Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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NZZ LEBENSART 21.10.2000
Irrgärten - magische Plätze und Orte für Spass und Spiel
Die neu entdeckte Lust am Labyrinth als künstlerische Installation
Als uralter Ort der Kraft und Magie begleitet das Labyrinth seit je die Menschen in vielen Teilen der Welt. Es ist ein faszinierendes, rätselhaftes Symbol, ist Schauplatz kirchlicher Rituale und mythologischer Begebenheiten aus dem antiken Griechenland. Gleichzeitig ist es als Heckenlabyrinth ein kunstvolles Schmuckstück in formalen Gartenanlagen, diente seit der Renaissance den Reichen und Schönen als neckische Abwechslung beim Lustwandeln und bei erotischen Tändeleien. Bis in unsere Zeit hat das zum ins Unbekannte Eintauchen, sich Verirren und wieder Hinausfinden auffordernde Labyrinth nichts von seiner Anziehungskraft eingebüsst, ist gleichsam zu einer Art Volksvergnügen, zum köstlichen Nervenkitzel für Gross und Klein geworden.
So irren denn alljährlich rund eine halbe Million Touristen durch das vielleicht berühmteste Heckenlabyrinth der Welt, das Hampton Court Maze in der englischen Grafschaft Surrey, das in der Tudor-Zeit, um 1690, angelegt wurde und mit seinen übermannshohen Eibenhecken bis 1997 auch als ältestes, originales englisches Heckenlabyrinth galt. Der sich durch den trapezförmigen Irrgarten ergiessende Besucherstrom hatte indes den akkurat geschnittenen dunkelgrünen Pflanzenwänden derart zugesetzt, dass sie vor drei Jahren gerodet und wieder neu angepflanzt werdenmussten. Aus dem «grünen Verlies» von Hampton Court mit seinen vielen Irrwegen und Sackgassen hat schon mancher nicht mehr alleine herausgefunden, so dass ein Schild am Eingang des Labyrinths unbegleiteten Kindern den Eintritt verwehrt.
Ungleich leichter machen es die Labyrinthwächter im Garten der Villa Pisani im italienischen Stra am Brenta-Kanal den zahlreichen Neugierigen, die in ihr Reich eindringen: Vom Turm herab in der Mitte des Irrgartens fuchteln sie mit Stöcken und rufen den Suchenden «a destra» oder «a sinistra» zu. Folgt man ihren Ratschlägen, erntet man ein anerkennendes «bravo,ha fatto bene» und in der Mitte ein aufmunterndes Schulterklopfen.
Labyrinthe und Irrgärten
Sprechen wir heute von einem Labyrinth, meinen wir damit meist einen Irrgarten, eine Anlage, die dem Besucher verschiedene Wege zur Wahl anbietet, ihn in Sackgassen oder buchstäblich in die Irre führt. Wer sich in den Irrgarten begibt, stellt sich einer Prüfung und entscheidet selbstverantwortlich, wohin er sich wenden will. Bildnerische Darstellungen von solchen Irrgärten sind erst seit dem 15. Jahrhundert bekannt; von der Antike bis zur Renaissance weisen nämlich alle Labyrinthbilder und -bauten nur einen einzigen Weg auf, bieten also keine Verirrungsmöglichkeiten. Ein durchgehender, hin und her schweifender, ständig die Richtung wechselnder Weg fülltden gesamten Innenraum des klassischen Labyrinths aus. Als grafische, lineare Figur lässt es sich am besten von oben betrachten. Durch eine kleine Öffnung in der Aussenwand betritt der Suchende das Labyrinth und gelangt nach vielen Umwegen zwangsläufig ins Zentrum. Um wieder nach draussen zu finden, muss er dort seine Gehrichtung ändern, gleichsam den Eingangsweg zum Ausgangsweg machen.
Die Ursprünge der Labyrinthfigur werden im Mittelmeerraum vermutet, bronzezeitliche Felsritzungen geben darauf erste Hinweise. Der älteste Labyrinthtyp stammt vermutlich aus Kreta und besitzt als Basisform sieben Umgänge. Nach der Mythologie hatte im zweiten vorchristlichen Jahrtausend der am Hof von König Minos in Knossos lebende athenische Handwerker Dädalus das Labyrinth als Gefängnis für den stierköpfigen Minotaurus geschaffen. Zu diesem Ungeheuer mussten alle neun Jahre jeweils sieben athenische Mädchen und Jünglinge ins Labyrinth geführt werden. Schliesslich gelang es Theseus, dem athenischen Königssohn, den Stiermenschen in seinem Verlies zu töten. Mit Hilfe eines Wollfadens von Minos' Tochter Ariadne fand der griechische Held den Rückweg aus dem Labyrinth und floh zusammen mit der Königstochter auf die Insel Naxos, wo er sie feige sitzen liess und heim nach Athen segelte. Dädalus, den Minos im Labyrinth einsperrte, konnte sich mit Hilfe einer aus Wachs und Federn gebastelten Flugmaschine befreien und in die Lüfte erheben.
Ein Rätsel bleibt, weshalb Theseus einen Faden für seinen Weg aus dem Labyrinth brauchte, wies es doch wie seine Nachfolger aus Stein und Rasen weder Gabelung noch Kreuzung auf. Das Urlabyrinth erscheint als Tanzplatz und als Reigentanz von ritueller Bedeutung, später - etwa auf dem Steinboden der Kathedrale von Chartres - als christlicher Erlösungs- und Heilsweg, den die frommen Pilger abzuschreiten hatten. Auch der Gang ins Labyrinth als Initiationsritus, als geistige Wiedergeburt ist denkbar oder die kosmischeDeutung als heilige Hochzeit, als die lebensspendende Vereinigung von Vater Himmel und Mutter Erde. Eher ins Kultisch-Magische verweist der in Skandinavien gepflegte Brauch, Steinlabyrinthe zu bauen, um darin störende Winde oder feindliche Kobolde zu fangen.
Verwirrspiele zwischen Hecken
Auf dem Weg zum intimen Raum für lockere erotische Spiele zwischen hohen Hecken entstanden in den Schlossparks der Renaissance zuerstlabyrinthförmige, von Buchs eingefasste Blumenbeete. Diese boten indes Einblick von allen Seitenund verunmöglichten es, sich im Irrgarten wirklich ungestört zu fühlen. In ihren Gärten und Parks liessen deshalb die europäischen Adeligen ab dem 17. Jahrhundert die Buchshecken der Labyrinthe durch Eiben oder Hainbuchen ersetzen, die ihre Wirkung durch ein relativ schnelles Wachstum besser entfalten konnten. Vor allem im Zeitalter des Barocks entwickelten sich die Irrgärten hinter hohen Hecken in Europa zu einer gewaltigen Modeerscheinung.
Sie widerspiegelten zum einen die Lust ihrer Erbauer an dekorativen Formen und gelehrten Anspielungen. Zum andern boten sie den müssiggängerischen Benutzern den Kitzel, sich der angeblichen Gefahr des Sichverirrens auszusetzenoder die diversen Versteckmöglichkeiten auszuprobieren. Die diskret abschirmenden Hecken luden ein, mit Unbekannten anzubändeln oder verbotenerweise heimliche Geliebte zu treffen.
Neben mathematisch ausgeklügelten Irrgärten mit einer Art Insel um die Mitte, welche die Suchenden kurz vor dem Ziel immer wieder zum Eingang zurückwarf, gab es auch freiere Formen, wie etwa in Glendurgan bei Falmouth an der Ostküste Cornwalls. Dieses 1833 von Alfred Fox mitLorbeerbäumen aus frei fliessenden, weich gekrümmten Linien gestaltete Labyrinth gehört zuden ältesten, noch mit der ursprünglichen Bepflanzung erhaltenen Beispielen in England und wird heute vom National Trust gepflegt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts schwärmte man in ganz Europa von «natürlich» angelegten Gärten - viele Labyrinthe wurden damals zerstört. Wie in der Mode gibt es aber auch in der Gartenkunst immer wieder Rückgriffe auf ältere Stile, und so taucht seit gut zwei Jahrzehnten das Labyrinth wieder aus der Versenkung auf.
Labyrinthe in allen Lebenslagen
Mit der Firma «Minotaur Design» beglückt der britische Entwerfer Adrian Fisher seine Kundschaft in der ganzen Welt mit Labyrinthen ausden verschiedensten Materialien. Seine Kreationen finden sich zum Beispiel in der Londoner Untergrundbahnstation Warren Street als in die Wand eingelassener Irrgang aus Keramikkacheln, als Labyrinthe aus spiegelnden oder wasserspeienden Wänden in Erlebnisparks, aus farbigenBodenmosaiken in Einkaufsstrassen, aus Buntglasfenstern und Tapisserien in Privatvillen oderaus Trittpfaden auf einer Rasenfläche. Mit solchen Flachlabyrinthen bezieht sich der Designer auf die englische Tradition der «Turf Mazes», der Rasenlabyrinthe, bei denen die trennenden Linien in die Grasnarbe gestochen wurden.
Inspiriert von den mittelalterlichen Liebeslabyrinthen mit ihren Lauben und Maibäumen im Zentrum bauten die Brüder Lindsay und Edward Heyes 1981 in Wales das «Jubilee Maze», in welchem den Besuchern zwischen den Zypressenhecken skurril gewandete Gestalten auf Stelzenoder Einrädern begegnen, die an Vergnügen vergangener Zeit erinnern.
Maislabyrinthe als Themenparks
Seit einigen Jahren werden an verschiedenen Orten Europas sommerliche Maislabyrinthe auf riesigen Feldern als eigentliche Themenparks angepflanzt, so etwa in Muri bei Bern, wo ein vier Kilometer langes Wegnetz durch Tausende von Maispflanzen führte und am Ausgang des Irrgartens die Besucher mit einer Belohnung überrascht wurden. Besonders populär sind die Maislabyrinthe in Westfrankreich, etwa in der Touraine: Zum hundertsten Geburtstag von Antoine de Saint-Exupéry wurden dort in diesem Jahr Labyrinthbilder mit Szenen aus der Geschichte des «Kleinen Prinzen», seine Besuche bei den Planeten, gestaltet. Der schnell und hoch wachsende Mais lässt eindrucksvolle vegetabile Wändeentstehen und schafft undurchsichtige Begrenzungen. Schauspieler und Musiker sorgen in den «Labyrinthen auf Zeit» für Unterhaltung.
Die bis zu zehn Hektaren grossen Maislabyrinthe sind wohl nicht allein von den Heckenlabyrinthen inspiriert, sondern erinnern an die geheimnisvollen englischen Kornkreise, die wie von Geisterhand aus dem Korn geschnitten jeden Sommer für Gesprächsstoff sorgen. Wie die Kornkreise liegen die Maislabyrinthe auf freiem Feld und lassen sich nur aus der Luft als Ganzes erfassen. Mit den Heckenlabyrinthen haben sie indes die Idee des spielerischen Eintauchens ins Unbekannte gemein. Wie ein Puzzle, das sich aus unzähligen Stücken zusammensetzt, führt das Umgehen von Sackgassen und Kreuzungen im Irrgarten schliesslich zum Ziel.
Suzanne Kappeler
Labyrinth in der Schweiz
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