Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Neue Zürcher ZeitungRessort Zeitfragen, 29. Dezember 2001, Nr.302, Seite 69

 

Das Leben in der ekstatischen Kultur

Religiöses Verhalten gewinnt an Bedeutung in der säkularen Gesellschaft

Von Hubert Knoblauch*

Ekstatische Erfahrungen, die mithin als eine der wichtigsten Quellen aller Religionen angesehen werden, bedürfen nicht unbedingt religiöser Deutungen. Dies ist allgemein bekannt. Weniger beachtet ist jedoch der Umstand, dass diese Art der Erfahrungen gerade in unseren Breiten besonders kultiviert wird.

Achtet man auf das Phänomen der ekstatischen Erfahrung, so hat man schnell den Eindruck, als lebten wir in einer regelrecht ekstatischen Kultur, in der immer mehr Individuen Wert auf besondere ausseralltägliche Erfahrungen legen. (Ich verstehe hier Ekstase sehr weit im Sinne einer nichtalltäglichen Transzendenzerfahrung.) Die Kultivierung dieser Erfahrungen bleibt jedoch nicht reine Privatsache. Grosse religiöse Bewegungen widmen sich dieser Kultivierung. Aber auch die säkulare Kultur pflegt diese Art der Erfahrungen in einem, wie man meinen möchte, noch nie da gewesenen Masse.

Erfahrung «Gottes»

Die individuelle Bedeutung aussergewöhnlicher Erfahrungen zeichnet sich ab, wenn man die zwar nicht sehr zahlreichen, aber doch breit angelegten Umfragen zu «religiösen» und paranormalen Erfahrungen betrachtet, die seit einigen Dezennien in den USA, aber auch in Europa durchgeführt werden. So habe ich selbst mit einigen Mitarbeitern herausgefunden, dass über drei Millionen Deutsche glauben, eine sogenannte Nahtoderfahrung gemacht zu haben, die ja - etwa im «Verlassen des Körpers» - ausgeprägt ekstatische Züge trägt. In einer englischen Umfrage aus den siebziger Jahren gab mehr als ein Drittel der Befragten an, eine unmittelbare Erfahrung «Gottes» gemacht zu haben. Zwischen 1962 und 1992 finden sich zwanzig amerikanische Untersuchungen, die sich mit der direkten Erfahrung des Religiösen beschäftigen; dabei stieg der Anteil derer, die über eine solche Erfahrung berichten, von 20 Prozent (1962) auf 53 Prozent im Jahr 1992. Nach den jüngsten Umfragen aus dem deutschsprachigen Raum hat weit über die Hälfte der Bevölkerung die «Präsenz anderer Kräfte» oder die «Anwesenheit von Toten» oder «Visionen» erlebt (was nur von einem Teil der Befragten als «religiös» verstanden wird).

Dass viele dieser individuell gemachten Erfahrungen nicht im Rahmen herkömmlicher religiöser Traditionen gedeutet werden, soll nicht heissen, dass die Religion aus der ekstatischen Kultur ausgeschlossen wäre. Denn gerade im religiösen Bereich zeigt sich die Zunahme der Bedeutung ekstatischer Erfahrungen deutlich, und zwar fast ausschliesslich in den rasch wachsenden religiösen Bewegungen. Im christlichen Raum sind das etwa neupfingstlerische, charismatische und evangelikale Bewegungen. Die neue Macht der subjektiven Erfahrung im gegenwärtigen Christentum drückt sich in der Konversion, der Zungenrede, dem Ruhen im Geiste, intuitivem Reden, innerem Hören, in Visionen, Prophetien und Wunderheilungen aus. Den Bewegungen mit solchen ekstatischen Zügen sollen derzeit über 300 Millionen Menschen anhängen. Sie wachsen vor allem ausserhalb Europas.

Hierzulande scheinen sich dagegen jene Bewegungen besser zu entwickeln, die man dem New-Age-Komplex zurechnen kann: Ekstatische Erfahrungen werden betont und besondere Erkenntniswege und Handlungsformen gefördert, in denen die Rolle der subjektiven, oft aussergewöhnlichen Erfahrung betont wird, die sich einer rationalen Mitteilbarkeit und intersubjektiven Überprüfbarkeit entzieht. Die «Transpersonale Psychologie» etwa sucht ihre Erkenntnis in Bewusstseinszuständen zu finden, die ausserhalb des normalen Alltagsbewusstseins angesiedelt sind, also in aussersinnlichen Wahrnehmungen, Gipfelerlebnissen und anderen mystischen Erfahrungen. Diesem Zwecke dienen die sich ausbreitenden östlichen Meditationstechniken wie auch verschiedene westliche psychologische Techniken. Zwar ist die Zahl der New-Age-Aktivisten sehr gering, doch scheinen die von ihnen propagierten Inhalte und Praktiken von mindestens 12 Prozent der Schweizer Bevölkerung geteilt zu werden.

Der alltägliche Rausch

Diese häufig importierten Bewegungen religiös gedeuteter Ekstase bilden lediglich einen kleinen Ausschnitt einer breiteren ekstatischen Kultur, die weitgehend profan verstanden wird. Beispiele für diese Kultur zu finden, fällt nicht schwer, auch wenn sie so zur Normalität geworden sind, dass man ihre ekstatischen Züge kaum mehr wahrzunehmen scheint. Das zeigt sich nicht nur am kulturprägenden Alkoholgenuss, der einen guten Teil der Bevölkerung tagtäglich erleben lässt, was ein Rausch sein kann. Auch die Sexualität sollte erwähnt werden, die ja erst seit den 1960er Jahren eine öffentlich akzeptierte kulturelle Form der Ekstase geworden ist. Mittlerweile redet etwa der französische Soziologe Guillebeaud von einer «Tyrannei der Sexualität»: einer Pflicht zur sexuellen Ekstase, ohne die weder Ehen noch andere Intimbeziehungen legitimiert werden könnten.

Aber auch der Tanz ist zu einem breiten Kulturphänomen geworden, das immer ausgeprägtere ekstatische Züge annimmt, die häufig zu einer ausdrücklichen Ideologie geworden sind. Dasselbe gilt für weite Teile der modernen populären Musik, die ja auf dem modernen Mythos des ekstatischen Rhythmus aufgebaut ist - also auf dem Glauben, es gebe sozusagen biologisch oder natürlich festgelegte Rhythmen, die den Körper zum Schwingen bringen und dadurch eine Ekstase auslösen. Dieser Mythos ist nicht zufällig in der Techno-Kultur sehr ausgeprägt, in der der ekstatische Gedanke der populären Kultur gleichsam kulminiert. Die monoton und endlos erscheinende Musik wird verbunden mit einem rasanten und lang anhaltenden Tanz, die zusammen eben das auslösen, was angestrebt wird: eine ekstatische Erfahrung. (Dabei wird zuweilen auch mit Drogen nachgeholfen, die bezeichnenderweise den Namen Ecstasy tragen.) In den Worten eines Techno-DJ: «Du bist euphorisch, die Gehirnströme ändern sich, Bilder fliessen. Du fühlst Liebe, du fliegst auf den Mond.»

Sport als Opium

Besonders auffällig ist die Bedeutung der Ekstase im Sport: Bis in die 1960er Jahre hinein noch als eine Art der aktiven Askese betrieben, war er semantisch mit Leistung, Konkurrenz und Disziplin verknüpft. In jüngerer Zeit findet indessen ein anderer Aspekt des Sports besondere Beachtung: Die ausseralltägliche Erfahrung bei der körperlichen Betätigung. Von ganz entscheidender Bedeutung war die «Entdeckung», dass die sportlichen Tätigkeiten zu besonderen Bewusstseinszuständen führen, und zwar besonders jene, die auf eine mechanisch-monotone Weise vollzogen werden, wie sie bei den meisten Trainings üblich sind, und jene, die mit enormer körperlicher Anstrengung verbunden sind.

Dieser aussergewöhnliche Bewusstseinszustand wird als «Fluss-Erlebnis», als «peak-experience» oder als mystisches Gefühl beschrieben. Er wird zum Kern und Ziel der sportlichen Tätigkeit: Extremlangläufer kommen während des Laufens zur Ruhe, schauen nach innen und gelangen dabei zu tiefer Religiosität und dem Gefühl kosmischer Verbundenheit, Extrembergsteiger verschmelzen auf dem Gipfel mit dem All-Einen, und Bodybuilder überwinden die Schmerzgrenze und erleben dabei das Hochgefühl einer sozusagen körperinduzierten Transzendenz. Neu daran ist, dass es sich um Leistungssportler handelt, die ihr Tun nicht mehr durch die Leistung, sondern durch die im Handeln gemachte besondere Erfahrung rechtfertigen. So antwortet etwa der deutsche Radrennfahrer Jan Ullrich auf die Frage, warum er die enormen Schmerzen beim Hochleistungssport auf sich nehme: Weil er über dem «Limit ein Gefühl von Glück» empfinde «wie Opium aus dem eigenen Körper».

Kleine Fluchten und Kicks

Das Besondere dieser Orientierung besteht darin, dass die Leistung nunmehr dazu dient, dass die Akteure ekstatische Grenzerfahrungen machen. Standen dabei zu Anfang noch jene Sportarten im Vordergrund, in denen diese Grenzerfahrung mühsam erarbeitet werden muss, so werden sie derzeit von Aktivitäten abgelöst, die nur schwerlich als Sport angesehen werden können. Wenn jemand reissende Wasser hinunterfahren oder über den Wolken surfen will, so bedarf das weniger einer asketischen Vorbereitung als einer kommerziellen («Event»-)Organisation, die Orte anfährt, Gerätschaften präpariert und die psychologische Betreuung (vor allem die Fun-Zelebrierung) übernimmt.

Hier auch finden sich die Übergänge von der sportlichen (asketisch erreichten) Ekstase zu den zahlreichen Formen der Ekstase im Bereich der Popkultur. Besonders die Jugendkultur zeichnet sich durch das aus, was «Alltagsflips», «Kicks» oder «kleine Fluchten» genannt wird: ausgefallene, aus der Routine des Alltags ausbrechende ekstatische Tätigkeiten, die mit exzessiven ästhetische Erfahrungen - besonders der Musik und visueller Medien - dem Konsum verschiedener Drogen, Gemeinschaftserfahrung oder Gewalttätigkeit zusammenhängen. Car Race, Haschisch und Headbanging sind solche Verhaltensweisen, die Ausflüchte aus dem im Jugendalter grauen Alltag bieten.

Die erlebnisorientierten «sensation seeking youngsters» müssen sich ihre «Kicks» jedoch nicht individuell erstellen. Auch wenn das Ich der Fluchtpunkt ihrer Bemühungen ist, wird die ekstatische Orientierung von den sekundären Institutionen der populären Kultur gestützt. Zur Erzeugung solcher Zustände hat die moderne, industrielle Populärkultur einen eigenen riesigen Markt geschaffen, von dem mittlerweile halbe Volkswirtschaften leben können.

Im Hauptstrom der Gesellschaft

Dabei sollte man nicht dem Eindruck erliegen, dass ausschliesslich die Jugendlichen eine Kultur der Ekstase pflegen. Es gibt einige Gründe für die Annahme, dass die Babyboom-Generation (und ihre Avantgarde, die 68er) eine enorme Rolle nicht nur für die Ausweitung der Popkultur spielte, sondern auch bedeutende Trägerin des «Ekstase-Kultes» ist. In dem Masse, wie diese und nachfolgende Generationen altern, und in dem Masse, wie (parallel dazu) Jugendlichkeit zum zentralen Leitbild der westlichen Kultur geworden ist, wird die mit der Jugendlichkeit einhergehende ekstatische Kultur auch von denjenigen (wenigstens rhetorisch) weiter getragen, die diese Lebensphase schon hinter sich haben. Dies mag damit zu tun haben, dass die ausgeprägte Form des von dieser Generation geförderten Individualismus gerade in der ekstatischen Erfahrung einen angemessenen Ausdruck findet. (Dieser Individualismus dürfte auch ein Grund dafür sein, dass diese Erfahrungen in den europäischen Gesellschaften im Unterschied zu den USA seltener religiös gedeutet werden, in denen Religion aus nachvollziehbaren Gründen noch wesentlich mit kirchlichen Bürokratien assoziiert wird.)

Weil sich die ekstatischen Tendenzen damit in mehr oder weniger «mittelständischen» sozialen Milieus einnisten, scheint sich etwas historisch vielleicht Einzigartiges abzuzeichnen: Während die Ekstase historisch und in anderen Kulturen meist am Rande der Gesellschaft gepflegt wurde (so dass die soziale Marginalität gleichsam in der «ek-stasis» ihren Ausdruck finden konnte), scheint sie hierzulande als eigene Kultur in den Hauptstrom der Gesellschaft zu rücken.

* Hubert Knoblauch ist Assistenzprofessor für Religionsgeschichte am Theologischen Seminar der Universität Zürich.

 


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