie hat es hier in den letzten Jahren in einzelnen interdisziplinären Projekten auch unverkennbare Erfolge gegeben. Dennoch haben die Geistes- und Naturwissenschafter das vergangene Jahrhundert insgesamt ganz komfortabel diesseits und jenseits dieser nach wie vor existenten Grenze verbracht - vielleicht auch deshalb, weil sie damit vor manchen unbequemen Fragen abgeschirmt wurden.

Aus der Sicht der Geisteswissenschaften wäre jedoch ein Festhalten an dieser Trennung in der gegenwärtigen Situation mehr als unangemessen: Die einmal aufgeworfenen Zweifel an unserem Personenstatus lassen sich nicht dadurch aus der Welt schaffen, dass man den Naturwissenschaften kurzerhand die Zuständigkeit abspricht. Genauso unangemessen wäre es umgekehrt, wollten Philosophen, Literaturwissenschafter und Historiker den Naturwissenschaftern die Wortführerschaft in dieser Debatte überlassen, um sich selbst endgültig vor dem rauen Wind der Tatsachen und Experimente in die geschützten Gefilde des Wahren, Schönen und Guten zurückzuziehen.

Tatsächlich besteht auf Seiten der Geisteswissenschaften kein Anlass zu Resignation: So beeindruckend die gegenwärtigen Erfolge der Naturwissenschaften sein mögen - historisch einmalig ist die Kollision von Empirie und Welt- beziehungsweise Menschenbild keineswegs. Dabei muss man nicht auf Kopernikus und Galilei zurückgreifen. Noch im 18. Jahrhundert ist die Vorstellung weit verbreitet, der Kosmos in seiner Schönheit und Regelmässigkeit sei ein Beweis für die Existenz eines weisen und allmächtigen Schöpfers. Wenn die Naturwissenschaften die Entstehung dieses Wunderwerkes nun auf das Wirken einfacher mechanischer Gesetze zurückführen konnten, dann schien kein Platz mehr für göttliches Eingreifen zu bleiben. Wird hier also kurzerhand die Existenz Gottes widerlegt? Kant, der sich mit dieser Frage in seiner «Allgemeinen Naturgeschichte» befasst, zeigt, dass das Problem verschwindet, wenn man Gott nicht mehr als einen höheren Handwerker begreift, der höchstpersönlich die Planeten geformt und auf ihre Bahn gebracht hat. Viel sinnvoller ist es, ihn als den geistigen Schöpfer der Naturgesetze zu begreifen, die von sich aus die Schönheiten des Kosmos zustande bringen.

Kants Überlegungen lassen erkennen, dass unsere grundsätzlichen Überzeugungen über Gott und die Welt nicht einfach direkt von empirischen Erkenntnissen abhängen. Eine entscheidende Rolle spielen die Begriffe, in denen diese Überzeugungen formuliert werden. Das bedeutet auch, dass uns die Konflikte von Weltbild und Wissenschaft längst nicht immer dazu zwingen, unsere Überzeugungen aufzugeben. Vielfach zeigt sich hier nur eine gewisse Revisionsbedürftigkeit der zugrunde liegenden Begriffe. Deren Überarbeitung kann allerdings nur dann gelingen, wenn dabei auch die relevanten empirischen Entwicklungen berücksichtigt werden. Dazu bedarf es  eines Brückenschlages zwischen philosophischer Reflexion und empirischer Erkenntnis, wie ihn neben Kant auch Descartes und Leibniz betrieben hatten.

BRÜCKENSCHLAG

Anhand der obigen Beispiele lässt sich demonstrieren, wie ein solcher Brückenschlag in der Gegenwart aussehen könnte. Welche Konsequenzen haben also die Erkenntnisse der Neuro- und Kognitionswissenschaften für die Existenz von Subjektivität? Zweifellos hat es hier in den letzten Jahren eine Reihe von wichtigen und zum Teil überraschenden Resultaten gegeben. So ist unsere scheinbar unmittelbare und einheitliche Erfahrung geistiger Vorgänge in Wirklichkeit das Produkt komplexer Interpretations- und Integrationsprozesse. Wird deren normalerweise reibungslos funktionierendes Zusammenspiel gestört, dann kommt es zuweilen zu bizarren Fehlleistungen: Es kann passieren, dass jemand sein eigenes Bein als das eines Fremden ansieht, das ihm ein hinterlistiger Arzt ins Bett gelegt habe; es kann geschehen, dass wir das Gesicht einer uns bekannten Person nicht mehr erkennen, obwohl wir Mund, Nase und Augen noch problemlos identifizieren können. Und wenn das Zusammenspiel zwischen beiden Hirnhälften gestört ist, dann wird uns zuweilen nicht mehr bewusst, was im linken Gesichtsfeld geschieht, dennoch können wir auf diese Geschehnisse reagieren und anschliessend sogar eine - oftmals phantastische - Erklärung für unser Verhalten liefern.

All dies deutet darauf hin, dass es keine zentrale oberste Ich-Instanz gibt, bei der alle Fäden zusammenlaufen und die dabei notfalls offenbare Ungereimtheiten entdecken könnte. Doch heisst das schon, dass damit die poststrukturalistischen Spekulationen über den «Tod des Subjekts» oder ihre populären Trivialisierungen plötzlich durch harte empirische Daten bestätigt werden? Nun - allenfalls dann, wenn man sich auf einen äusserst anfechtbaren Begriff von Subjektivität festlegt, auf die Vorstellung nämlich, dass Subjektivität an eine Art von einheitlichem Ich-Objekt gebunden sei. Vermeidet man diesen Rückgriff auf eine alte Seelenmetaphysik, dann kann hier von Widerlegung keine Rede mehr sein.

Die Ansicht, hier sprächen die «reinen Fakten», ist also naiv. Will man die vorliegenden Ergebnisse richtig beurteilen, dann allerdings muss man einen offenbar unzutreffenden philosophischen Begriff von Selbstbewusstsein durch einen angemesseneren ersetzen. Dazu allerdings bedarf es eines Zusammenspiels von theoretischer Reflexion und empirischer Forschung. Dabei zeigt sich dann, dass Selbstbewusstsein offenbar an die Fähigkeit gebunden ist, zwischen den eigenen Gedanken, Empfindungen und Charaktereigenschaften und den geistigen Zuständen anderer Personen zu unterscheiden. Hierfür sprechen vor allem Untersuchungen an Kleinkindern und Psychiatriepatienten: Wer kein Bewusstsein von den mentalen Zuständen anderer hat, der verfügt nämlich in der Regel auch nicht über Selbstbewusstsein, wer aber diese und einige andere Fähigkeiten besitzt, dem kann man mit Fug und Recht Selbstbewusstsein zuschreiben. Es besteht also kein Anlass dazu, von unserer grundsätzlichen Überzeugung, über so etwas wie Subjektivität zu verfügen, abzurücken.

Eine wesentlich grössere Bedrohung scheint allerdings von dem Problem der Willensfreiheit auszugehen. Es ist schwer zu erkennen, wie noch von Freiheit und Verantwortlichkeit die Rede sein sollte, würde es sich herausstellen, dass unser Handeln gänzlich von neuronalen Mechanismen bestimmt wird. - Also doch eine direkte Abhängigkeit von wissenschaftlicher Empirie und Weltbild? Wohl kaum. Auch hier zeigt sich nämlich bei näherem Hinsehen, dass die Bedeutung objektiver Daten nur auf der Basis bestimmter philosophischer Voraussetzungen beurteilt werden kann, und diese Voraussetzungen sind in vielen Fällen mehr als problematisch. Nehmen wir nur die Vorstellung, Freiheit und naturgesetzlicher Determinismus würden einander prinzipiell ausschliessen. Diese Annahme hatte so lange eine gewisse Berechtigung, wie man die Natur und ihre Gesetze als Werke des göttlichen Schöpfers ansah. Die Naturgesetze waren so etwas wie der verlängerte Arm Gottes, und so lag es umgekehrt nahe, menschliche Handlungen nur dann als frei zu bezeichnen, wenn sie völlig unabhängig von naturgesetzlichen Einflüssen waren.

Tatsächlich sind die Naturgesetze jedoch nur die formalisierten Resultate von Beobachtungen, in denen zusammengefasst wird, wie diese Objekte sich «von sich aus» verhalten - Naturgesetze üben keinen Zwang auf fallende Körper, Planetenbewegungen oder aber die Aktivität von Neuronen im Neokortex aus. Vergessen wird zudem gerne, dass Freiheit nicht nur gegenüber äusserem Zwang, sondern auch gegenüber dem Zufall abgegrenzt werden muss. Kurzum: Freie Handlungen müssen selbstbestimmt sein, und Selbstbestimmung schliesst ganz offenbar die Bestimmung durch den Urheber selbst, durch seine Überzeugungen und Charaktermerkmale ein. Stimmt das, dann können aber auch die neuronalen Prozesse, die den Überzeugungen und Charaktermerkmalen zugrunde liegen, nicht als Einschränkung der Freiheit aufgefasst werden - ganz im Gegenteil: Sie realisieren ja diese Überzeugung und schaffen damit überhaupt erst die Möglichkeit, diese Überzeugung in die Tat umzusetzen.

FREIHEIT UND DETERMINISMUS

Es ist daher mehr als zweifelhaft, ob Freiheit und Determinismus einander ausschliessen. Um beurteilen zu können, ob eine Handlung frei ist oder nicht, müssen wir nicht wissen, ob sie durch irgendwelche Faktoren bestimmt wird. Wissen müssen wir vielmehr, durch welche Faktoren sie bestimmt wird. Das aber heisst nichts anderes, als dass wir uns auch dann nicht als bessere Computer betrachten müssen, wenn die Neurowissenschaften eines Tages unsere Willensbildungsprozesse vollständig auf physische Vorgänge zurückführen könnten - im Übrigen ein Projekt, das mehr als phantastisch ist.

Doch selbst wenn alles oben Gesagte stimmt, heisst das natürlich nicht, dass Subjektivität und Willensfreiheit ein für alle Mal gegen empirische Einwände abgesichert wären. Dennoch zeigen die Beispiele, dass nicht nur unser Weltbild von den Wissenschaften, sondern eben auch die Wissenschaften von unserem Weltbild abhängen. Die wechselseitige Abhängigkeit von Geistes- und Naturwissenschaften setzt dabei ein zunehmend grösser werdendes Mass an wechselseitigem Verständnis in Bezug auf Grundbegriffe, Forschungsprogramme und Ergebnisse voraus. Ein Rückzug hinter die am Ende des 19. Jahrhunderts errichteten Zäune würde dagegen nur einen Freiraum schaffen, den die Katastrophenspekulanten jedweder Couleur allzu gerne okkupierten. Ihre je nach Laune und Bedarf wechselnden Prophezeiungen mögen uns kurzfristig ein wenig mehr Freud und Kurzweil verschaffen als die Ergebnisse einer verantwortungsvollen wissenschaftlichen Auseinandersetzung, doch auch die ist alles andere als langweilig. An interessanten Einsichten dürfte in den nächsten Jahren so oder so kein Mangel sein.

 

 


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