Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Neue Zürcher Zeitung Ressort Feuilleton, 12. Dezember 2001, Nr.289, Seite 62

 

Dionysos als Polisgott

Cornelia Isler-Kerényis Neudeutung

Kaum eine andere Gottheit der Griechen hat die Neuzeit so anhaltend und so widersprüchlich beschäftigt wie Dionysos. Auffällig sind die polarisierenden Deutungsmuster, die dabei zum Tragen kamen. Im Gegenzug zum heiteren, Freiheit stiftenden Weingott der Renaissance betonte die Romantik seine dunklen Aspekte, die chaotischen, auflösenden Kräfte des Rausches und der dionysischen Ekstase, den Todesbezug des Mysteriengottes. Besonders wirkungsmächtig wurde die von Nietzsche inszenierte Antithese zu Apollon: Sie etablierte Dionysos als den irrationalen, die subversiven Kräfte repräsentierenden, fremden Gott, als Gegenkraft zur geordneten Welt der Polisgesellschaft.

Alle diese Deutungsmuster haben jedoch mehr mit der Selbstwahrnehmung der Moderne zu tun als mit dem historischen Gehalt der antiken Dionysos-Religion. Dass man das ursprüngliche Bedeutungsspektrum dieses Gottes in vereinseitigenden Deutungen aus dem Blick verlor, lag nicht zuletzt an der Fixierung auf die literarische Überlieferung. Derjenige Text aber, der die Neuzeit massgeblich inspiriert hat, die «Bacchen» des Euripides, die im Jahre 405 v. Chr. den «rasenden Gott» selbst zum Protagonisten einer Tragödie machten, ist aus religionsgeschichtlicher Perspektive ein «spätes» Zeugnis. Ihm voraus liegt eine mehr als achthundertjährige religiöse Präsenz des Dionysos, der für uns bereits im Kontext der minoisch-mykenischen Palastkultur gegen Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. fassbar wird.

Zurück zu den Bildern

Um diese Präsenz in ihrer Entwicklung wahrzunehmen, muss man jedoch hinter die Texte zurück. Aufschluss über den Ort des Dionysos im imaginaire der frühgriechischen Gesellschaft gibt vor allem die bildliche Überlieferung. Und in der Tat, in der Bilderwelt der griechischen Vasenmalerei sind Dionysos und sein Kreis das am häufigsten dargestellte Sujet. Erstaunlich genug, dass eine Gesamtdarstellung des Materials bisher fehlte. Die Herausbildung der dionysischen Ikonographie in der Epoche der griechischen Archaik des 7. und 6. Jahrhunderts v. Chr. hat nun die Zürcher Archäologin Cornelia Isler-Kerényi systematisch beschrieben, neu interpretiert und mit einem umfangreichen Abbildungsteil illustriert. Schade, muss man sagen, dass der Verlag der aufwendigen Zusammenstellung dieser zum Teil seltenen Bildvorlagen nicht durch bessere Reproduktionsqualität Rechnung getragen hat.

Der Horizont der Untersuchung geht weit über die 1986 von T. H. Carpenter vorgelegte Studie hinaus, die ausschliesslich den Dionysos-Darstellungen in der attischen Vasenmalerei des 6. Jahrhunderts gewidmet war. Isler-Kerényi hingegen bezieht auch die korinthische, böotische, lakonische und ionische Vasenproduktion ein. Und sie behandelt nicht nur Dionysos selbst, sondern das gesamte dionysische «Begleitpersonal»: dionysische Tänzer, Satyrn und den rätselhaften Reiter auf dem Maultier sowie die verschiedenen mit Dionysos verbundenen weiblichen Figuren. So kann sie zeigen, dass die dionysische Ikonographie keine «attische Erfindung» war, wie Carpenter meinte, sondern schon früh im gesamtgriechischen Raum präsent zu finden war - und dass Dionysos von Anfang an mehr war als nur «a light-hearted symbol of the pleasure of wine».

Methodisch folgt Isler-Kerényi einem ebenso anspruchsvollen wie innovativen Verfahren: Sie ordnet und interpretiert das immense Material sowohl chronologisch als auch nach Gefässtypen, davon ausgehend, dass zwischen Bildträger und Dekoration eine «coerenza sostanziale» besteht, die von der Forschung nicht konsequent genug beachtet werde. Grösse, Form und Gebrauchsbestimmung eines Gefässes aber beeinflussen erkennbar auch seine Dekoration. Es macht einen Unterschied, ob es sich um Transport- und Aufbewahrungsgefässe handelt, um Grabbeigaben oder um Gefässe, die beim Symposium benutzt wurden, ob um öffentlichen oder individuell-privaten Gebrauch, ob eher Männer - wie überwiegend der Fall - oder Frauen die Benutzer der Gefässe, d. h. die Betrachter der Bilder, waren. Ebenso beeinflusst die Grösse der Bildträger auch den Darstellungsstil: auf kleinen Vasen ist der Bildschmuck eher «emblematisch», «allusiv» und «evokativ», grosse Formen hingegen eignen sich für «narrative», eher «explizite» Figurationen, d. h. für mythologische Szenen. Für die Interpretation aber gilt immer, dass die Grenzen zwischen Mythos und Realität fliessend und die Darstellungen als solche polyvalent sind, dass ihr Bedeutungsgehalt sich je nach Gebrauchskontext verschieben kann.

Im Ergebnis ihrer detaillierten Analysen kommt Isler-Kerényi zu einer Deutung des Dionysos, die seine integrative Bedeutung für die Polisgesellschaft der archaischen Epoche herausstellt. Seine stabilisierende Funktion spielte auf vielen Ebenen, auf der des Mythos wie auf der der sozialen und gesellschaftlichen Gegensätze. Dionysos war - zuerst und vor allem als Gott des Weines - der Gott der Verwandlungen und der transitorischen Zustände, der Übergänge zwischen «Drinnen» und «Draussen», zwischen wilder und domestizierter Natur - und insofern auch der Gott der ambivalenten Zwischenzustände und der «Passagen» zwischen lebensgeschichtlichen Entwicklungsphasen: «la biografia humana è sentita come una carriera dionisiaca».

Auch für die Frauen

In des Gottes Bereich fällt vor allem die Sexualität. Das ist auch der Grund, warum die dionysische Ikonographie auf denjenigen Gefässen so prominent ist, durch die sich die attischen Vasenmaler im 6. Jahrhundert eine marktbeherrschende Stellung eroberten: auf der Symposiumskeramik, den grossen Weinbehältern, den Mischkrügen, den Bechern und Schalen. Dem Symposium kam in dieser noch weitgehend aristokratisch geprägten Zeit eine Schlüsselfunktion zu für die Integration der jungen Männer in die Gesellschaft der erwachsenen Bürger. Es bot den Rahmen, in dem die Männer die felicità dionisiaca ausleben konnten, eine lustvoll entgrenzte, spielerische Sexualität, die gleichwohl durch die Verhaltensnormen der gesellschaftlichen Institution, die das Symposium darstellte, «gebändigt» und eingefangen war. Vor-Bild des in seiner männlichen Identität noch ungefestigten, jugendlichen Symposiasten war, so Isler-Kerényi, der dionysische Tänzer und sein mythologisches Alter Ego, der Satyr.

Aber nicht nur mit dem Symposium werden Dionysos und sein Gefolge auf den Vasenbildern assoziiert, sondern von Anfang an auch mit Hochzeit, Geburt und Tod. In diesen Bereichen werde, so Isler-Kerényi, in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts - abseits von der bisher dominanten männlichen Perspektive - ein neuer und eigenständiger Bezug des Dionysos zur Welt der Frauen sichtbar. Die Autorin erklärt ihn, ausgehend von einer Neuinterpretation der geheimnisvollen Neapler Kallis-Schale, als Reflex einer eben zu dieser Zeit in Athen neu etablierten dionysischen Mysterienreligiosität. Diese habe den Frauen, analog zur Bedeutung des Symposiums für die Männer, die Möglichkeit geboten, den Statuswechsel vom Mädchen zur Ehefrau und die damit verbundenen Krisenerfahrungen in ritualisierter Form zu bewältigen. Die neueren archäologischen und religionshistorischen Forschungen, an die diese These anknüpft, beziehen sich allerdings auf spätere Zeiten und bieten wenig sicheren Rückschluss auf die attische Kultpraxis im 6. Jahrhundert.

Insgesamt aber wird diese umfassende Untersuchung, die sich zum notwendig hypothetischen Charakter ihrer Deutungen ausdrücklich bekennt, die weitere Diskussion in vielfacher Hinsicht stimulieren. Denn dass Dionysos nicht als «das Andere» der Polis zu denken, sondern in ihrem Zentrum zu suchen ist, das dürfte nunmehr ausser Zweifel stehen.

Barbara von Reibnitz

 

Cornelia Isler-Kerényi: Dionysos nella Grecia arcaica. Il contributo delle immagini. Istituti Editoriali e Poligrafici Internazionali, Pisa, Roma 2001. 271 S., 133 Abb., Fr. 48.-.


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Dionysos
Mitte des 6. Jh.
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Dionysos und Aphrodite
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Dionysos und Mänaden
um 530
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Dionysos und Mänaden
um 530 - Detail
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Symposion
um 530
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Mänade
um 490
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