Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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NZZ Literatur und Kunst, 2. Februar 2002, Nr. 27, Seite 80

 

Wie weise sind die Weisheitsliebenden?

Pythagoras als Schöpfer des Wortes «Philosophie»

Von Christoph Riedweg

«Satz des Pythagoras», Sphärenharmonie, Seelenwanderung, Vegetarismus und Bohnentabu - das sind einige der Assoziationen, die Pythagoras bis heute evoziert. Sprachschöpferische Tätigkeit gehört kaum dazu. Und doch scheint der legendenumrankte Denker und Weisheitslehrer des 6. und frühen 5. Jahrhunderts v. Chr. in der Antike gerade auch dafür bewundert worden zu sein. «Was ist das Weiseste?», fragt einer jener rätselhaften Sprüche, die zum ältesten Bestand der Überlieferung gehören, und nennt nach der für die pythagoreische Welterklärung fundamentalen «Zahl» an zweiter Stelle «das, was den Dingen ihren Namen gibt».

Als Leistung des «Namengebers» Pythagoras galt ausser der Übertragung des Wortes kósmos («Ordnung, Schmuck, kunstvolles Werk») auf das wohlgeformte Weltall in erster Linie die Prägung des Kompositums philó-sophos: «weisheitsliebend, Weisheitsfreund». Angesichts des Erfolgs, den die Wortprägung in der abendländischen Geistesgeschichte hatte, überrascht es kaum, dass sich die Forschung wiederholt der Frage ihrer Herkunft angenommen hat. Die Ergebnisse fielen divergierend aus: hier die Bereitschaft, der in dieser Hinsicht einhelligen antiken Überlieferung im Wesentlichen zu folgen; dort schwere Bedenken gegen unsere Hauptquelle, den Platon-Schüler Herakleides Pontikos (um 390 bis nach 322 v. Chr.).

Dieser schilderte in seinem Dialog «Über die nicht mehr atmende Frau oder über Krankheiten» die Umstände, in denen Pythagoras das Wort erstmals gebraucht haben soll. Der Dialog als Ganzes ist verloren, doch hat Cicero die farbenfrohe, zum Nachdenken anregende Anekdote glücklicherweise ins fünfte Buch seiner «Gespräche in Tusculum» aufgenommen. Nach einem hymnischen Lob auf die Philosophie als «Lenkerin des Lebens» räumt er ein, dass der Name im Unterschied zur an sich «uralten» Sache jung sei und diejenigen, die ihr ganzes Streben auf die «Betrachtung der Dinge» (rerum contemplatio) verlegt hätten, früher «Weise» (sapientes, griech. sophoí) genannt worden seien:

Und diese Bezeichnung hielt sich bis in die Zeit des Pythagoras. Von ihm wird - wie der Platon-Hörer Herakleides Pontikos, ein ausserordentlich gebildeter Mann, schreibt - berichtet, er sei nach Phleius gekommen und habe sich mit Leon, dem Herrscher der Phleiasier, über etliche Dinge in gelehrter und gewandter Weise unterhalten. Da Leon seine Intelligenz und Beredtheit bewunderte, habe er ihn gefragt, auf welche Kunstfertigkeit er sein Selbstvertrauen denn insbesondere stütze. Er aber [habe erwidert], er verstehe sich auf keine Kunst, sondern sei «Philosoph». Aus Verwunderung über die neue Bezeichnung habe Leon gefragt, wer denn die Philosophen seien und welcher Unterschied zwischen ihnen und den übrigen Menschen bestehe.

Pythagoras aber habe geantwortet, das Leben der Menschen scheine ihm jenem Markte ähnlich, der aus Anlass der glänzendsten Spiele [in Olympia] unter festlicher Beteiligung ganz Griechenlands abgehalten werde. Denn wie dort die einen mit ihren trainierten Körpern nach Ruhm und Ehre des Siegeskranzes strebten, andere durch die Aussicht auf profitable Kauf- und Verkaufsgeschäfte angezogen würden, es aber auch einen Typus von Menschen gebe (und dies sei unstreitig der vornehmste), die weder Applaus noch Profit suchten, sondern um des Schauens willen kämen und wissbegierig sich genau ansähen, was sich zutrage und auf welche Weise: Desgleichen seien wir, wie zur Festversammlung eines Jahrmarkts aus einer Stadt, so in dieses Leben aus einem anderen Leben und einer [anderen] Natur aufgebrochen und dienten nun teils dem Ruhm, teils dem Geld; nur einige wenige gebe es, die von allem Übrigen nichts hielten und die Natur der Dinge wissbegierig betrachteten. Diese nenne er «auf Weisheit Bedachte» (das heisst nämlich «Philo-sophen»). Und wie dort das Zusehen, ohne sich etwas zu erwerben, das Vornehmste sei, so überrage im Leben die Betrachtung und Erforschung der Dinge alle [anderen] Betätigungen bei weitem (Cic. Tusc. 5,8 f.).

GÖTTLICHE WEISHEIT?

Eine sprachliche Pointe der Neuschöpfung dürfte bei Herakleides darin bestanden haben, dass das Wort sophós, welches im Griechischen zunächst jede Art von praktischer Fertigkeit, besonders auch der musischen, bezeichnet und dann im übertragenen Sinn auch von «Lebensklugheit, Weisheit» gebraucht wird, im Original wohl bereits in Leons Frage vorkam: «In welcher Kunstfertigkeit (téchne) bist du geschickt (sophós)?» wird er sich bei Pythagoras erkundigt und die Antwort erhalten haben, er sei in keiner téchne sophós, sondern ein philó-sophos.

Auf Herakleides beruft sich auch Diogenes Laertios (Mitte des 3. Jh. n. Chr.?) in der Einleitung seiner Philosophenviten: «Als Erster verwandte Pythagoras die Bezeichnung ‹Philosophie› und [nannte] sich selbst einen ‹Philosophen›, als er sich in Sikyon mit Leon unterhielt, dem Tyrannen der Sikyonier - oder der Phleiasier, wie Herakleides der Pontiker in seinem Werk ‹Über die nicht mehr atmende Frau› sagt. Keiner sei nämlich weise ausser Gott» (Diog. Laert. 1, 12).

Neu gegenüber Cicero ist vor allem die Erläuterung, die Bezeichnung «weise» stehe allein Gott zu. Der Zusatz bildet eine der Hauptstützen für Forscher, welche die aitiologische Geschichte für eine Erfindung der platonischen Akademie halten (u. a. W. Jaeger und W. Burkert). In der Tat ist es für Platon charakteristisch, dass er das Attribut «weise» dem Göttlichen vorbehält und der Philosophie, die als «Streben nach Weisheit» verstanden wird, eine Zwischenstellung zwischen sophía und amathía («Unwissenheit, Dummheit») zuweist. Es scheint indessen fraglich, ob diese Ergänzung auch wirklich von Herakleides stammt. Denn wie H. B. Gottschalk gezeigt hat, fügt sie sich schlecht in den Argumentationsgang ein. Im Gleichnis entspricht den Philosophen die dritte Gruppe der Festteilnehmer, welche ihr Ziel, das wissbegierige Schauen, ohne Zweifel erreicht. Wie sollte dies dann den Philosophen grundsätzlich vorenthalten bleiben?

Auch der grössere Kontext des Dialogs spricht gegen die Authentizität des Zusatzes. Aus den Fragmenten zu schliessen, berichtete Empedokles' Schüler Pausanias von der Wiederbelebung einer seit Tagen reglos daliegenden, scheintoten Frau: Während die «Schulmediziner» sie für tatsächlich tot hielten, erkannte Empedokles auf Grund seiner hellseherischen Begabung, dass ihre Seele lediglich in Ekstase für kurze Zeit den Leib verlassen hatte. Die Wiedererweckung der Frau scheint als triumphale Krönung des Lebenswerks des Empedokles geschildert worden zu sein. Herakleides dürfte Pythagoras dabei als Empedokles' Lehrmeister und Vorbild eingeführt haben, der genauso wie dieser zur höchsten, die Grenzen des Menschlichen übersteigenden Vollendung gelangt war. Die bescheidene Bestimmung der Philosophie als eines fortwährenden Bemühens um etwas letztlich Unerreichbares ist in diesem Zusammenhang schwer vorstellbar. Vielmehr dürfte es sich bei der Erläuterung um einen späteren platonisierenden Zusatz handeln.

Natürlich bedeutet dies umgekehrt nicht, dass Herakleides' Darstellung in allen Teilen zuverlässig wäre. Wie allein schon von der literarischen Gattung her zu erwarten ist, werden die Dialoge dieses begabten Schriftstellers vielmehr auch eine mimetische Eigendynamik entfaltet und Authentisches mit Fiktivem vermischt haben. Erheblichen Zweifeln unterliegt die Lokalisierung des Gesprächs in Phleius beziehungsweise Sikyon. Von einem Aufenthalt des Pythagoras in diesen beiden Städten im Nordosten der Peloponnes wissen die übrigen antiken Quellen nichts zu berichten. Hingegen ist überliefert, dass sie in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. nach Aufständen gegen die Pythagoreer in Unteritalien zu neuen Zentren des Pythagoreismus in Griechenland geworden sind. Die dortigen Gemeinden werden also alles Interesse daran gehabt haben, eine alte Beziehung zwischen ihren Städten und dem Meister herzustellen.

Fiktiv mutet ferner das Zwiegespräch zwischen Leon und Pythagoras an. Die Gegenüberstellung eines Weisen und eines Alleinherrschers ist ein in der Antike vielfach variierter Erzähltopos. Bei einem Platon-Schüler lässt überdies die Dreiteilung der Menschen in Diener des Geldes, Ruhmsüchtige und Philosophen aufhorchen: Im Platonischen «Staat» werden aus den drei Seelenteilen drei Hauptarten von Menschen hergeleitet (der profit-, der sieg- und der weisheitsliebende Typus). Allerdings könnte Platon in diesem Punkt auch an eine ältere Tradition anschliessen. Schon Herodot kennt eine vergleichbare Unterscheidung dreier Personengruppen, und in der frühgriechischen Lyrik und Philosophie finden sich zahlreiche Beispiele, die zeigen, dass man sich weit vor Platon über die unterschiedlichen Handlungsmotive der Menschen Gedanken gemacht hat.

LEBENSFORMEN

Da in der Alten Akademie und im Peripatos eifrig darüber diskutiert wurde, welche der beiden Lebensformen überlegen sei - die sich der Politik und der praktischen Betätigung verschreibende vita activa oder die ganz auf Wissenschaft und philosophische Betrachtung ausgerichtete vita contemplativa -, hat man auch in Herakleides' Lob der zweckfreien Betrachtung der Welt als einer Betätigung, die alle anderen bei weitem übertreffe, einen Beweis für den akademischen Ursprung der Episode zu erkennen geglaubt. Dabei wird aber vielleicht zu wenig bedacht, dass die historía, das betrachtende Erkunden und Erforschen der Natur und aller Dinge, schon Jahrzehnte vor Platon als das eigentliche Lebensideal der vorsokratischen Naturphilosophen galt, dem diese alles andere hintanstellten. Eindrücklich hat etwa der Tragiker Euripides (485/480- 406 v. Chr.) dieser Haltung Ausdruck verliehen: «Selig, wer Erkenntnis auf Grund / des Nachforschens (historía) gewinnt (. . .), / indem er die alterslose Weltordnung (kósmos) / der unsterblichen Natur betrachtet, auf welchem Weg sie entstanden ist / und woraus und wie, usw.» (Eur. fr. 910 N 2).

Auch das bunte, komisch verzerrte Gemälde, welches Aristophanes in den 423 v. Chr. aufgeführten und wenig später überarbeiteten «Wolken» hinter der Maske des Sokrates von den Intellektuellen seiner Zeit zeichnet, kommt der im Herakleides-Fragment skizzierten philosophischen Existenz in wichtigen Punkten recht nahe. Mit Ausnahme der sophistischen Rhetorik betreiben die Bewohner der «Denkerei» nämlich nichts anderes als das «wissbegierige Betrachten der Natur der Dinge»: Im Zentrum ihres Bemühens stehen kosmologische, astronomische und meteorologische Phänomene, für die sie nach «wissenschaftlichen» Erklärungen suchen. Interessant ist in unserem Zusammenhang auch die Tatsache, dass Aristophanes dieser Daseinsform einige unverkennbar (orphisch-)pythagoreische Züge verliehen hat, darunter insbesondere die Geheimhaltung der Lehre und eine asketische Lebensführung.

Das Wort theoría («Anschauen, Betrachtung») wiederum, welches bei Herakleides und in der Akademie die philosophische Betätigung umschreibt, wird zunächst einmal für die Gesandten einer Stadt verwendet, die an einer auswärtigen religiösen Feier teilnehmen oder zu einem Orakel pilgern. Diese Verwendung bleibt auch später in Gebrauch, so dass der Vergleich zwischen Festbesuchern, die etwa in Olympia in der Tat viel zu sehen bekamen - ausser religiösen Zeremonien und Wettkämpfen auch prächtige Bauten und Kunstwerke -, und den «Betrachtern» (theoroí) des wunderbar geordneten Alls jederzeit leicht möglich war. Das Wort theoría behält dabei zunächst die Konnotation der Ortsveränderung. So heisst es bei Herodot, der athenische Staatsmann und «Weise» Solon (um 640-560/559 v. Chr.) sei nach dem Erlass seiner Gesetze für zehn Jahre «um der theoría willen» verreist - oder, in der Übersetzung Walter Margs, «um zu schauen und zu lernen» (1, 29, 1). Die Reise führte Solon nach Ägypten und nach Sardeis, wo ihn Herodot mit dem dortigen König Kroisos zusammenbringt - ein frühes Beispiel für den bei Herakleides wiederkehrenden Topos der Begegnung eines Mächtigen und eines Weisen. Herodots Kroisos charakterisiert Solon zu Beginn des Zwiegesprächs folgendermassen: «Gastfreund aus Athen - zu uns ist nämlich viel Kunde über dich gekommen, sowohl wegen deiner Weisheit (sophíe) wie auch wegen deines Umherreisens, wie du ‹aus Liebe zur Weisheit› (philosophéon) weite Teile der Erde bereist hast, um zu schauen (theorías heíneken)» (1, 30, 2).

Umherreisen und dabei viele Dinge mit einer gesunden Neugier sehen wollen: Dies gilt offensichtlich als Vorbedingung für das Erlangen von sophíe (auch Pythagoras werden in den antiken Quellen zahlreiche Reisen zugeschrieben). Schon bei Herodot sind jedenfalls theoría und philosophía aufs Engste verknüpft. Die Selbstverständlichkeit, mit der er vom «Philosophieren» spricht, weist überdies darauf hin, dass das Wort kaum erst in den zwanziger Jahren des 5. Jahrhunderts v. Chr. - dem mutmasslichen Publikationsdatum von Herodots Geschichtswerk - geprägt wurde, sondern schon einige Zeit in Gebrauch war. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass es bereits von Heraklit verwendet wurde: «Gar vieler Dinge ansichtig» (hístores) müssten Männer werden, welche die Weisheit liebten (philósophoi), heisst es in einem bezüglich des ursprünglichen Umfangs allerdings umstrittenen Fragment (22 B 35 D.-K.). Die Aussage enthält möglicherweise eine Spitze gegen die Pythagoreer, deren Meister sich nach einer anderen Äusserung Heraklits durch überaus intensive, allerdings fruchtlose historía auszeichnete.

Kurzum: In den ältesten Zeugnissen, die bis an Pythagoras' Lebenszeit heranreichen, zeichnet sich ein Band zwischen der betrachtenden Erforschung der Welt (historía, theoría) und dem besonders eifrigen Bemühen um Weisheit, der philo-sophía, ab, welche Herakleides' Erzählung im Kern plausibel erscheinen lässt. Die Nachricht passt ausserdem auch vorzüglich zum Persönlichkeitsprofil des Pythagoras als eines selbstbewussten Charismatikers: Anders als die platonische Bestimmung des Wortes vermuten liesse, ist es ja nicht Selbstbescheidung, die den mit einzigartigen Fähigkeiten ausgestatteten, von den Anhängern als Zwischenwesen zwischen Mensch und Gott gefeierten Pythagoras dazu veranlasst haben soll, sich als philósophos zu bezeichnen. Ausschlaggebend dürfte vielmehr das Bedürfnis gewesen sein, die eigene überragende Klugheit und Einsicht von den vielen anderen «Könnerschaften» - dies der ursprüngliche Sinn von sophía - zu unterscheiden und sich vielleicht ausserdem von den älteren, noch nicht zur gleichen Höhe gelangten «Weisen» abzugrenzen.

Auch die Wahl von theoría zur Beschreibung der eigenen Tätigkeit wird auf dem Hintergrund von Pythagoras' Persönlichkeit einleuchtend: Das Wort, welches zuallererst offizielle Festbesucher und Orakelbefrager bezeichnet und auch später seinen sakralen Klang bewahrt, scheint nicht nur allgemein der pythagoreischen Existenzweise und dem Selbstverständnis als «hyperboreischer Apollon» überaus angemessen. Es passt insbesondere zur festlichen Inszenierung, durch die Pythagoras ähnlich wie Empedokles und moderne Charismatikerinnen und Charismatiker die beanspruchte Sonderstellung offenbar auch äusserlich markierte: Er kleidete sich in ein weisses Gewand und trug einen goldenen Kranz auf dem Haupt. Und ist es Zufall, dass nach alter Überlieferung gerade die olympischen Festspiele der Ort waren, wo sich Pythagoras einst - gewiss als Festgesandter seiner Stadt Kroton - erhoben und den Zuschauern seinen goldenen Schenkel gezeigt haben soll?

Gerade auf dem Hintergrund von Pythagoras' Auftreten also scheint es sehr wohl möglich, dass Herakleides' Darstellung im Kern zutrifft und nicht allein die in der Folge so wichtig gewordene Selbstbezeichnung philó-sophos, sondern auch die Beschreibung dieser Existenzweise als theoría auf den charismatischen Gründer einer politisch-religiösen Gemeinschaft in Kroton zurückgeht.

Im Frühling erscheint im Münchner Beck-Verlag von Christoph Riedweg das Buch: «Pythagoras: Leben, Lehre, Nachwirkung. Eine Einführung».

 

 


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