Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 Quelle:

Neue Zürcher Zeitung WOCHENENDE Samstag/Sonntag, 7./8. Juli 1990 Nr. 155  82

 

Einladung zum Irrgang (I)

Kreta
in New York

Text und Aufnahmen von Georg Gerster

Ein Brite brachte Kreta nach New York: Im Jahr 1969 vollendete der englische Bildhauer und Schriftsteller Michael Ayrton bei Arkville in den Catskill-Bergen des Staates New York ein «kretisches» Labyrinth - so wie eben die Kunstgeschichte das Gefängnis des Minotaurus in Knossos mangels archäologischer Belege seit der Renaissance phantasiert hat. Den Bau, der zwei Jahre dauerte, ermöglichte der Sammler und Mäzen Armand Erpf, ein Börsenmakler der Wall Street, auf seinem Landgut. Aber in dem Werk drückte der Künstler die ganz eigene lebenslange Faszination mit dem Labyrinth als einem Sinnbild des Lebens aus: Im Labyrinth des Lebens irrt der Mensch umher auf der Suche nach der letzten Wahrheit, dem Tod. Den Labyrinth-Schöpfer Dädalus feierte Ayrton gleichzeitig in einem Roman, The Maze Maker.

Ayrtons Irr-Anlage war das erste neue gebaute Labyrinth in begehbarer Grösse seit Jahrhunderten. Sie stand auch am Anfang der jüngsten Labyrinthomanie, die erdweit in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehr als hundertfünfzig neue Labyrinthe hervorgebracht hat. Im Oktober 1990 wird England sogar ein «Jahr des Labyrinths» einläuten. Die Neuschöpfungen verstehen sich allerdings nur ausnahmsweise als Sinnbilder des Lebenslaufs oder sonstwie als Werke einer Betroffenheit; vielmehr geben sie sich ganz vordergründig: Aufforderung zum irren Plausch.

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