Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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NZZ 31. Oktober 2001

 

Schöne neue Welt, die solche Bücher erträgt

Stephen Hawkings «Universum in der Nussschale»

Mit Stephen Hawking, dem Mann im Rollstuhl, lässt sich viel Geld verdienen. Es war also zu erwarten, dass nach dem Weltbestseller «Eine kurze Geschichte der Zeit» ein weiteres Buch von Hawking auf den Markt kommen würde. Es liegt nun vor und informiert die Leser mit etwas wenig Text und vielen bunten Bildern über die Relativitätstheorie und andere Möglichkeiten, das Universum zu begreifen. Im letzten Kapitel beschwört Hawking eine «schöne neue Branwelt», was konkret bedeutet, dass er die Frage zu beantworten versucht, ob wir auf einer Bran leben: «Es könnte sein, dass wir auf einer 3-Bran leben, einer vierdimensionalen Fläche (drei Raumdimensionen plus eine Zeitdimension), die der Rand einer fünfdimensionalen Raumzeitregion ist. Der Zustand der Branwelt kodiert, was in der fünfdimensionalen Region vor sich geht.»

Bran, Membran

Bran? Branwelt? Was soll das? Im Glossar des Buches steht, dass es sich bei einer Bran um das ausgedehnte Objekt einer Theorie handelt, auf dem man trotzdem stehen kann, um schwarze Löcher und andere exotische Gebilde zu beobachten. - Bei solchen Sätzen versteht man nur, dass eine Bran für Physiker wichtig ist, die das Universum verstehen wollen. Allerdings teilt Hawking uns nicht den Grund dafür mit. Er liegt darin, dass mit der Hilfskonstruktion namens Bran ein Weg gefunden wurde, um die Schwerkraft, die im Kosmos vorherrscht, mit den anderen Kräften zu vereinigen. Mit Hilfe von Branen können Physiker zum ersten Mal verstehen, wie die Gravitation sich bei extrem kleinen Abständen auswirkt - wenn man das Universum in einer Nussschale hätte -, und auf diese Weise kommen sie ihrem so lange angestrebten Ziel einer einheitlichen Sicht der Naturkräfte wenigstens einen Schritt näher.

Der Trick besteht darin, dem Kosmos quasi eine Hülle zu geben, die nur die Schwerkraft (und zum Beispiel kein Licht) durchlässt, und dies erklärt auch, woher das seltsame Wort Bran kommt. Es ist die zweite Silbe der Membran, also des Wortes, mit dem die Biologen die Hülle einer Zelle bezeichnen. Leider merkt die Übersetzung nicht an, dass es hier einen Wortwitz zu belächeln gäbe. Im Englischen wird «brane» nämlich so ausgesprochen wie «brain», was Gehirn heisst. Wer jetzt nicht auf seinem sitzt, darf lachen.

Es gibt in dem Buch auch weniger schwierige Witzchen, etwa dann, wenn Hawking darauf hinweist, dass sein Lehrstuhl ein Rollstuhl ist, oder wenn er bedauernd feststellt, dass man seine Theorie nicht testen kann, weil man dafür Apparate braucht, die grösser als unser Sonnensystem sind, was bei der angespannten Haushaltslage wohl nicht realisiert werden könne. - So etwas hat bestenfalls Stammtischqualität, und dieses Urteil muss man auch auf weniger lustige Behauptungen von Hawking ausweiten. Schon in seinem ersten Buch hat Hawking zu erkennen gegeben, dass er den Unterschied zwischen Mathematik und Wirklichkeit nicht wahrhaben will. Und in dem neuen Buch behauptet er, mit mathematischen Mitteln den Beweis für einen punktuellen Schöpfungsakt erbracht zu haben.

An dieser Stelle kann nicht deutlich genug an Albert Einstein erinnert werden, der all seinen Mitstreitern und Nachfolgern Folgendes ins Stammbuch geschrieben hat: Die Mathematik ist nur sicher, wenn sie sich nicht auf die Wirklichkeit bezieht. Wenn sie dies tut, sind ihre Auskünfte nicht mehr sicher - weil sie interpretiert werden müssen, wie hinzugefügt werden darf.

Ein Phänomen

Mit Einstein ist ein Stichwort gefallen, das benötigt wird, um das Phänomen Hawking zu erklären. Wenn man Kalauer schätzt, könnte man sagen, dass Stephen die alberne Ausgabe von Albert ist. Hawking versucht jedenfalls alles, um sein Vorbild zu imitieren (oder seine Manager versuchen dies). Eine von Einsteins grossen Leistungen besteht darin, die (nicht nur) von Immanuel Kant gestellte Frage, ob die Welt einen Anfang in Raum und Zeit haben kann, aus dem Bereich der spekulativen Philosophie in die Sphäre der theoretischen Physik geholt zu haben. Einstein konnte sogar die Frage nach dem Anfang im Raum beantworten, indem er Raum und Zeit zusammenführte und als Gesamtheit mit vier Dimensionen betrachtete. In der Welt als Ganzem - so Einstein - gelten Regeln wie auf der Oberfläche einer Kugel. Man kann auf ihr zwar unendlich kreisen, kommt aber nie an eine Grenze, was bedeutet, dass der Kosmos keinen Anfang im Raum haben kann.

Hawking will Einsteins Lösung übernehmen, wenn er von den erwähnten Branen spricht, die man sich als vierdimensionale Kugelfläche vorstellen soll, die ihrerseits die Grenze einer fünfdimensionalen Blase zu bilden hat. Man merkt die Absicht und ist verstimmt, weil Hawking dasselbe schon in seinem ersten Buch versucht hat. Auch hier hat er - was sonst? - eine neue Dimension eingeführt, diesmal eine imaginäre für die Zeit.

Hawking imitiert Einstein, wo er kann, nur nicht da, wo es wichtig wäre. Nachdem der Vater der Relativitätstheorie verstanden hatte, dass jeder seiner Piepser zu einem Trompetensolo aufgebläht wurde, hielt er bei vielen Fragen den Mund. Im Gegensatz dazu äussert sich Hawking selbst munter zu Themen, von denen er gar nichts versteht. Wenn er sich der Genetik zuwendet, kommen zuerst die Fehler - er verwechselt die biologische Information mit dem genetischen Code und meint, Gene kopierten sich selbst - und dann die Gedankenlosigkeiten. Hawking redet der gentechnischen Veredlung des Menschen das Wort und empfiehlt die Züchtung von Embryonen ausserhalb des menschlichen Körpers zur Erhöhung der Intelligenz.

Was macht den Autor so populär? Ein Teil der Bewunderung hat sicher mit der Tatsache zu tun, dass Hawking mit Mut und Ausdauer seiner schweren Krankheit widersteht. Sein Auftreten zeigt, dass man das Leben auch in behinderter Form meistern und dabei sogar seinen Humor bewahren kann. Da Hawking nicht direkt, sondern nur durch einen Computer zu uns sprechen kann und er nur noch über einen winzigen Körper verfügt, entsteht der Eindruck, er sei nur noch Geist, der durch eine Maschine mit uns Kontakt aufnimmt, was natürlich faszinierend wirkt.

Allgemeiner stellt sich die Frage nach der Popularität von Wissenschaftern, die wenig erkundet worden ist. Wer versucht, den öffentlichen Bekanntheitsgrad von Einstein zu erklären, kann vier Faktoren aufzählen. Zum einen handeln Einsteins Theorien von Dingen, die zwar niemand versteht, die aber erklären, was jeder verstehen will. Zum Zweiten hat Einstein ab und zu schlichte Banalitäten oder feine Ironien unter das Volk gestreut («Gott würfelt nicht»), so dass es den Eindruck gewinnen konnte, doch etwas zu verstehen. Drittens hat er sehr genau darauf geachtet, dass sein Äusseres auffällig ist. Und viertens hat Einstein allen Ulk mitgemacht, in den ihn Journalisten hineinzogen. Hawking hat diese vier Punkte auf seine Weise verstanden, ohne allerdings bei der Nachahmung die Substanz des Vorbildes zu erreichen.

Ausser mit Einstein hält es Hawking auch mit Shakespeare, von dem der Titel des Buchs stammt und der zuletzt auch noch herhalten muss, um eine «schöne neue Branwelt» herbeizuwünschen. Spätestens an dieser Stelle fällt einem das 66. Sonett ein, dessen Anfang man so übersetzen könnte: «Wenn ich dies alles seh, dann möcht ich sterben: / Zur Bettelei verdammt ist Tüchtigkeit, / und Nullität darf Glück und Glanz erwerben, / und Treue wird zerstört durch Lügeneid, / und goldnen Lohn empfängt der falsche Mann . . .»

Ernst Peter Fischer

Stephen Hawking: Das Universum in der Nussschale. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2001. 224 S., Fr. 44.50.

 

 


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