Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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NZZ Ressort Literatur und Kunst, 21. Juli 2001, Nr. 167, Seite 75

 

Kopfgeburten

Über Hirn- und Menschenbilder

Von Michael Hagner

Das menschliche Zentralorgan wird seit geraumer Zeit beforscht und bildlich dargestellt. Die Bilder und die Methoden ihrer Verfertigung unterliegen einem Wandel, in dem sich kulturelle und politische Umstände - direkt oder indirekt - reflektieren. - Ein Rückblick, insbesondere auch auf die Forschung an «Elitegehirnen».

«God in your brain» - mit dieser pantheistisch anmutenden Formel überschrieb «Newsweek» kürzlich eine Titelgeschichte, in der es darum ging, dass Neurowissenschafter nun die biologische Basis für Religiosität im Gehirn verorten wollten. Man kennt Lokalisationsversuche aus dem 19. Jahrhundert, als Phrenologen ein «Gefühl für das Wunderbare» in der vorderen Scheitelgegend gefunden haben wollten. Niemand wird den Hirnforschern, die mit neuesten bildgebenden Verfahren das Gehirn bei der Arbeit untersuchen, vorwerfen wollen, dass sie einer ähnlich zweifelhaften Methode aufsitzen wie die alten Phrenologen, wenn sie Schädel abtasteten und vermassen. Doch das materialistische Weltbild der Phrenologen, die ein grosses Hirnzentrum mit einer ausgeprägten geistigen Eigenschaft oder Fähigkeit gleichsetzten und damit den Menschen auf das Gehirn reduzierten, kehrt zurück mit der Annahme, dass Durchblutungsverstärkungen in bestimmten Hirnregionen Anzeichen für geistige Aktivitäten und Qualitäten seien. Wenn auf diese Weise «Zentren» für Religiosität, Kriminalität, Musikalität, allgemeine Intelligenz oder dergleichen topographisch identifiziert werden sollen, kann man getrost von Cyber-Phrenologie reden.

Die Zusammenhänge zwischen der Hirnforschung des 19. Jahrhunderts und einigen Tendenzen der aktuellen Neurowissenschaften sind vielschichtiger, als es die Verortung der Religiosität im Gehirn nahelegen mag. Deutlich wird das beispielsweise an der Beschäftigung mit Gehirnen von aussergewöhnlichen Persönlichkeiten - Wissenschaftern, Politikern und Künstlern -, bei der die Verschränkung von Wissenschaft und Kultur, von einem anatomischen und physiologischen Zugang zum Zentralorgan und seiner werthaften, symbolischen «Aufladung», besonders eng ist.

Im Jahre 1862, zwei Jahre nachdem Arthur Schopenhauer gestorben war, veröffentlichte Wilhelm Gwinner die erste Biographie des Philosophen. Dem Buch sind zwei Abbildungen beigegeben: zum einen, genregemäss, ein Porträt Schopenhauers, zum anderen, eher ungewöhnlich, eine vergleichende Seitenansicht des Schädelumrisses Schopenhauers im Kreise seiner Kollegen. Der kleinste Schädel ist der eines Kretins, die übrigen gehörten berühmten Persönlichkeiten wie Kant, Schiller, Talleyrand und Napoleon. Diese Köpfe sind mit Bedacht ausgewählt, um Schopenhauers Rang als Genie zu taxieren. Napoleon und Talleyrand werden als praktische Genies präsentiert, als Männer der Macht und des Willens; Kant und Schiller als theoretische Genies, als Männer der Vorstellung und der Vernunft. Die Auswahl soll demonstrieren, dass Schopenhauer von beiden etwas hat, also genau in der Mitte zwischen theoretischem und praktischem Genie zu lokalisieren ist. Für Gwinner liess sich an Schopenhauers Schädel genau das ablesen, was im Zentrum seiner Philosophie stand: «Der Mensch, der nach diesen, freilich unvollkommenen und unsicheren, Daten vor uns steht, war also in der That vorherrschend Wille und Vorstellung.»

IN DER TRADITION LAVATERS

Die Identifizierung von philosophischer Doktrin und Schädel steht in der Tradition der Lavater'schen Physiognomik, die eine Eins-zu-eins-Korrespondenz zwischen dem Innen und dem Aussen, zwischen Persönlichkeit, moralischem Charakter und geistigen Fähigkeiten einerseits sowie der Gesichtskonfiguration andererseits behauptet hatte. Eine solche Korrespondenz von Genialität und Zerebralität wurde auch zum zentralen Topos der sogenannten Elitegehirn-Forschung. Als der Göttinger Physiologe Rudolph Wagner sich Mitte des 19. Jahrhunderts der Gehirne seiner verstorbenen Göttinger Professorenkollegen bemächtigte, darunter das Gehirn des Mathematikers Carl Friedrich Gauss, setzte Wagner alles daran, Unterschiede zu normalen Gehirnen herauszufinden. Die Resultate allerdings waren ernüchternd. Zwar hatte Gauss hinsichtlich der Hirnwindungen ein ausserordentliches Gehirn, aber ihre Form und ihr Arrangement waren nicht spezifisch. Dementsprechend war Wagner mit Schlussfolgerungen sehr zurückhaltend.

Trotz solchen Enttäuschungen kam es im späten 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit den Diskussionen um die Natur des Genies zu zahlreichen Untersuchungen der Gehirne von Gelehrten, Künstlern und Politikern. Vor allem Cesare Lombroso erregte mit der Behauptung Aufsehen, dass es sich bei Genies um ähnliche Degenerationsphänomene handelte wie bei Verbrechern oder Geisteskranken. So konnte Adolf Menzel seinen Namen bereits 1894 in Lombrosos «Entartung und Genie» wiederfinden, und zwar in dem Kapitel «Stigmata der Entartung». Insofern erscheint es verständlich, dass Menzels Angehörige den Berliner Pathologen David Hansemann beauftragten, eine Sektion Menzels «zum Zweck der Untersuchung des Gehirns und etwaiger daran hervortretender Eigentümlichkeiten» vorzunehmen. Hansemann betonte manuelle Geschicklichkeit, Phantasie und das ausgebildete musikalische Verständnis des Malers und meinte dafür Entsprechungen in der Hirnrinde gefunden zu haben, die einem grossen Reichtum der Hirnwindungen entsprächen. Die Familie konnte aufatmen, doch für die Hirnforscher war die Sache damit nicht erledigt. Es liessen sich zwar schöne Erfolge bei der Inspektion einzelner Elitegehirne wie etwa derjenigen von Menzel, Hermann von Helmholtz oder Ernst Haeckel erzielen. Doch jenseits dieser Praxis der Hirnanatomie als Erinnerungskultur stellte sich natürlich die Frage, welche allgemeineren Schlussfolgerungen daraus zu ziehen waren, vor allem, ob es möglich war, die alte physiognomische Idee einer Eins-zu-eins-Korrespondenz in eine individualisierende Physiognomie der Hirnrinde umzusetzen.

Um 1920 schien die Elitegehirn-Forschung an ein Ende zu gelangen, doch dann betrat Oskar Vogt, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung in Berlin, die Szenerie. Schon um die Jahrhundertwende hatte er ein umfängliches, neurobiologisches Forschungsprogramm einer Wissenschaft vom Menschen konzipiert, das zwei neue Aspekte enthielt: erstens die eugenische Idee einer Perfektionierung des Menschen und zweitens die anatomische Methode der Zytoarchitektonik, die von Vogt und seinen Mitarbeitern entwickelt wurde. Beide Aspekte, eugenische Ideologie, die zum Wiederaufstieg Deutschlands nach dem verlorenen Weltkrieg beitragen sollte, und neuroanatomische Methode, führten dazu, dass Vogt, sein Institut und die Elitegehirn-Forschung in der Weimarer Republik ausserordentlich populär waren. Gottfried Benn echote auf Vogts Programm in seinem Essay «Züchtung»: «Gehirne muss man züchten, grosse Gehirne, die Deutschland verteidigen, Gehirne mit Eckzähnen, Gebiss aus Donnerkeil.» Dafür bildeten die zytoarchitektonischen Hirnbilder, die gleichsam die visuelle Evidenz für das eugenische Weltbild zu liefern schienen, eine wichtige Grundlage.

LENINS HIRN

Die Konjunktur dieses Unternehmens ist kaum vorstellbar ohne Vogts virtuose Mobilisierung der Massenmedien, die das Gehirn zu einem öffentlichen Objekt avancieren liess. Zahlreiche populärwissenschaftliche Artikel über Vogts Kaiser-Wilhelm-Institut waren so reichhaltig und wirkungsvoll mit zytoarchitektonischen Hirnbildern und Photographien ausgestattet, dass diese den eigentlichen Text zumeist dominierten. Dass Vogt zudem 1925 von der sowjetischen Regierung beauftragt worden war, Lenins Gehirn zu untersuchen, liess die Verschränkung von Hirnforschung und Höherzüchtung, zerebraler Visualisierung und Weltbild umso enger werden. Trotzkis Vision vom neuen kommunistischen Menschen, der sich im Durchschnitt zum Genie eines Kant oder eines Goethe erheben sollte, war eng mit den Vorstellungen von einer Höherzüchtung des Gehirns verbunden. Auch wenn nicht zu erwarten war, dass das Gehirn innerhalb von ein oder zwei Generationen signifikant komplexer würde, hätte es eine politische und ideologische Katastrophe bedeutet, wenn Lenins Gehirn keine Besonderheiten aufgewiesen hätte.

1931 erschien in der «Kölnischen Illustrierten Zeitung» eine Doppelseite unter dem Titel «Der sezierte Verstand». Den Hauptteil der zweiten Seite des Artikels nimmt eine grosse Photographie ein. Vogt ist ganz auf das Gehirn konzentriert, das ihm vor die Brust gehalten wird. Konzentration und Vorsicht sind angemessen, denn es handelt sich um das Gehirn von August Forel, dem berühmten Schweizer Psychiater, Hirnanatomen, Ameisenforscher, Sexualreformer und Propagandisten, der zu den wichtigsten Mentoren Vogts gehört hatte und im Juli 1931 82-jährig gestorben war. Entsprechend lautet die Bildunterschrift: «Gelehrtengehirne begegnen sich.» Vogts ernsthafter Blick auf das Gehirn und die behutsame Berührung sind gleichsam auch eine Verbeugung vor dem Freund und Lehrer. Die Bildachse der Gelehrtengehirne wird aber noch weiter nach unten gezogen. Verblüffend ist die Ähnlichkeit zwischen Vogt und Lenin: die Halbglatze, der Spitzbart und die zu den Seiten hin nach oben verlaufenden Augenbrauen suggerieren Korrespondenzen, durch die Vogt auf eine Stufe mit Lenin gestellt wird. Die nächste Korrespondenz ergibt sich zwischen Lenins Konterfei und dem daneben placierten anatomischen Präparat, das einen Schnitt durch Lenins Hirnrinde darstellt: ein aussergewöhnliches Hirnbild und eine aussergewöhnliche Persönlichkeit . . . Die Besonderheit von Lenins Hirnbild «erweist» sich in der rechten Kolumne, in der vier Bilder von Schnitten durch die sechs Rindenschichten gezeigt werden: oben der Normalmensch, unten Lenin, in der Mitte eine «schwachsinnige Mörderin» und «das erkrankte asoziale Individuum».

Vogts Glück in der Weimarer Republik war sein Pech in der Zeit des Nationalsozialismus. Unter anderen Vorzeichen wäre diese Art von Forschung für die Naziideologie wohl interessant gewesen, doch dadurch, dass Elitegehirn-Forschung hauptsächlich mit Lenins Gehirn assoziiert war, fiel diese Option aus. In anderen Ländern hatte die Erforschung von Gehirnen bekannter Persönlichkeiten spätestens nach 1920 erheblich an Bedeutung eingebüsst. Das lag zum einen an den dürftigen wissenschaftlichen Resultaten, und zum anderen spielte die Verehrung von Führerpersönlichkeiten in den USA oder in England bei weitem nicht eine ähnlich prominente Rolle wie in Deutschland oder in der Sowjetunion.

Nach einigem Hin und Her wurde Vogt 1936 von seinem Direktoratsposten abgesetzt. Er konnte mit Hilfe der Krupp-Familie im Schwarzwald ein neues privates Institut aufbauen. Damit war er aus der Öffentlichkeit verschwunden. Allerdings hielt Vogt an seiner Doktrin ein Leben lang fest, wie aus seinen Äusserungen in den fünfziger Jahren hervorgeht. Doch stand er dann damit weitgehend allein: Die Zytoarchitektonik sollte sich als eine dauerhafte Technik zur Kartierung der Hirnrinde erweisen, die Architektonik als Methode aber, geistige Vermögen zu lokalisieren und eine individuelle Physiognomik zu etablieren, die Genies und Verbrecher identifizierte, war - ähnlich wie die Eugenik - an einem vorläufigen Endpunkt angelangt.

DAS GEHIRN ALS COMPUTER

In den vierziger Jahren hatte sich ein neues Paradigma in der Hirnforschung entwickelt, das in so ziemlich jeder Hinsicht das Gegenteil von Vogts Entwurf bedeutete: Es war nicht auf Hirnstrukturen, sondern auf Funktionen konzentriert; es war nicht an individuellen Merkmalen interessiert, sondern an allgemeinen Gesetzmässigkeiten des Denkens, Wahrnehmens und Handelns. Dieser cognitive turn assoziierte das Gehirn mit einem Computer. Eine zentrale Frage lautete: Nach welchem Algorithmus funktioniert das Gehirn, und wie lassen sich Gehirnfunktionen elektronisch simulieren? Das hatte die zumindest damals nicht weiter beunruhigende Konsequenz, dass Emotionen, Selbstbewusstsein und soziales Verhalten mehr oder weniger ignoriert wurden.

So wurde das Gehirn in einem wörtlichen Sinne entkörperlicht und isoliert. Entkörperlicht, weil die morphologische Struktur mit allen chemischen Stoffen und Prozessen hinter das digitale On-off-Prinzip zurücktrat, dem die Funktionsweise der Nervenzellen entsprach; isoliert, weil das übliche Milieu, in dem ein Gehirn «funktioniert», nämlich der Körper, ausgeblendet wurde - sei es, dass man ihn ignorierte, sei es, dass man das kontingente und störende Körpergeschehen gezielt ausschaltete.

Mit der «Computerisierung» des Gehirns verbunden war die vorläufige Verabschiedung einer an der Physiognomik orientierten Visualisierung des Gehirns. Nicht dass es in den fünfziger und sechziger Jahren keine Abbildungen von Gehirnen gegeben hätte, aber um (psycho-) physiologische Prozesse zu repräsentieren, bediente man sich anderer Bilder. So entstanden Nervenmodelle als Schaltpläne, die sich von einer Maschine nicht unterschieden und auch nicht unterscheiden sollten. Der Umschlag des 1982 erschienenen Buches «Das Ich und sein Gehirn» von Karl Popper und John C. Eccles enthält weder eine Grafik noch ein Bild, sondern nur Schrift. In dem gesamten Buch findet sich keine einzige Photographie. Vermutlich handelt es sich hierbei nicht bloss um Resultate des ästhetischen Geschmacks von Buchgestaltern. Sie entsprechen vielmehr einer antiphysiognomischen Tendenz und einer gewollten Phantasielosigkeit der Hirnforscher im Umgang mit realistisch wirkenden Bildern vom Gehirn.

In der Wissenschaftsforschung ist es längst kein Geheimnis mehr, dass visuelle Repräsentationen wissenschaftlicher Gegenstände und Phänomene - Bilder, Photographien, Tabellen, Statistiken, grafische Verfahren usw. - mehr sind als blosse Illustrationen. Bruno Latours lakonischer Bemerkung, dass Wissenschafter sehr wohl über Theorien, Methoden oder Paradigmen verfügen mögen, diese aber ohne entsprechende Ressourcen wie die eben genannten kaum wirksam zur Geltung kommen, wäre hinzuzufügen, dass die Visualisierung zerebraler Prozesse durch abstrakte Schaltpläne eine andere Vorstellung vom Gehirn voraussetzt und transportiert als ein computergesteuertes Hirnbild. Ein Beispiel hierfür ist der historisch variable Blick auf das Gehirn von Albert Einstein.

NEUERE TENDENZEN

«Einsteins Gehirn ist ein mythisches Objekt.» Mit diesem Satz eröffnet Roland Barthes seinen berühmten Essay aus den fünfziger Jahren. Wenn Barthes davon redet, dass Einstein von der Psychologie losgelöst und in eine Welt der Roboter versetzt wird, liegt der Mythos von Einsteins Gehirn darin begründet, dass es kein Geheimnis gibt. Einsteins Denken wird damit zu einer Art funktioneller Arbeit umgedeutet, die sich nahtlos in das Computer-Paradigma der Zeit einfügt. Die Korrespondenz zwischen der Hirnstruktur und dem Träger des Gehirns ist irrelevant. Es zählt einzig die «kybernetische Komplexität» dieses Organs. In der Verschaltung von Hirnfunktion und Mechanik, Computer und Kybernetik wird das Gehirn als Organ zum Verschwinden gebracht. Selbst wenn Barthes die Instrumentalisierung von Einsteins Gehirn kritisiert, bewegt er sich doch ganz in dem Denkraum eines entindividualisierten und entkörperlichten Verständnisses vom Gehirn.

Für die Neuroanatomen jener Zeit war Einsteins Gehirn wenig interessant. Selbst wenn sie das Gehirn zur Verfügung gehabt hätten, wäre es kaum zu einer Wiederbelebung der Elitegehirn-Forschung des frühen 20. Jahrhunderts gekommen. Erst in den letzten Jahren hat sich die Situation wiederum verändert, und das hat in erster Linie mit den neuen bildgebenden Verfahren zu tun, die die Hirnforschung erheblich beflügelt haben. So neuartige Einblicke die Hirnbilder auch gewähren, so wenig man auf ihre klinisch-diagnostischen Potenziale verzichten möchte, so massiv kehren auch die Vorstellungen, Konzepte und Visionen aus der Zeit vor der «Computerexistenz» des Gehirns zurück. Auch Einsteins Gehirn ist in diesem Zusammenhang wieder populär geworden, weil einige Neurowissenschafter sich erneut für Elitegehirne interessieren. Ohne die neuen Visualisierungstechniken, in denen geistige, «mentale» Zustände als Gehirnzustände definiert werden, wäre das kaum denkbar.

Die bisher erzielten Resultate - etwa: dass die Parietallappen bei Einstein besonders entwickelt waren - passen problemlos in die Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts. Insofern scheint es keine allzu hoffnungsvolle Zukunft für Einsteins Gehirn und wahrscheinlich für kein einziges Gehirn im Glas zu geben. Doch es ist sehr wohl möglich, dass Gehirne von aussergewöhnlichen Menschen in der Neuropsychologie eine gewisse Rolle spielen werden. Es gehört keine prophetische Gabe dazu, um vorauszusagen, dass das nur der Anfang einer Cyber-Phrenologie ist, in der die Grenzen zwischen Forschungsarbeit und populärer Repräsentation, zwischen Wissenschaft und Kunst bisweilen verwischen. Deutlich wird das an heutigen Visualisierungen des Gehirns im Kopf, womit nicht nur in schematischer Weise auf die Lokalisation der Funktionen abgezielt wird. - So  haben zwei Pioniere des neuro-imaging - Michael Posner und Marcus Raichle - in aller Unbescheidenheit die neuen Visualisierungstechniken mit der Bedeutung des Mikroskops und des Teleskops auf eine Stufe gestellt. Mit dieser historischen Einbettung wird suggeriert, dass hier eine ganz neue Welt erschlossen werde, eben die des Gehirns bei der Arbeit. Im Gegensatz zu den Phrenologen und zu Vogt, die ein totes Stück Schädel oder Hirn untersuchten, betrifft die neue Visualisierung des Gehirns in vivo einen Vorgang, den wir selbst als «Ich denke» erleben und bezeichnen können. Posner und Raichle spekulieren selbst über neuronale Muster, die so einzigartig sind wie ein Fingerabdruck. Konsequenterweise halten sie es für möglich, dass die Neurowissenschaften irgendwann schlummernde Talente in den verschiedenen Gehirnen aufspüren, um mitzuhelfen, diese Talente optimal zu entfalten.

Möglicherweise erweist sich ein solches Programm als naiv und undurchführbar. Es wäre nicht das erste Mal. Doch die Wünsche, Hoffnungen und Deutungsmuster, die hier verhandelt werden, sind viel älter, als es manchen Neurowissenschaftern bewusst sein mag. Sie verweisen auf ein Bild des Menschen, das diesen auf ein bestimmtes Segment der Wirklichkeit, sei es das Gehirn oder das Gen, die Evolution oder soziokulturelle Codes, festlegen will. So unterschiedlich diese Fixierungen sein mögen, sie alle sind Ausdruck einer der stärksten und zweifelhaftesten Obsessionen des Menschen: Weltbilder zu verfertigen.

 

 


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