Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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KZU


Quelle:

NZZ, Ausgabe vom 14. November 1998

 

«Öffne das Buch und lies . . .»

Nach Jahren des Projektierens, Untersuchens und Bauens ist die Stiftsbibliothek Einsiedeln erweitert, restauriert und neu organisiert worden. Entstanden sind eine neue Gebrauchsbibliothek und ein Kulturgüterschutzraum, eine Musikbibliothek, eine Professorenbibliothek und neue Katalogräume. Heute wird die Vollendung der Arbeiten gefeiert.

 Seit sechzehn Jahren ist Pater Odo Lang Stiftsbibliothekar. Es brauche Zeit, sagt er, die Bibliothek vorerst überhaupt einmal kennenzulernen. Schritt für Schritt arbeite man sich in die vordringlichsten Aufgaben der Pflege, Erschliessung und Äufnung der Bibliothek ein. Nach und nach sei die Erkenntnis gewachsen, dass die Klosterbibliothek in ihrer Gesamtheit reorganisiert und neu gegliedert werden müsse, solle sie die vielfältigen Bedürfnisse der Klostergemeinschaft erfüllen können. Die nun vollendete Restaurierung der Stiftsbibliothek habe sich in jeder Hinsicht als Glücksfall erwiesen. Einmal, weil der 1738 entstandene und 1872 kräftig veränderte Bibliothekssaal dank der guten Zusammenarbeit mit dem kantonalen Denkmalpfleger Markus Bamert, mit dem Architekten Pius Bieri und dem Restaurierungsatelier Willi Arn in allen Einzelheiten rekonstruiert werden konnte und so sein ursprüngliches Aussehen zurückerhalten habe. Dann aber auch, weil im Zuge dieser Restaurierung auch alle anderen Ansprüche an eine moderne Bibliothek zufriedenstellend gelöst worden seien.

 

Ein Bücherbehältnis

So hat denn alles einen sinnvollen Platz gefunden. Mit Ausnahme der Handschriften und Inkunabeln ist der barocke Bücherbestand des Klosters am ursprünglichen Ort in der Stiftsbibliothek selbst wieder aufgestellt worden. Ein überaus kompliziertes System von verschiedentlich erneuerten Buchsignaturen machte die Benützung nicht gerade leicht. Die einzelnen Büchergestelle scheinen auf einer nicht mehr erhaltenen Kartusche thematisch bezeichnet gewesen zu sein, die Tablare waren numeriert. Gemäss den Prinzipien der positiv scholastischen Theologie dürfte die Bibliotheksordnung mit der Heiligen Schrift begonnen haben, gefolgt von den Texten der Kirchenväter, den Konzilsakten und weiter im Alphabet ergänzt durch Abteilungen für Geschichte und Naturlehre. Die Feinheiten der Systematik aber haben sich offensichtlich nur Eingeweihten offenbart. Die Benützerfreundlichkeit stand in der Barockzeit ohnehin nicht im Vordergrund. Nur jene Patres durften die Bibliothek betreten, welche eine spezielle Erlaubnis des Dekans vorweisen konnten. Bibliothekskataloge erlaubten zwar die individuelle Kenntnis der Ordnung, doch kam dem Bibliothekar ohne Zweifel die Bedeutung des Pfadfinders zu, auf ihn war man angewiesen, wollte man sich unter den rund 35 000 Bändern zurechtfinden.

Verschiedene Patres übten denn auch das Amt des Bibliothekars über sehr lange Zeiträume aus. Wohl der bekannteste unter ihnen war P. Gall Morel, der die Aufgabe während 37 Jahren wahrnahm, und P. Gabriel Meier stand der Bibliothek 1878-1916 gar während 38 Jahren vor. Noch heute fühlt sich Pater Odo gelegentlich als Pfadfinder, ausgerüstet allerdings mit modernsten Hilfsmitteln. Im Katalogsaal stehen zwar nach wie vor die grossen Zettelkästen, daneben aber auch die Bildschirme, welche ein rasches Suchen im mittlerweile auf rund 170 000 Bücher angewachsenen Bestand erlauben. 38 000 neuere Titel sind bereits erfasst und in der Datenbank abrufbar. Bis in einigen Jahren wird auch der Rest elektronisch erschlossen sein. So unterscheidet sich denn die Atmosphäre im Katalogsaal und den besucherfreundlich eingerichteten Arbeitsräumen in keiner Weise von einem anderen Bibliotheksbetrieb.

Um so verblüffender der Wechsel: In seinem Büro öffnet Pater Odo eine Nebentüre, wir schreiten in die barocke Stiftsbibliothek. Es ist kalt in diesem weiten, hohen Raum. Das Thermometer zeigt gegenwärtig etwa zehn Grad, im Winter wird es vielleicht wieder bis auf den Nullpunkt sinken. Eine Heizung gibt es auch nach der Restaurierung nicht. Das kommt den Büchern zugute, denn auch die Luftfeuchtigkeit verändert sich hier im Nordflügel der Klosteranlage hinter den dicken Bruchsteinmauern über das Jahr hinweg nur unwesentlich. Schon immer wäre eine Heizung als Brandherd viel zu gefährlich gewesen. Die Bibliothek war somit auch nie ein Arbeitsraum. Sie hätte während der einen Hälfte des Jahres ohnehin nicht benützt werden können. Ebenso fehlte ursprünglich eine Beleuchtung. Auch sie hätte als weitere Feuerquelle eine Gefahr bedeutet. Etwas Licht dringt durch die grossen Fenster herein, wenig genug an diesem nebligen Oktobertag, so dass erst mit dem Einschalten der neu installierten indirekten Beleuchtung der Raum selbst sichtbar wird.

Wer andere Klosterbibliotheken kennt, etwa jene in St. Gallen oder St. Urban, ist zuerst einmal erstaunt ob der trotz allem Schmuck spürbaren Kargheit der Stiftsbibliothek Einsiedeln. Anklänge an die opulente Pracht der Klosterkirche und an die Eleganz des Fürstensaales sind zwar durchaus feststellbar, die Atmosphäre aber ist eine ganz andere. Pragmatische Forderungen an die Benutzbarkeit drängen in den Vordergrund. Der spartanisch schlichte Tannenriemenboden lädt zum Gehen und Suchen, aber nicht zum Verweilen ein. Sitzgelegenheiten gibt es ohnehin nicht. Die Wände und das Gewölbe sind mit hübschen Régencestukkaturen überzogen, eine geschwungene, auf Stuckmarmorsäulen gestützte Galerie umspielt den Raum, der einen Repräsentationsanspruch erhebt, aber den einer Rüstkammer, wo der Inhalt den Schmuck darstellt.

Die Bibliothek diente denn auch nie einem andern Zweck als dem der übersichtlichen Bücheraufbewahrung, hier fanden weder Versammlungen noch Theateraufführungen statt. Man holte sich Bücher, benutzte sie auf den Zellen und brachte sie anschliessend wieder zurück. Praktisch und schnörkellos, wie es der zu Zeiten des hl. Meinrad im 9. Jahrhundert auf der Reichenau lebende Bibliothekar Reginbert seinen Mitbrüdern anmahnte: «Öffne das Buch und lies, mach es zu, gib's zurück, ohne Schaden!»

Die Benutzbarkeit der Bibliothek galt Pater Odo als oberstes Prinzip allen Planens und Bauens. Es war mir ein grosses Anliegen, sagt er, dass die Bibliothek als Werkzeug restauriert werde, nicht als Museum. Sie muss in erster Linie nützlich sein. Natürlich ist der Raum in seiner Architektur und Ausstattung Teil der kulturellen Substanz des Klosters, die als solche erhalten und gepflegt werden soll. Er ist aber keineswegs ein Festsaal. Das erste Sichtbare sind die Bücher. Die uralte Beziehung des Mönchs zu den Büchern ist hier geradezu exemplarisch erlebbar. Zu sehen ist ein praktisch gebauter und organisierter Bücherraum, ein gut geschütztes Behältnis, das der Lagerung und der Erschliessung von Büchern dient. Das Buch dominiert. Die Farben, Stukkaturen und weiteren Zierden sind hinter die Präsenz der Bücher zurückgenommen.

 

Das Gedankengebäude

BildDie Zurückhaltung trügt. Bei näherem Betrachten entwickelt der Raum subtile Bedeutungsschichten, Inhalte, welche die Büchersammlung über die Innenarchitektur hinaus zum Gedankengebäude werden lassen. Auszugehen ist von den Büchern selbst, von dem zur Bauzeit der Bibliothek 1738 im Kloster vorhandenen Bestand, der sich nicht etwa einheitlich gebunden präsentiert, sondern mit seinen verschiedensten Einbänden in Leder und Pergament an sich schon das über einen langen Zeitraum Gewachsene darstellt. Diese Bücher bilden an den Schmalseiten über die ganze Raumhöhe geführte eigentliche Bücherwände, während sie an den langen Fensterfronten in Pfeilern das Gewölbe stützen. Nicht nur optisch, Rücken an Rücken, sondern auch statisch, denn die Gestelle sind kraftschlüssig an die Wand und unter die Galerie gefügt.

An den Fensterlaibungen wachsen Lorbeerbäume aus dem Holzboden und tragen auf ihren Zweigen Medaillons mit Stuckporträts der Päpste und Kaiser. Petrus und Julius Cäsar stehen am Anfang, Benedikt XIV. und Karl VI. weisen in das Vollendungsjahr 1740. Umhüllt von dieser Sphäre der kirchlichen und weltlichen Macht, entwickelt sich das Programm von der durch die Bücher gebildeten Peripherie ins Zentrum des Raumes. Die ionischen Stucksäulen verleihen dem Saal jene Aura der Gelehrsamkeit, welche die Theoretiker dieser Architekturordnung zuwiesen. Die vier die Galerie stützenden Säulen im Westen zeigen Motive der vier Jahreszeiten, Blumen, Ähren, Trauben und Pelzwerk, die Säulen im Osten symbolisieren die vier Elemente mit dem Vogel, dem brennenden Herzen, den Fischen und den Früchten der Erde.

Die zwei Schichten der Weltgeschichte und der Naturlehre werden vollendet in der Mittelachse der Bibliothek, deren Endpunkte die in das zierliche Eisengitter der Galerie geflochtenen Wappen des Abtes Niklaus Imfeld und des Konvents bilden. Dazwischen stehen drei grosse Säulen. Zusammen mit den Bücherpfeilern an den Wänden tragen sie das Gewölbe. Die ionischen Kapitelle dieser Stützen sind wiederum mit unscheinbaren Symbolen verziert, fransenbesetzte Tücher hängen zwischen den Voluten, Blumen und Trauben. Da sich die Säulenreihe im Zentrum des Saales befindet und durch die Wappen als Bedeutungsachse des Klosters definiert ist, darf postuliert werden, dass hier das geistige Rückgrat der Benediktinerabtei versinnbildlicht worden ist, die Lebensform der Mönche zum Beispiel, wie sie der hl. Benedikt in seiner Regel darlegt: Die drei Säulen des benediktinischen Selbstverständnisses sind der Gottesdienst, die geistliche Lesung und die Handarbeit. So betrachtet, symbolisiert das Tüchlein als Kelchvelum den Gottesdienst, die Trauben erinnern als Früchte der Erde an die praktische Arbeit des Mönchs. An der Mittelsäule des ganzen Raumes aber erscheint die mystische Blume, ein Sinnbild monastisch kontemplativen Lebens und, folgen wir dem barocken Mystiker Angelus Silesius, ein Hinweis auf Gott. Im Cherubinischen Wandersmann schrieb er: «Bistu aus Gott gebohrn, so blühet Gott in dir.» Das Büchlein steht in der Bibliothek. Wenn es wieder Sommer geworden ist und die Wärme zu neuer Lektüre animiert, wird der Raum weitergelesen werden können, neu und anders wohl. Der Gedanken jedenfalls sind noch viele.

 

Heinz Horat

 

 

Die Stiftsbibliothek in Stichworten

zz. Mit der Gründung des Klosters Einsiedeln durch Abt Eberhard entstand im Jahre 934 auch die Bibliothek. Heute umfasst sie 1230 Handschriften, 1040 Bände Inkunabeln und Frühdrucke, 260 Mikrofilme und rund 170 000 gedruckte Bücher. Jährlich kommen 800 bis 1000 Bände dazu, rund 200 Periodika liegen auf. Besonders wertvoll ist die graphische Sammlung mit 10 000 Blättern und 100 000 Andachtsbildchen.

Die Bibliothek ist beschränkt zugänglich und benützbar, eine Voranmeldung (Telefon [055] 418 63 14) ist erforderlich. Die Planung der gesamten Umstrukturierung, Sanierung und Restaurierung der Stiftsbibliothek begann 1991. Drei Jahre später setzten die Bauarbeiten mit der Bereitstellung eines Untergeschosses zur Einrichtung der neuen Handbibliothek und des Kulturgüterschutzraumes ein. 1996 wurden die Bücher aus der Stiftsbibliothek ausgelagert, damit der barocke Raum selbst restauriert werden konnte.

Die Kosten des Gesamtprojekts betragen rund 6,3 Millionen Franken. Nach Abzug der zugesicherten Subventionen von Bund und Kanton Schwyz verbleiben Nettokosten von 5,3 Millionen Franken. An diese Summe steuert das Kloster 1 Million bei. Die verbleibenden Kosten sollen mit Hilfe der Vereinigung der Freunde des Klosters Einsiedeln sowie durch Spenden von Stiftungen und Privaten gedeckt werden. 

 


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