Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

Logo

Klassische Sprachen
Latein, Griechisch
KZU


Quelle:

Neue Zürcher Zeitung Ressort Feuilleton, 6. Juni 2001

 

Barocker Reichtum hinter Klostermauern

Die renovierte Stiftsbibliothek von Einsiedeln

Mitte des 9. Jahrhunderts zog sich Meinrad, Mönch des Klosters Reichenau, in die Einsamkeit im rauen Hochtal der Sihl bei Einsiedeln zurück. 26 Jahre lebte er im Finsteren Wald in der Entsagung und im Gebet. Bis ihn zwei Räuber meuchlings niederschlugen. Zwei Raben, die bei Meinrad Gastrecht genossen, verfolgten die Mörder bis nach Zürich; dort endlich wurden sie überstellt. Zwei Raben zieren denn auch das Wappen des Klosters von Einsiedeln. An der Stelle der einstigen Zelle im Wald, wo heute die Gnadenkapelle mit der schwarzen Madonna steht, errichtete 934 der Domherr Eberhard von Strassburg ein Kloster. Die zugezogenen Mönche lebten fortan nach den strikten Regeln des heiligen Benedikt. Das Mitte des 18. Jahrhunderts, grösstenteils nach Plänen des Einsiedlerbruders Kaspar Moosbrugger errichtete Kloster gilt heute als eine der bedeutendsten Barockanlagen Europas. Einige hunderttausend Gläubige und Touristen wallfahren jährlich zur Madonna von Einsiedeln. Das Klosterdorf ist auch Station der Pilger auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela.

Mit touristischer Führung

Auf grosses Echo stiessen die im vergangenen Sommer jeweils vor Beginn des «Grossen Welttheaters» durchgeführten Klosterrundgänge. Der Erfolg ermunterte Einsiedeln Tourismus, diese einstündigen Führungen fest ins Veranstaltungsprogramm aufzunehmen. So versammelt sich aneinem Hudelwettertag eine kleine Schar Kulturinteressierter vor der Tourismusinformation, um sich von einem lokalen Cicerone in die barocke Herrlichkeit entführen zu lassen. Vom Liebfrauenbrunnen aus ist die mächtige, 136 Meterlange Klosterfassade mit den beiden hohen Türmen mit einem Blick zu erfassen. Der Vergleichmit dem Petersplatz in Rom hält stand, der Baumeister hat sich diesen zum Vorbild genommen. Eine grossartige Theaterbühne. Devotionalien- und Souvenirhändler haben ihre in den beidseitigen Arkaden eingerichteten Läden noch nicht geöffnet. Wir treten in die Stiftskirche ein und bewundern als Erstes die schwarze Madonna in derGnadenkapelle. Im Laufe des liturgischen Jahreskalenders werden ihr verschiedenfarbige, reich geschmückte Gewänder umgehängt. Warum ist die Muttergottes schwarz, werden wir gefragt? Ganz einfach: Die schwarze Färbung von Gesicht und Händen geht auf den Rauch der vielen Kerzen und Lampen zurück, die vor dem Gnadenbild brannten. Bei einer Renovation wurde die Figur aufgehellt. Doch die Leute erkannten ihre neue Muttergottes nicht mehr, und sie wurde schwarz angemalt. Eindrücklich ist der Zug der Mönche, die sich jeweils nach der Vesper um 16 Uhr 30 vom Chor zur Gnadenkapelle begeben, um das Salve Regina zu singen.

Prunkstück Stiftsbibliothek

Staunend blicken wir in die barocke Fülle des Kirchenschiffs. 1996 wurde das Innere in den ursprünglichen Farben restauriert. Hier ist tatsächlich alles Gold, was glänzt. Putten und Engel musizieren und turnen waghalsig auf Brüstungen und Simsen herum. Im Jochbogen des Hochaltars mit dem Bild der Himmelfahrt Marias sind die zwei schwarzen Raben zu entdecken, direkt über ihnen wölbt sich die Weihnachtskuppel. Unter den Hirten hat der Maler einen Einheimischen mit Fuhrmannsgeissel und Alphorn eingeschmuggelt. Das schmiedeiserne Chorgitter ist raffinierte Täuschung, perspektivische Scheinarchitektur. Engel tragen den Baldachin der prunkvollen Kanzel von Egid Quirin Asam.

Im Schnellschritt werden wir durch verschiedene Gänge treppaufwärts geschleust. Nicht zu sehen bekommen wir den barocken Festsaal, die Arbeits- und Wohnstätten der heute im Kloster lebenden 92 Mönche und den Trakt des humanistischen Gymnasiums. Zurzeit sind 280 externe sowie 20 interne Schüler und Schülerinnen eingeschrieben. Doch dann stehen wir vor dem Juwel,der vor wenigen Jahren restaurierten Stiftsbibliothek im zweigeschossigen Barocksaal, die öffentlich nicht zugänglich ist. Das Innere entzückt:Das kräftige Blau der Büchergestelle und Türrahmen harmoniert mit den schlanken grauen Säulenund der leicht rosafarbenen Decke. Die Bibliothek umfasst 1230 Handschriften, 1040 Bände Inkunabeln und Frühdrucke sowie 175   000 gedruckte Bücher. Das Leben der Benediktinermönche bestand nicht nur aus «ora et labora», auch die Lectio, das Lesen, war ihnen wichtig. Von den Handschriften stammen etwa 100 aus der eigenen Schreibschule, die sich im 10. Jahrhundert entwickelte. Die ganz kostbaren Stücke sind in denmodern eingerichteten Archivräumen unter Verschluss gehalten. Die Wechselausstellung steht dieses Jahr im Zeichen des heiligen Meinrad.

Und gleich sind die 60 Minuten um, wir werden wieder in den Regen entlassen. Auf dem Wegzum Bahnhof lohnt sich ein Blick in die nostalgische Konditorei Goldapfel an der Kronenstrasse 1. Seit sieben Generationen werden hierdie Einsiedler Spezialitäten, die Schaf- oder Häliböcke, scheibenförmige Backwaren aus Mehl,Honig und Wasser mit dem Lamm drauf, fabriziert. Wer es weniger trocken liebt, hält sich andie braunen und weissen Lebkuchen. In der ehemaligen Backstube ist ein kleines Lebkuchenmuseum eingerichtet.

Rita Ziegler

Die 60-minütige Klosterführung findet täglich ausser an Sonn- und Feiertagen statt. Eine Voranmeldung ist nicht nötig. Treffpunkt ist um 14 Uhr bei der Tourismusinformation am Klosterplatz, Hauptstrasse 85. Dort sind die Tickets zu Fr. 12.- erhältlich. Auskunft über weitere Veranstaltungen und Gruppenführungen im Kloster über Tel. (055) 418 44 88, E-Mail: info@einsiedeln.ch oder über Internet www.einsiedeln.ch und www.einsiedeln-online.ch

 


«Öffne das Buch und lies . . .» - Bericht der NZZ vom 14. November 1998

 


Zurück zur Seite "Varia 2001"

Zurück zur Seite "Varia"