Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

DIE BRIEFE PLINIUS DES JÜNGEREN
ÜBER DEN VESUVAUSBRUCH IM JAHRE 79 n. Chr.

 

Gaius Plinius Secundus (Plinius der Ältere) war Admiral der römischen Flotte in Misenum. Sein siebzehnjähriger Neffe (Plinius der Jüngere) weilte mit seiner Mutter bei ihm zu Besuch.
Es war am frühen Nachmittag, als die Frau des Admirals diesen auf eine dicke Wolke aufmerksam machte, die über dem östlichen Ende der Bucht hing. Jahre später berichtete Plinius der Jüngere in seinen berühmten Briefen an den Geschichtsschreiber Tacitus über die darauffolgenden Ereignisse.

 

 

EPISTULAE VI, 16

C. Plinius grüsst seinen Tacitus

Du bittest mich, das Ende meines Onkels zu schildern, damit du es recht wahrheitsgetreu für die Nachwelt darstellen kannst. Ich danke dir, denn ich sehe, dass seinem Tode unvergänglicher Ruhm winkt, wenn er von dir verherrlicht wird. Denn wenn er auch bei der Verwüstung der schönsten Landschaften, wie die Bevölkerung und die Städte durch ein denkwürdiges Naturereignis den Tod gefunden hat und schon deshalb sozusagen ewig fortleben wird, wenn er auch selbst viele bleibende Werke geschaffen hat, so wird doch die Unvergänglichkeit deiner Schriften sein Fortleben wesentlich fördern. Ich halte jeden für glücklich, dem die Götter die Fähigkeit verliehen haben, Darstellungswürdiges zu vollbringen oder Lesenswertes darzustellen, für doppelt glücklich, wem beides gegeben ist. Zu ihnen wird mein Onkel durch seine und deine Schriften gehören. Um so lieber nehme ich auf mich, ja fordere geradezu, was du mir auferlegst.

Er war in Misenum und führte persönlich das Kommando über die Flotte. Am 24. August etwa um die siebente Stunde liess meine Mutter ihm sagen, am Himmel stehe eine Wolke von ungewöhnlicher Gestalt und Grösse. Er hatte sich gesonnt, dann kalt gebadet, hatte liegend einen Imbiss genommen und studierte jetzt. Er liess sich seine Sandalen bringen und stieg auf eine Anhöhe, von der aus man das Naturschauspiel besonders gut beobachten konnte. Es erhob sich eine Wolke, für den Beobachter aus der Ferne unkenntlich, auf welchem Berge (später erfuhr man, dass es der Vesuv war), deren Form am ehesten einer Pinie ähnelte. Denn sie stieg wie ein Riesenstamm in die Höhe und verzweigte sich dann in eine Reihe von Ästen, wohl weil ein kräftiger Luftzug sie emporwirbelte und dann nachliess, so dass sie den Auftrieb verlor oder auch vermöge ihres Eigengewichtes sich in die Breite verflüchtigte, manchmal weiss, dann wieder schmutzig und fleckig, je nachdem ob sie Erde oder Asche mit sich emporgerissen hatte.

Als einem Mann mit wissenschaftlichen Interessen erschien ihm die Sache bedeutsam und wert, aus grösserer Nähe betrachtet zu werden. Er befahl, ein Boot bereitzumachen, mir stellte er es frei, wenn ich wollte, mitzukommen. Ich antwortete, ich wolle lieber bei meiner Arbeit bleiben, und zufällig hatte er mir selbst das Thema gestellt.

Beim Verlassen des Hauses erhielt er ein Briefchen von Rectina, der Frau des Cascus, die sich wegen der drohenden Gefahr ängstigte (ihre Villa lag am Fuss des Vesuv, und nur zu Schiffe konnte man fliehen); sie bat, sie aus der bedenklichen Lage zu befreien. Daraufhin änderte er seinen Entschluss und vollzog nun aus Pflichtbewusstsein, was er aus Wissensdurst begonnen hatte. Er liess Vierdecker zu Wasser bringen, ging selbst an Bord, um nicht nur Rectina, sondern auch vielen anderen zu Hilfe zu kommen, denn die liebliche Küste war dicht besiedelt. Er eilte dorthin, von wo andere flohen, und hielt geradewegs auf die Gefahr zu, so gänzlich unbeschwert von Furcht, dass er alle Phasen, alle Erscheinungsformen des Unheils, wie er sie mit den Augen wahrnahm, seinem Sekretär diktierte.

Schon fiel Asche auf die Schiffe, immer heisser und dichter, je näher sie herankamen, bald auch Bimsstein und schwarze, halbverkohlte, vom Feuer geborstene Steine, schon trat das Meer plötzlich zurück, und das Ufer wurde durch Felsbrocken vom Berge her unpassierbar. Einen Augenblick war er unschlüssig, ob er umkehren solle, dann rief er dem Steuermann, der dazu geraten hatte, zu: `Dem Mutigen hilft das Glück, halt auf Pomponianus zu!´ Dieser befand sich in Stabiae, am anderen Ende des Golfs - das Meer drängt sich hier in sanft gekrümmtem Bogen ins Land-; dort hatte er, obwohl noch keine unmittelbare Gefahr bestand, aber doch sichtbar drohte und, wenn sie wuchs, unmittelbar bevorstand, sein Gepäck auf die Schiffe verladen lassen, entschlossen zu fliehen, wenn der Gegenwind sich legte. Dorthin fuhr jetzt mein Onkel mit dem für ihn günstigen Winde, schloss den Verängstigten in die Arme, tröstete ihn, redete ihm gut zu, und um seine Angst durch seine eigene Ruhe zu beschwichtigen, liess er sich ins Bad tragen. Nach dem Bade ging er zu Tisch, speiste seelenruhig oder - was nicht weniger grossartig ist - anscheinend seelenruhig. Inzwischen leuchteten vom Vesuv her an mehreren Stellen weite Flammenherde und hohe Feuersäulen auf, deren strahlende Helle durch die dunkle Nacht noch gehoben wurde. Um das Grauen der anderen zu beschwichtigen, erklärte mein Onkel, Bauern hätten in der Aufregung ihre Herdfeuer brennen lassen, und nun ständen ihre unbeaufsichtigten Hütten in Flammen. Dann begab er sich zur Ruhe und schlief tatsächlich ganz fest, denn seine wegen seiner Leibesfülle ziemlich tiefen, lauten Atemzüge waren vernehmlich, wenn jemand an seiner Tür vorbeiging. Aber der Boden des Vorplatzes, von dem aus man sein Zimmer betrat, hatte sich, von einem Gemisch aus Asche und Bimsstein bedeckt, schon so weit gehoben, dass man, blieb man noch länger in dem Gemach, nicht mehr hätte herauskommen können. So weckte man ihn denn; er trat heraus und gesellte sich wieder zu Pomponianus und den übrigen, die die Nacht durchwacht hatten. Gemeinschaftlich berieten sie, ob sie im Hause bleiben oder sich ins Freie begeben sollten, denn infolge häufiger, starker Erdstösse wankten die Gebäude und schienen, gleichsam aus ihren Fundamenten gelöst, hin- und herzuschwanken. Im Freien wiederum war das Herabregnen ausgeglühter, allerdings nur leichter Bimsstein-Stückchen bedenklich, doch entschied man sich beim Abwägen der beiden Gefahren für das letztere, und zwar trug bei ihm eine vernünftige Überlegung über die andere den Sieg davon, bei den übrigen eine Befürchtung über die andere. Sie stülpten sich Kissen über den Kopf und verschnürten sie mit Tüchern; das bot Schutz gegen den Steinschlag.

Schon war es anderswo Tag, dort aber Nacht, schwärzer und dichter als alle Nächte sonst, doch milderten die vielen Fackeln und mancherlei Lichter die Finsternis. Man beschloss, an den Strand zu gehen und sich aus der Nähe zu überzeugen, ob das Meer schon gestatte, etwas zu unternehmen. Aber es blieb immer noch rauh und feindlich. Dort legte mein Onkel sich auf eine ausgebreitete Decke, verlangte hin und wieder einen Schluck kalten Wassers und nahm ihn zu sich. Dann jagten Flammen und als ihr Vorbote Schwefelgeruch die andern in die Flucht und schreckten ihn auf. Auf zwei Sklaven gestützt, erhob er sich und brach gleich tot zusammen, vermutlich weil ihm der dichtere Qualm den Atem nahm und den Schlund verschloss, der bei ihm von Natur schwach, eng und häufig entzündet war. Sobald es wieder hell wurde - es war der dritte Tag von dem an gerechnet, den er als letzten erlebt hatte -, fand man seinen Leichnam unberührt und unverletzt, zugedeckt, in den Kleidern, die er zuletzt getragen hatte, in seiner äusseren Erscheinung eher einem Schlafenden als einem Toten ähnlich.

Derweilen hatten ich und meine Mutter in Misenum - doch das ist belanglos für die Geschichte, und Du hast ja auch nur vom Ende meines Onkels hören wollen. Also Schluss! Nur eines will ich noch hinzufügen: Ich habe alles, was ich selbst erlebt und was ich gleich nach der Katastrophe - dann kommen die Berichte der Wahrheit noch am nächsten - gehört hatte, aufgezeichnet. Du wirst das Wesentliche herauspicken, denn es ist nicht dasselbe, ob man einen Brief schreibt oder Geschichte, ob man an einen Freund oder für die Allgemeinheit schreibt.

Leb wohl!

 

 

 

 

 

EPISTULAE VI, 20

C. Plinius grüsst seinen Tacitus

Du schreibst mir, der Brief, in welchem ich Dir auf Deinen Wunsch vom Tod meines Onkels berichtet habe, wecke in Dir das Verlangen zu erfahren, welche Ängste, welche Gefahren ich, in Misenum zurückgeblieben, ausgestanden habe; denn als ich darauf zu sprechen kam, habe ich abgebrochen. Sei's denn, wie sehr auch die Erinnerung mir die Seele schaudernd mag empören!

Als mein Onkel fort war, verwendete ich den Rest des Tages auf meine Studien (weswegen ich ja daheimgeblieben war); dann Bad, Abendessen, kurzer, unruhiger Schlaf. Vorangegangen waren mehrere Tage lang nicht eben beunruhigende Erdstösse - Kampanien ist ja daran gewöhnt -; in jener Nacht wurden sie aber so stark, dass man glauben musste, alles bewege sich nicht nur, sondern stehe auf dem Kopfe. Meine Mutter stürzte in mein Schlafzimmer, ich wollte gerade aufstehen, um sie zu wecken, falls sie schliefe. Wir setzten uns auf den Vorplatz des Hauses, der in mässigem Abstand das Meer von den Gebäuden trennte.

Ich weiss nicht, ob ich es Gleichmut oder Unüberlegtheit nennen soll (ich war ja erst 18 Jahre alt); ich lasse mir ein Buch des Titus Livius bringen, lese, als hätte ich nichts Besseres zu tun, exzerpiere auch, wie ich begonnen hatte. Da kommt ein Freund meines Onkels, der kürzlich bei ihm aus Spanien eingetroffen war, und als er mich und meine Mutter dasitzen sieht, mich sogar lesend, schilt er ihre Gleichgültigkeit, meine Unbekümmertheit; trotzdem blieb ich bei meinem Buche.

Es war bereits um die erste Stunde, und der Tag kam zögernd, sozusagen schläfrig herauf. Die umliegenden Gebäude waren schon stark in Mitleidenschaft gezogen, und obwohl wir uns auf freiem, allerdings beengtem Raum befanden, hatten wir eine starke und begründete Furcht, dass sie einstürzen könnten.

Jetzt schien es uns ratsam, die Stadt zu verlassen. Eine verstörte Menschenmenge schliesst sich uns an, lässt sich - was bei einer Panik beinahe wie Klugheit aussieht - lieber von fremder statt von der eigenen Einsicht leiten und stösst und drängt uns in endlosem Zuge mit sich fort.

Als wir die Häuser hinter uns hatten, blieben wir stehen. Da sahen wir allerlei Sonderbares, Beklemmendes geschehen. Die Wagen, die wir hatten herausbringen lassen, rollten hin und her, obwohl sie auf ganz ebenem Terrain standen, und blieben nicht einmal auf demselben Fleck, wenn wir Steine unterlegten. Ausserdem sahen wir, wie das Meer sich in sich selbst zurückzog und durch die Erdstösse gleichsam zurückgedrängt wurde. Jedenfalls war der Strand vorgerückt und hielt zahllose Seetiere auf dem trockenen Sande fest. Auf der anderen Seite eine schaurige, schwarze Wolke, kreuz und quer von feurigen Schlangenlinien durchzuckt, die sich in lange Flammengarben spalteten, Blitzen ähnlich, nur grösser. Da drängte wieder der Freund aus Spanien heftiger und dringender: `Wenn dein Bruder, dein Onkel noch lebt, möchte er auch euch lebend wiedersehen; ist er tot, war es gewiss sein Wunsch, dass ihr am Leben bliebet. Was säumt ihr also, euch zu retten?´ Wir erwiderten, wir könnten es nicht über uns gewinnen, an uns zu denken, solange wir über sein Schicksal im Ungewissen seien. Er liess sich nicht länger halten, stürzte davon und entzog sich im gestreckten Lauf der Gefahr.

Nicht lange danach senkte sich jene Wolke auf die Erde, bedeckte das Meer, hatte bereits Capri eingehüllt und unsichtbar gemacht, hatte das Kap Misenum unseren Blicken entzogen. Da bat und drängte meine Mutter, befahl mir schliesslich, mich irgendwie in Sicherheit zu bringen; ich als junger Mann könne es noch, sie, alt und gebrechlich, werde ruhig sterben, wenn sie nur nicht meinen Tod verschuldet habe. Ich dagegen: ich wolle nur mit ihr zusammen am Leben bleiben; damit fasste ich sie bei der Hand und nötigte sie, ihre Schritte zu beschleunigen. Widerstrebend fügte sie sich und machte sich Vorwürfe, dass sie mich aufhalte.

Schon regnete es Asche, doch zunächst nur dünn. Ich schaute zurück: Im Rücken drohte dichter Qualm, der uns, sich über den Erdboden ausbreitend, wie ein Giessbach folgte. `Lass uns vom Wege abgehen´, rief ich, `solange wir noch sehen können, sonst kommen wir auf der Strasse unter die Füsse und werden im Dunkeln von der mitziehenden Masse zertreten.´ Kaum hatten wir uns gesetzt, da wurde es Nacht, aber nicht wie bei mondlosem, wolkenverhangenem Himmel, sondern wie in einem geschlossenen Raum, wenn man das Licht gelöscht hat. Man hörte Weiber heulen, Kinder jammern, Männer schreien; die einen riefen nach ihren Eltern, die anderen nach ihren Kindern, wieder andere nach ihren Männern oder Frauen und suchten sie an den Stimmen zu erkennen; die einen beklagten ihr Unglück, andere das der Ihren, manche flehten aus Angst vor dem Tode um den Tod, viele beteten zu den Göttern, andere wieder erklärten, es gebe nirgends noch Götter, die letzte, ewige Nacht sei über die Welt hereingebrochen. Auch fehlte es nicht an Leuten, die mit erfundenen, erlogenen Schreckensnachrichten die wirkliche Gefahr übersteigerten. Einige behaupteten, in Misenum sei dies und das eingestürzt, anderes stehe in Flammen - blinder Lärm, aber sie fanden Glauben.

Dann hellte es sich ein wenig auf, doch es war anscheinend nicht das Tageslicht, sondern ein Vorbote des nahenden Feuers. Aber das Feuer blieb in ziemlicher Entfernung stehen; es wurde wieder dunkel, wieder fiel Asche, dicht und schwer, die wir, fortgesetzt aufstehend, abschüttelten; wir wären sonst verschüttet und durch die Last erdrückt worden. Ich könnte damit prahlen, dass sich mir trotz der furchtbaren Gefahr kein Seufzer, kein verzagtes Wort entrungen hatte, hätte ich nicht - ein schwacher, aber für uns Menschen immerhin ein im Tode wirksamer Trost - fest geglaubt, ich ginge mit allem und alles mit mir zugrunde.

Endlich wurde der Qualm dünner und verflüchtigte sich sozusagen zu Dampf oder Nebel. Bald wurde es richtig Tag, sogar die Sonne kam heraus, doch nur fahl wie bei einer Sonnenfinsternis. Den noch verängstigten Augen erschien alles verwandelt und mit einer hohen Ascheschicht wie mit Schnee überzogen.

Wir kehrten nach Misenum zurück, machten uns notdürftig wieder zurecht und verbrachten eine unruhige Nacht, schwankend zwischen Furcht und Hoffnung. Die Furcht überwog, denn die Erdstösse hielten an, und viele Leute, wie wahnsinnig von schreckenerregenden Prophezeiungen, witzelten über ihr und der anderen Unglück. Wir konnten uns, obwohl wir die Gefahr aus eigener Erfahrung kannten und weiter auf sie gefasst waren, nicht entschliessen wegzugehen, ehe wir nicht Nachricht von meinem Onkel hatten.

Dies alles gehört gewiss nicht in ein Geschichtswerk, und so wirst Du es lesen, ohne Gebrauch davon zu machen; aber Du hast ja danach gefragt und hast es somit Dir selbst zuzuschreiben, wenn es Dir nicht einmal einen Brief zu verdienen scheint.

Leb wohl!

 


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