Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

Philosophie und Theologie

Aratea ist der Sammelname für das grosse Gedicht des Griechen Aratos von Soloi (um 310 - um 245 v. Chr.) über den Sternenhimmel, Sammelname zugleich für die lateinischen Übersetzungen und Bearbeitungen dieses Werkes. Die Leidener Aratea-Handschrift bildet in der Überlieferungskette des Stoffes ein wichtiges Glied, weil sie mit ihren ganzseitigen Miniaturen die antiken Sternbilder und Sternmythen nicht nur dem Mittelalter, sondern weitgehend auch der Neuzeit weitergab. Der jetzt lebende Mensch, der die Geburt des Universums bisweilen durch den Urknall erklärt und einer kaum mehr vorstellbaren Endlichkeit des Alls mit seinen Galaxien entgegensieht, tut gut, sich auf die Anfänge der Weltentstehungstheorien zu besinnen; es sei hier eingeschränkt gesagt: auf die abendländisch-europäischen Bilder vom Weltall, die uns von den alten Griechen überkommen sind.

Aus den Erfahrungswerten der Astronomen schufen die griechischen Philosophen ein Modell des Universums, ein Weltbild, in dem die Figuren von Kreis und Kugel im höchsten Sinne massgebend und zugleich ein Abbild vollkommener Schöpfung waren. Die Welt selbst entstand ja nach Platon (427-347 v. Chr.), der diese Ideen in seinem Dialog "Timaios" vertritt, durch den Schöpfergott. Aber schon zuvor war bei den Griechen der Sternenhimmel längst mit Gestalten und Mythen belebt. Götter, Halbgötter und Heroen besetzten die Sterne des Himmels, die einen die Planeten, die anderen die Fixsterne. So standen einander schon damals das theologisch-mythologische und das astronomisch-philosophische Weltbild gewissermassen gegensätzlich gegenüber. Dieser Gegensatz hatte in etwas anderer Form ein langes, zähes Leben, denn auch das christliche Verständnis des Weltbildes zerbrach am Gegensatz von Theologie und Philosophie, am Gegensatz der durch die Bibel geoffenbarten und der durch empirische Erkenntnis erworbenen Wahrheiten. Zugunsten des in der Genesis des Alten Testamentes Geoffenbarten mussten noch im 17. christlichen Jahrhundert die Erfahrenswerte eines Galileo Galilei (1564-1642) schweigen.

Diesen Konflikt bezeugt auf eindrückliche Art und Weise schon die Christianikè Topographia (christliche Ortsbeschreibung) des seit dem 10./11. Jahrhundert so genannten "Kosmas Indikopleustes" (Kosmas der Indienfahrer), der sein in 12 Bücher gegliedertes Werk zwischen 547 und 549 in Alexandria griechisch verfasste. Kosmas wollte darin mit Hilfe der Bibel die griechischen Theorien von der Kugelgestalt der Erde und des Universums widerlegen. In einigen Handschriften, von denen die früheste, nämlich Cod. gr. 699 der Biblioteca Apostolica Vaticana, im 9. Jahrhundert in Konstantinopel entstand, sind den Texten auch Bilder beigegeben, welche die auf der biblischen Tradition fussenden Weltvorstellungen visualisieren. Ein Kosmogramm (Skizze des Weltbaues) zeigt das Universum als ein zweigeschossiges Haus, unten die Erde mit viereckigem Umriss, oben den Himmel als gewölbtes Dach mit dem Bildnis Jesu Christi, der dort als Gottheit wohnt. Der obere Himmel und die untere Erde werden durch eine Decke, das Firmament, voneinander getrennt. Dieser Vorstellung vom Universum liegt ohne Zweifel das Bild des zwar nicht im Alten Testament beschriebenen, doch auf Münzen und in Fresken dargestellten Tabernakels zugrunde, in dem die Bundeslade mit den Heiltümern des Volkes Israel bewahrt wurde. Die kosmologische Bedeutung des Tabernakels erklärt sich dadurch, dass in ihm der Wohnsitz Gottes ist (vgl. 3 Reg. 8, 10 ff.) und dass dort somit gleichsam Himmel und Erde vereint sind. In den Kosmas-Handschriften finden sich mehrere Figuren aus der griechischen Astronomie, ... doch sind sie fest zur Widerlegung einer antiken astronomischen These angeführt. So verhält es sich auch mit den Antipoden, den Gegenfüsslern, die nach der Meinung etwa des Krates von Mallos (2. Jh. v. Chr.) auf der kugelförmigen Erde die unbekannte Gegenseite bewohnen (Ms. Plut. IX. 28 der Biblioteca Medicea-Laurenziana zu Florenz). Kosmas verhöhnt diese Philosophen geradezu, wenn er in Buch IV, 23 sagt: "Arglistiger Haufen, ihr nehmt an, dass Antipoden existieren, dass Menschen auf der ganzen Erde herumspazieren. Gut so, zeichnen wir die Erde und die Antipoden nach eurer Vorstellung; welcher Mensch mit gesundem Blick und Verstand wird noch behaupten, dass die Antipoden sich aufrecht halten können, wenn einer die Erde nach Gutdünken dreht?"

Aus dieser Welt des Zwiespaltes ragen jene Bücher heraus, mit denen uns das Mittelalter nicht nur die astronomische und mythologische und die daraus resultierende philosophische Gedankenwelt der alten Griechen und Römer überlieferte, sondern auch ihre damit verbundene Bildkunst. Dafür ist die Leidener Aratea vielleicht das schönste Beispiel, weshalb wir sie zuerst vorstellen wollen.

 

 
Zurück zur Übersicht Arat | nächste Seite

Zurück zur Übersicht Realien

Zurück zur Übersicht Arbeitsmaterial