Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Quelle:

Neue Zürcher Zeitung Ressort Ressort Feuilleton, 9. August 2001, Nr.182, Seite 56

 

Aus einem Stein?

Laokoon - die antike Statue in einer neuen Deutung

Am 14. Januar 1506 wurde in Rom in einem bei Santa Maria Maggiore gelegenen Weinberg, wohin sich zur Zeit der Kaiser die auch von Titus bewohnte Domus Aurea erstreckte, jene antike Statue entdeckt - und sofort enthusiastisch begrüsst -, die in der neueren Kunst das intensivste Nachleben haben sollte. Das einmalige Sujet - ein älterer Mann mit seinen Söhnen, die in den Windungen zweier riesiger Schlangen qualvoll sterben - wurde sofort erkannt. Es ist der Priester Laokoon, der nach Vergils eindrücklicher Schilderung die Trojaner davor gewarnt hatte, von den Griechen das Holzpferd anzunehmen, das ihnen und ihrer seit zehn Jahren belagerten Stadt das Ende bereiten sollte, und dafür von den Göttern so hart bestraft wurde: eine Darstellung menschlicher Ohnmacht im Angesicht des Schicksals, die wie keine andere erschüttert. Solche trojanischen Themen genossen grosse Popularität bei den Römern, die ihre eigenen Anfänge ja auf den einzigen überlebenden Prinzen Trojas, den Aeneas, zurückführten.

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Die Frage nach dem Original

Der intensiven Auseinandersetzung der Künstler mit dem Laokoon seit der Renaissance entspricht offenbar kein antiker Ruhm dieser Schöpfung. Sie wird in den Schriftquellen nur ein einziges Mal, allerdings mit höchstem Lob, von Plinius d. Ä. erwähnt, der sie in der Residenz des Titus gesehen hatte, sie wurde weder kopiert noch umgebildet. Ausgesprochen schwer taten sich mit ihm die Kunsthistoriker. Da nämlich Plinius von einer Statue «ex uno lapide» («aus einem einzigen Stein») spricht, was auf den Laokoon nicht zutrifft, blieben sowohl seine Identität mit dem von Plinius gelobten Werk wie auch die Frage offen, ob es sich um eine kaiserzeitliche Schöpfung handelt oder um die Marmorkopie nach einem hellenistischen Original aus Bronze. Der im Jahr 1957 erfolgte spektakuläre Skulpturenfund in einer Grotte von Sperlonga, in der sich einmal auch Kaiser Tiberius (14-37) aufgehalten hatte, schien zunächst eine Lösung zu bringen. Er besteht aus mehreren thematisch und teilweise auch stilistisch verwandten Statuengruppen, deren eine, die Skyllagruppe, die Signatur derselben drei Bildhauer aus Rhodos trägt, die Plinius als Schöpfer des Laokoon angibt. Anstatt die Situation zu klären, hat der Fund sie aber noch kompliziert.

Unter den neuen Hypothesen, die er auslöste, hat jene von Bernhard Andreae durch Bücher, Vorträge und Ausstellungen die grösste Publizität errungen (vgl. NZZ 2. 2. 89). Sie will im Wesentlichen, dass die im vatikanischen Belvedere stehende Laokoongruppe eine Kopie aus der Zeit des Tiberius nach einem um 140 v. Chr. für den pergamenischen König Attalos II. geschaffenen Original aus Bronze ist. Auf Grund dieser Bestimmung werden dem Laokoonmythos spezifische, zur politischen Lage von Pergamon im 2. Jahrhundert v. Chr. bzw. von Rom um das Jahr 30 passende Botschaften unterlegt. Andreaes Schlüsse beruhen auf einer höchst geistreichen, aus vielen disparaten Argumenten zusammengefügten Konstruktion, die schliesslich dazu dient, sowohl den Laokoon wie die Skulpturen von Sperlonga in ein feststehendes Raster eingleisig aufeinander folgender Stilphasen zwischen Hellenismus und Kaiserzeit einzugliedern.

Settis' These

Das neueste Buch des bekannten Archäologen und Kunsthistorikers Salvatore Settis hat nur vordergründig den Sinn, diese Konstruktion zu demontieren: Es geht ihm vielmehr darum, gewisse grundsätzliche Probleme der traditionellen Kunstarchäologie kritisch aufzuzeigen. So lehnt er zwei ebenso typische wie modische Archäologengewohnheiten ab: erstens mythologische Darstellungen immer auf eine spezifische politische Botschaft einengen zu wollen, wie wenn der Mythos nicht schon von sich aus darstellungswürdig gewesen wäre; zweitens immer nach spekulativ zu rekonstruierenden «Originalen» zu suchen, anstatt sich auf die vorhandenen Kunstwerke zu konzentrieren. Die eigene Analyse gründet auf folgenden Hauptvorgaben: der Priorität von historischen Datierungen gegenüber stilistischen, der Skepsis gegenüber rekonstruierten Botschaften von Kunstwerken, deren antiker Aufstellungskontext unbekannt ist, schliesslich dem Vorrang jener Daten, die ein Werk - vor seinem neuzeitlichen Ruhm und unabhängig davon - aus sich selbst und aus seinem archäologischen Kontext heraus liefert.

An erster Stelle werden die drei Künstler chronologisch bestimmt, deren Signatur - mit dem Vatersnamen - der Skyllagruppe beigegeben ist und die Plinius als Schöpfer der Laokoonstatue angibt. Zwei dieser Namen kommen in mehreren, teils in Rhodos, teils in Italien gefundenen Inschriften vor (der dritte ist bis jetzt einmalig). Während die italienischen nur belegen, dass diese oder gleichnamige Künstler auch ausserhalb von Rom und von Sperlonga tätig waren, sind alle rhodischen Inschriften präzis, manchmal aufs Jahr genau historisch datiert. Auf Grund der Vatersnamen und jener Regeln, die man im antiken Griechenland bei der Namensgebung allgemein befolgte, lassen sich im 1. Jahrhundert v. Chr. mehrere mögliche Stammbäume rhodischer Bildhauerfamilien rekonstruieren. Diese stimmen darin überein, dass die fraglichen Künstlernamen Personen gehören, die zur gleichen Zeit zwischen 50 und 40 v. Chr. in Rhodos tätig gewesen sind. Sie müssen infolge der Zerstörung von Rhodos durch den Cäsar-Mörder Cassius im Jahr 43/42 v. Chr., wie viele andere renommierte Künstler, sich nach Italien abgesetzt und dort neue Aufträge erhalten haben.

Zwei Stile

Was den Ausdruck «aus einem einzigen Stein» betrifft, kann man sodann nachweisen, dass es sich seit Herodots Beschreibung ägyptischer Kunstwerke um eine übliche Redensart zum Lob hervorragender Bildhauerarbeit handelte. Gemeint war gerade nicht, dass solche Werke tatsächlich aus einem Stein bestanden. Vielmehr waren, wie dies übrigens auch in der Renaissance gesehen wurde, die Schnittstellen zwischen den Blöcken so geschickt kaschiert, dass der Eindruck eines einzigen Steines entstand. Damit entfällt der Grund, den in Rom gefundenen Laokoon von der Plinius-Stelle zu trennen. Auf die Jahre zwischen 30 und 20 v. Chr. lässt sich auf Grund der für ihre Unterlage benützten Mauertechnik auch die Skyllagruppe von Sperlonga datieren, zu der die Künstlersignatur gehört. Damit kommt man für den Laokoon auf eine Datierung zwischen 40 und 20 v. Chr., ungefähr dieselben Jahre, in denen Vergil an seinem Aeneasepos mit der so eindrücklichen Schilderung von Laokoons Tod zu arbeiten begann.

Von 31 v. Chr. an war Augustus Alleinherrscher in Rom. Die vorgelegte historische Datierung sowohl des Laokoon wie der Skylla von Sperlonga zeigt, dass der von ihm propagierte neue und glatte klassizistische Stil die pathosgeladene Ausdrucksweise der in hellenistischer Tradition arbeitenden Künstler aus Rhodos nicht sofort verdrängt hat, sondern dass beide Stile - und andere mehr - nebeneinander gepflegt worden sind.

Welcher der beiden Rekonstruktionen von Andreae und von Settis soll man nun den Vorzug geben? Es geht ja letztlich nicht nur um das Abwägen von Argumenten, sondern um den vorhandenen bzw. fehlenden Glauben des Autors und seiner Leser an einen zielgerichteten Verlauf sowohl der Kunstgeschichte wie der Geschichte überhaupt. Wie der subjektive Entscheid schliesslich auch fallen mag, wird er durch Settis' Abhandlung mit der beigelegten reichen Bild- und Schriftdokumentation zum Tod, zum Fund, zum Nachleben und zur Restaurierung des Laokoon wesentlich erleichtert.

Ursula Isler-Kerényi

Salvatore Settis: Laocoonte. Fama e stile. Donzelli editore, Roma 1999. 258 S., 16 + 78 Abb., 45 000 L.

 


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