Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

Beschreibung und Würdigung der Leidener Aratea

 

Aratea Leiden, Bibliothoek der Rijksuniversiteit Ms. Voss. Lat. Q. 79 Lotharingien, um 830-840

Inhalt u.a.: Fol. 2r - 92r lateinische Versbearbeitung der "Phainomena" des Aratos (um 310 - um 245 v. Chr.) durch Claudius Caesar Germanicus (15 v. Chr. - 19 n. Chr.) mit Ergänzungen aus der Bearbeitung des Rufius Festus Avienus (4. Jh. n. Chr).

Schmuck: Ursprünglich mindestens 44 Miniaturen: Darstellung des Zeus als Personifikation des Himmels, von 38 Sternbildern, Sonne und Mond, 5 Planeten, 4 Jahreszeiten sowie des Planetariums. Deckfarbenmalerei, Sterne in Gold. Vier Blätter bereits vor 1600 herausgeschnitten.

Entstehungsgeschichte: Die Handschrift gehört zu einer Gruppe von karolingischen Prachtkodizes, deren Skriptorium im 2. Viertel des 9. Jahrhunderts in Lotharingien (Aachen-Metz) zu suchen ist. Als Auftraggeber der Aratea kommt der kaiserliche Hof Ludwigs des Frommen (813 - 840) und dessen zweiter Gemahlin Judith (819 - 843) in Frage, als Kompilator und Koordinator von Bild und Text kann man an einen Gelehrten wie den "Astronomus" denken, der als Verfasser der "Vita Hludovici imperatoris" bekannt und seit 814 am Hof Ludwigs bezeugt ist. Er berichtet in Kap. 58 der Vita im Zusammenhang mit der Erscheinung eines Kometen im Jahre 837 von seiner astronomischen Sachkenntnis. In jene Jahre etwa dürfte die Entstehung der Aratea fallen. Sie ist, nach Schrift und Bildern geurteilt, eines der eindrücklichsten Zeugnisse der karolingischen Renaissance, die sich in Dichtung, Kunst und Wissenschaft die Wiederbelebung der römischen Antike zum Ziel setzte. Das am besten vergleichbare Werk ist der kurz nach 843 anzusetzende Psalter Kaiser Lothars I. (840 - 855), Add. Ms. 37768 der British Library, London, mit seinen Kaiser-, David- und Hieronymusbildern. Sitz des Hofes war damals wieder Aachen.

Erstaunlich und bewundernswert ist die Naturnähe der Miniaturen, die durch den Rahmen in Minium zu selbständigen Bildern werden. Sie sind also keine lllustrationen zum Text, nein, der Text dient zu ihrer Erklärung. Das bedachte der Planer der Handschrift und ergänzte die Verse des Germanicus zu jenen Bildern, bei denen sie für eine Erklärung nicht ausreichten, mit Zeilen aus Avienus. Die dem Bild den Vorzug einräumende Auffassung erscheint gegenüber der antiken Buchtradition neu. Klassische Handschriften wie Cod. Lat. 3225 der Biblioteca Apostolica Vaticana, der im frühen 5. Jahrhundert in Rom entstandene Vergilius Vaticanus, bringen zwar ebenso mit Miniumstreifen gerahmte Bilder, doch stehen sie noch wie Schaufenster im Ablauf des ebenso in Capitalis rustica geschriebenen Textes, der dem Leser dadurch gleichsam eine Pause zum Sehen gönnt.

Die Lebensdaten des in den Jahren um 340 und 345 als römischer Prokonsul bekannten Avienus führen uns noch einmal nach Rom, in die Ära der Päpste Liberius (352 - 356) und Damasus (366 - 384) sowie zu Furius Dionysius Filocalus, der im Jahre 354 jenen mit Planetengöttern und Monatsdarstellungen bebilderten römischen Staatskalender schuf, von dem am karolingischen Hof etwa gleichzeitig mit der Aratea eine heute leider verschollene Kopie erstellt wurde. Die Monatsdarstellungen auf dem Planetarium fol. 93v der Aratea konnte schon Thiele als Kopien nach jenem Kalender erkennen.

Vorbesitzer: Erste Spuren der Handschrift führen um das Jahr 1000 in das nordfranzösische Kloster Saint-Bertin in Saint-Omer, wo sie, wie Ms. 188 der Bibliothèque municipale zu Boulogne bezeugt, kopiert wurde. Ms. 88 der Berner Burgerbibliothek ist andererseits eine Kopie der Handschrift in Boulogne. 1573 kaufte sie der Humanist Jacobus Susius in der Werkstatt eines Malers in Gent. Um 1600 wurde sie dem späteren Rechtsgelehrten und Humanisten Hugo Grotius (1583 - 1645) zugespielt. Er beauftragte den Kupferstecher Jacob de Gheyn (1565 - 1629) mit der Edition der Bilder. Die Bibliothek des Grotius erwarb Königin Christina von Schweden (1626 - 1689). Nach ihrer Konversion zum katholischen Glauben 1654 gelangte das Buch in den Fundus ihres Bibliothekars Isaac Vossius (1618 - 1689) und mit dessen Bibliothek 1690 in die Leidener Universitätsbibliothek.

 

 
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