Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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NZZ, Feuilleton, Ausgabe vom 26.10.1999 Nr. 249 65

 

Die Klippen der Antikenfahrt

Ausstellungen zu Odysseus und Paul Klee in München

 

Rechtzeitig vor der Jahrtausendwende begibt sich das Münchner Haus der Kunst auf grosse Mythensuche. Und überbrückt dabei gleich zwei Millennien. Während in einer aufwendig inszenierten Antiken-Schau Odysseus als «Prototyp der Moderne» gefeiert wird, sind in einer Parallelausstellung 130 mythologisch gestimmte Bilder und Zeichnungen von Paul Klee zu sehen.

Wagner wäre beim Anblick dieses Gesamtkunstwerks sicher vor Neid erblasst. Zum spektakulären Naturtheater hatte sich Kaiser Tiberius um 4 n. Chr. die nahe seiner Villa gelegene Felsengrotte im Tyrrhenischen Meer ausgestalten lassen: Odysseus und seine Gefährten, der sturzbetrunkene Polyphem und die furiose Skylla liessen ihre Marmormuskeln wie in lebenden Bildern spielen. Und über dem Eingang schwebte in den Fängen eines Adlers der gekidnappte Zeus-Liebling Ganymed, von dessen Schicksal die «Fatalia Troiana» ihren verhängnisvollen Ausgang nahm. Gegeben wurde in Tiberius' Höhle eine sinnlich überwältigende «Odyssee in Marmor». Man kann sich lebhaft ausmalen, wie die Stein gewordenen Schlüsselszenen aus Homers Heldenepen ihre gespenstischen Schatten an die illuminierten Höhlenwände warfen. Richard Wagner aber konnte Tiberius' «Spelunca» (lat.: Höhle) zwischen Neapel und Rom nicht mal vom Hörensagen kennen. 1957 erst ist sie bei Ausgrabungen entdeckt worden. Bis in jüngste Zeit war umstritten, warum der Adoptivsohn von Augustus diese pathetische Hommage an Odysseus überhaupt errichten liess. Laut Sueton habe Tiberius «bis zur Albernheit und Lächerlichkeit» das Studium der alten Sagengeschichten betrieben. Mit gutem Grund: Tiberius suchte seinen Herrschaftsanspruch über eine uferlose Ahnenreihe zu legitimieren. Die Römer hielten es Odysseus' Listenreichtum zugute, dass Troja zerstört werden konnte. Tiberius gehörte dem römischen Geschlecht der Julier an. Und die wiederum verehrten Äneas, den aus dem brennenden Troja geflohenen Gründer Roms, als ihren Stammvater. So weit, so kompliziert die fiktionalen Blutsbande zwischen Odysseus und Tiberius. Eine exquisit mit Skulpturen, Vasen, Wandmalereien, Reliefs, Schmuckstücken und Grabbeigaben bestückte Ausstellung im Münchner Haus der Kunst kreist nun um die Epengestalt des Odysseus.

Ein «moderner» Held

«Mythos und Erinnerung» des göttergleichen Helden werden neu befragt. Und im Fokus steht die nach hellenistischen Bronzefiguren in Marmor gemeisselte, vielfigurige Sperlonga-Gruppe. Es ist das wohl grossartigste skulpturale Ensemble, das in der Antike je zu den Heldentaten des Odysseus geschaffen worden ist. Ein Wassergraben, der in einem Ausstellungssaal angelegt wurde, führt mitten hinein in den schwarzen, apsidenförmigen Bühnenhöhlenraum. Simultan spielen sich dort durchaus effektverliebt die meist in Kunstmarmor nachgebildeten Dramen wie Polyphems Blendung, Odysseus' Kampf mit Skylla und der Raub des Palladions von Troja ab. Bernard Andreae, vormals Leiter des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom und Sperlonga-Experte, ist Spiritus rector der Ausstellung. Unter dem gleichen Titel hat Andreae vor drei Jahren bereits eine Odysseus-Schau im Palazzo delle Esposizioni in Rom zusammengestellt. Mithin konnte die Münchner Version um 50 Exponate - darunter ein preziöser Silberbecher aus dem Getty-Museum in Malibu - vermehrt werden.

Wunder über Wunder! Bis heute ist ungeklärt, wie die Römer die aus einem Marmorblock in der Türkei herausgehauene, ungefähr 80 Tonnen schwere Kolossalgruppe der Skylla überhaupt transportieren konnten. In tausend Einzelteile haben christliche Mönche fünf Jahrhunderte später das weibliche Meerungeheuer in einem Vandalenakt wider das Heidentum zerhackt. Zur Rekonstruktion der Skylla nahm man sich eine verkleinerte Kopie des hellenistischen Originals zum Vorbild. Und doch wirkt der ergänzte Oberkörper eher wie das misslungene Ergebnis einer gentechnologischen Manipulation, bei der eine Comic-Walküre mit Delacroix' Freiheitsheroine gekreuzt werden sollte. Um so erhabener, mächtiger, vitaler kommt einem das weitgehend unversehrt gebliebene Marmorbein des Polyphem von Sperlonga vor. Relikte wie diese sind absolute Glücksfunde bei archäologischen Ausgrabungen. Auf dem Fussrücken animalisch behaart, spannt sich das ausgestreckte muskulöse Bein des Giganten in die Höhe und bricht pikanterweise an dessen Geschlecht in der Luft ab. Ein fürwahr bitteres Los, das den Einäugigen ereilt hat.

Zur Erinnerung: Odysseus und seine Gefährten befreiten sich aus den Fängen des menschenfressenden Giganten mit einer Hinterlist. Über einen Schlauch flössten sie Polyphem Wein ein, um dem Entschlafenen schliesslich einen zugespitzten Pfahl ins Auge zu stossen. Wieviel Theaterbrimborium aber ist erlaubt bei einer Schau zur Antike, von deren bildgewordenen Mythen wir zum nicht unerheblichen Teil nur dank Rekonstruktionen eine Vorstellung haben? Die Ausstellungsmacher im Haus der Kunst umschiffen die inszenatorischen Klippen manchmal nur mit Müh und Not.

Gleich papierenen Staffagefiguren nehmen sich die in einem nachgebauten Tympanon zu sehenden Plastiken des Polyphemgiebels von Ephesos von weitem aus. Andererseits geben die Spanplatten-Einbauten doch auch eine ungefähre Illusion von einer im wahrsten Sinne des Wortes versunkenen Architektur wie dem Nymphäum in der Grotte von Baiae. Science-fiction ante portas! Kaiser Claudius hatte sich am Golf von Neapel eine phantasmenhafte, unterirdische Wandelhalle errichten lassen. Dies nicht zuletzt, um mit einem politisch ausgeklügelten Bildprogramm seine Abstammung von Odysseus vorzuspiegeln. Was aber macht Odysseus heute am Jahrtausendende wieder diskussionswürdig? Er sei der «Prototyp des modernen Menschen», befindet Andreae. Kein makelloser, dem Schicksal sich blindlings unterwerfender Held, sondern auch eine von Zweifeln geplagte, alles in allem selbstbestimmte und auch selbstherrliche Persönlichkeit. Und so beginnt man, bezirzt von den zahlreichen Hypothesen und kühnen Inszenierungen im Haus der Kunst, auch die auf wenige stilisierte Figuren und sprechende Gesten verknappte Bildsprache der attischen Vasen neu lesen zu lernen. Vergessen sind die dürren Bebilderungen der Odyssee aus den Schulbüchern. Nicht als Illustration sind die bildnerischen Vergegenwärtigungen der Odyssee zu verstehen, sondern als lebensnahe Interpretation der zum Teil namentlich bekannten Künstler. Archäologie kann selbst für Laien eine fröhliche Wissenschaft sein, vorausgesetzt, die Mythen werden anschaulich in die Jetztzeit übergeführt. Dies ist der Münchner Odysseus-Schau bravourös gelungen.

Klees subjektive Mythen

«Geistig bin ich, seitdem ich Rom betreten habe, meist satirisch gestimmt, was man mir aber, ausser in meinen Arbeiten, nicht anmerkt», schrieb Paul Klee 1902 in einem Brief an die Verlobte Lily Stumpf. Klee hatte zeitlebens ein zwiespältiges Verhältnis zur antiken Mythologie. Zwar gibt es über 250 Arbeiten von Klee, die in ihren oftmals bizarren Titeln auf Mythologisches anspielen, doch er bricht radikal mit Überliefertem. Das virile Heroentum der alten Griechen und Römer war ihm - so scheint es - eher suspekt. Statt dessen wandte er sich karikierend den weiblichen Chimären der Mythologie, den Nereiden, Amazonen, Mänaden, Sibyllen, zu. Mit der Moderne war auch das verbindliche Repertoire von Sagenfiguren obsolet geworden.

Klee, laut eigener Auskunft «Selbstlehrling», schuf sich mit anarchischem Witz eine ganz und gar subjektive Mythenwelt, in der eindeutig die Erotik regiert.

Der Kontrast zur pathetischen «Odyssee in Marmor» könnte nicht grösser sein. Nach 1937 nehmen die mythisch gestimmten Themen in seinem Werk deutlich zu. Da war Klees unheilbare Krankheit schon ausgebrochen. Als habe er die Gespenster aus der Unterwelt, die er einst rief, nicht mehr bändigen können, generiert er wie unter Zwang immer neue rebellische Erdhexen, Berggeister, Dämonen. Lapidar, fast roh umreisst er die Schattenwesen und nimmt mit Verve sogar die Art brut der Nachkriegszeit vorweg. Nichts mehr vom vormaligen tänzerischen, sich in filigrane Details verlierenden Manierismus. Blatt für Blatt entfaltet sich im Haus der Kunst ein zunehmend bedrohlich wirkendes Kabinett an Grotesken. Dennoch, eine engere Auswahl und straffere Gliederung der Ausstellung wäre der alles andere als epischen Haltung von Klee sicher entgegengekommen. Die zauberischen Beschwörungsgesten, mit denen Klee seine Phantasmagorien graphisch zum Leben erweckt, verlieren angesichts der wie an einer langen Perlenkette aufgefädelten Blätter und Bilder etwas von ihrer Suggestion. Zuletzt erstarren die Mythen in einer finsteren Hieroglyphenfratze: «Charon» bot sich als Fährmann ins Totenreich an.

Birgit Sonna

«Odysseus - Mythos und Erinnerung» / «Paul Klee: In der Maske des Mythos». Haus der Kunst, München, bis 9. Januar, Katalog jeweils 49 DM.

 



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Sperlonga
Grotte des Tiberius

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Sperlonga
Grotte des Tiberius
Blick vom Eingang aufs Meer

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Sperlonga
Blick aus der Grotte

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Sperlonga
Grotte des Tiberius

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Sperlonga
Grotte des Tiberius

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Sperlonga
Ganymed

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Sperlonga
Polyphem

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Sperlonga, Polyphem
Kopf des Odysseus

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Sperlonga, Polyphem
Kopf

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Sperlonga, Polyphem
Beine

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Sperlonga, Polyphem
Gefährte

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Sperlonga
Kopf eines Gefährten

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Sperlonga, Polyphem
Rekonstruktion

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Sperlonga
Skylla

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Sperlonga
Skylla

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Sperlonga
Skylla

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Sperlonga, Skylla
Kopf des Steuermanns

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Sperlonga, Skylla
Rekonstruktion

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Sperlonga, Skylla
Rekonstruktion

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