Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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NZZ Zeitfragen, 18. August 2001, Nr. 190, Seite 89

 

Panta rhei today

Zum Fluss der Zeit und zu den Punkten des Übergangs

Von E. Y. Meyer, Schriftsteller, Bern*

Im Senatszimmer der Universität Bern stehen auf der Innenseite über der Tür neben einer Uhr die beiden griechischen Wörter «panta rhei». In wie vielen Universitäten der Welt die Wörter an gleichem oder ähnlichem Ort sonst noch zu finden sind, weiss ich nicht. Übersetzt wird Panta rhei mit: Alles fliesst oder Alles ist im Flusse. Alles ist in Bewegung, und nichts bleibt stehen. Die Formel auch für unser heutiges Weltbild?

Den Mann, der ursprünglich die Formel «alles fliesst» schuf, kennen wir als Heraklit aus Ephesos. Wir zählen ihn zu den ionischen Naturphilosophen, die vom 6. bis zum 4. Jahrhundert vor Christus in den unabhängigen, demokratischen Seestädten Kleinasiens an der Küste der Ägäis in der heutigen Türkei lebten. Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen, schrieb Heraklit. Wenn man auch in denselben Fluss steigt, strömen doch immer wieder andere Wasserfluten zu; auch die Seelen steigen wie Dunst aus dem Feuchten empor.

Traumbilder und Weltbilder

Der Frühmensch, der sich im Lauf der Evolution aus dem Tierreich herauszulösen begann, könnte, wie heute vermutet wird, ein von Traumbildern geplagtes Wesen gewesen sein. Im Bemühen, gegen die Bilderflut, die aus einer grossen, ihm noch weitgehend nicht nutzbaren Hirnkapazität heraus in seinem Kopf entstand, einen Damm aus geordneten Tätigkeiten zu errichten, schuf er das, was wir heute als erste symbolische Instrumente ansehen: Sprache, Ritual, Tanz, Totem, Tabu, Religion und Magie. In einem langen, mühsamen und mühevollen Selbstumformungsprozess erwachte der Mensch aus dem Traumleben zu einem klareren Bewusstsein seiner selbst und seiner Sterblichkeit, die er Tod nannte. Sprache, Ritual, Tanz, Totem, Tabu, Religion und Magie bilden die Grundlage für die Höherentwicklung des Menschen - für die Schaffung der Götterwelten, für den Übergang zum abstrakten Denken, für die Entstehung technologischer Zivilisationen.

In der bisher erforschten und uns bekannten Menschheitsgeschichte glaube ich zwei Grundtendenzen feststellen zu können: eine Tendenz zur Befreiung aus Lebensumständen, die als nicht befriedigend erlebt werden; eine Tendenz zur Vereinheitlichung von Weltbildern, von denen man sich bessere Lebensumstände verspricht.

Das Erschaffen von Weltbildern erfordert eine ungeheure Kräftekonzentration, eine Menge an Denkarbeit in allen Bereichen des menschlichen Tuns, die sich über Hunderte von Jahren hinzieht und jeweils mit einem kolossalen Wandel der Lebenswirklichkeit und einer enormen Veränderung im Unterbewusstsein der Menschen verbunden ist. Ein ebenso schwieriger Prozess ist jener der Befreiung von einem Weltbild, das Umdenken von einem Weltbild zum andern. Das früheste menschliche Modell des Weltalls - ein Bild der Welt, dessen Erfindung und Vervollkommnung den bisher wohl grössten Zeitraum in der Menschheitsgeschichte in Anspruch genommen hat - ist das «Universum der Sprache», das wiederum als Basis zur Schaffung weiterer, neuer Weltbilder diente.

Von der Antike zum Christentum

Die Sicht des Materie-Geist-Zusammenhangs fällt in den verschiedenen Weltbildern jeweils zugunsten des einen oder des anderen Teils aus. Dazwischen gibt es Versuche, die beiden zu vereinen.

Die ionischen Naturphilosophen, die man auch die Vorsokratiker nennt, lösten sich aus der Abhängigkeit von einer mythologischen Götterwelt und wagten das selbständige Denken, das auf genauer Naturbeobachtung beruhte. Sie befreiten sich aus der Überlieferung, entwanden sich der Autorität der alten Religion und versuchten, die Naturphänomene zu erklären, ohne auf übernatürliche Kräfte und Wesen zurückzugreifen. In jener Übergangszeit, die sowohl neue geistig-religiöse wie materialistische und ganzheitliche Visionen hervorbrachte, entstanden die Grundlagen der europäischen Philosophie und Wissenschaft.

Die drei grossen klassischen Denker Griechenlands, Sokrates, Platon und Aristoteles, wandten sich danach wieder von der äusseren Natur ab und der inneren Natur des Menschen und dessen Leben in der Gesellschaft zu und begründeten die ethisch-idealistische Tradition der Philosophie.

Der nächste Schritt auf dem Weg zum modernen westlichen Weltbild war, dass die altgriechischen Glaubensrichtungen und Denkansätze vom Christentum verdrängt wurden. Göttliche Offenbarung ersetzte wieder weitgehend die selbständige menschliche Erkenntnis, nun allerdings nicht mehr in polytheistischer, sondern in einer neuen monotheistischen Form. Das Spirituelle gewann den Primat über die Materie. Aus griechischen und jüdischen geistigen Strömungen entstand das Konzept der christlichen «Seele».

Das mittelalterliche christliche Weltbild war eine dualistische Kosmologie, die eine physische und eine metaphysische Ordnung umfasste: einen Körper-Raum und einen Seelen-Raum, einen physikalischen Raum der Materie und einen immateriellen Raum des Geistes. Und seine grosse Verheissung war die himmlische Stadt des neuen Jerusalem - ein Ort, an dem es kein «alles fliesst» mehr geben würde, keine Veränderungen, kein Chaos und keine Ungerechtigkeiten, sondern die Befreiung davon durch die ewige Ruhe des Friedens und der Harmonie, des Glücks. Die Andersartigkeit des Bewusstseins und des Unterbewusstseins von Menschen, die mit anderen Weltbildern gelebt haben oder leben, ist für uns aus dem Weltbild heraus, mit dem wir selber leben, kaum nachvollziehbar.

Naturwissenschaftliche Dominanz

Ab der Renaissance im 15. Jahrhundert entstand das naturwissenschaftliche Weltbild, das heute in der westlichen Welt vorherrscht und von hier aus das Leben auf der ganzen Welt immer stärker dominiert. Der astronomische Himmel, den man ursprünglich als parallel zum christlichen Himmel existierend sah, dehnte sich immer weiter aus und liess keinen Platz mehr für die paradiesische Himmelsvorstellung.

Der Geist verlor nicht nur den Primat über die Materie, er wurde von der Materie vollständig verdrängt. Das beseelte, von einer Fülle lebenspendender Geister bevölkerte christliche Universum wurde in seiner Glaubwürdigkeit von einem nur noch mathematisch beschriebenen Kosmos abgelöst, einem rein mechanischen Universum. Die Menschen wurden zu Atommaschinen erklärt, die Erde zu einem Felsbrocken, der ziellos in einer unendlichen sinnlosen physikalischen Leere kreist. Das naturwissenschaftliche Weltbild ist kein dualistisches Weltbild mehr, es gibt in ihm nur noch die eine Realität der physikalischen Welt. Alles, auch das menschliche Leben und der menschliche Geist, ist ein endloses Fliessen materieller Teilchen.

Macht über die Dinge

Das erfolgreiche Suchen nach mathematischen Beziehungen in unserer Welt verschaffte der westlichen Kultur ein nie da gewesenes Wissen und eine Macht über die Dinge. Unzählige Technologien veränderten das Alltagsleben. Nicht nur weil die moderne Wissenschaft uns gleichzeitig an den Rand von globalen Katastrophen geführt hat, sind viele Menschen mit der streng materialistischen Anschauung zunehmend unzufrieden. Sie spüren, dass etwas Wesentliches in ihr fehlt. Sie empfinden den Materialismus nicht als eine befriedigende Lösung für die uralte Spannung zwischen Materie und Geist, die in ihnen herrscht. Die rein physikalische Sicht gibt ihnen keine befriedigende Erklärung für ihr komplexes Bewusstsein, für ihr nicht nur aus logischem Denken bestehendes immaterielles «Ich», für ihr «Fühlen», ihr «Leiden», ihr «Lieben».

Diese Menschen spüren, dass sie mehr sind als nur «Atome und Gene». Deshalb sehnen sie sich wieder nach einem spirituellen Raum. Und interessanterweise taucht gerade jetzt, am Anfang des 21. Jahrhunderts, ein völlig neuer, ausserhalb der bisherigen physikalischen Wirklichkeit liegender Raum auf, der sich als solch transzendenter Zufluchtsort zu eignen scheint: das digitale Universum des Internets als elektronischer Ort des Geistes, der sogenannte Cyberspace.

Der Cyberspace als neuer Heilsraum?

Obwohl der Cyberspace keine offenkundig religiöse Konstruktion ist, kann man ihn als Versuch verstehen, einen technologischen Ersatz für den christlichen Himmelsraum zu schaffen. In den USA, wo er entstanden ist, hat der neue Raum, in dem alles elektronisch fliesst, Apostel, denen er als Ort für quasireligiöse Träume dient.

Der Cyberspace, glauben sie, wird uns nicht nur Allwissenheit bringen, sondern auch die Befreiung vom «Ballast der Körperlichkeit». Er wird uns den alten Wunsch erfüllen, der körperlichen Inkarnation zu entkommen. Er wird uns, wie einer der Apostel sich ausdrückt, von der «blutigen Schweinerei organischer Materie» befreien.

Der Cyberspace ist der Ort, wird prophezeit, wo «der Tod nicht mehr sein wird», wo wir tatsächlich Unsterblichkeit finden und damit die Verheissung der Offenbarung verwirklichen, wo die «Auferstehung» möglich sein wird, wo wir, indem wir unseren Geist in Computer «überspielen» und so das Fleisch transzendieren, ewig leben.

Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? - dies sind die Grundfragen, die der Mensch sich stellt. Während der ganzen Geschichte der Menschheit und in allen Kulturen auf der Welt hat die Religion eine zentrale Rolle gespielt. Und die Technik ist immer schon von religiösen Träumen durchdrungen gewesen und immer auch als Hilfsmittel zur Herbeiführung der verheissenen Zeit der Vollkommenheit angesehen worden.

Die lang vergangene Traumzeit ist noch nicht vergangen. Sie wirkt in uns weiter, wenn wir schlafen und wenn wir wach sind. Und sie ist, trotz all unseren Bändigungsmassnahmen, immer noch voll gefährlicher Bilder und Allmachtsträume. Wir suchen nach einer «Theorie von allem», nach der Weltformel, die alle Kräfte der Natur vereinheitlicht. Wir wollen das Universum gewissermassen in flagranti bei seiner Geheimniskrämerei ertappen. Mit immer grösseren Maschinen, Energie- und Geldmengen suchen wir nach den kleinsten Bausteinen der Materie und nach den kleinsten Bausteinen des Lebens, in der Hoffnung, mit ihnen einmal herumbasteln zu können, um alles zu verbessern.

Lauter Harry Potters?

Wir laufen Gefahr, die lebendige Wirklichkeit, die lebendige Gegenwart zu zerstören und uns in unserer Suche nach Befreiung von uns selber zu befreien. Wir glauben, dass wir grosse Magier sind. Doch wir sind nur Zauberlehrlinge. Die momentan populärste Unterhaltungsromanfigur ist wohl nicht zufälligerweise ein Knabe namens Harry Potter. Anders als bei Zauberlehrlingen in der Unterhaltungsliteratur bleiben unsere Taten als Zauberlehrlinge jedoch unwiderruflich. Denn den alten Hexenmeister, der die einmal entfesselten Geister wieder in die Ecke bannen könnte, gibt es in der Knopfdruck-Magiewelt von heute nicht.

Vielleicht ist es wirklich so, dass alles, was der isolierte menschliche Geist in selbstherrlicher Weise ersinnt und gestaltet, im Kern - mag es noch so gut gemeint sein - lebensfeindlich ist und sich darum letztlich gegen ihn selbst kehren muss. Wir sind nur ein Teil von etwas Grösserem und können nicht grösser sein als der Teil, der wir sind. Und je näher wir die Wirklichkeit betrachten, desto komplizierter blickt sie zurück. In der Tiefe unseres modernen westlichen Lebens sind immer noch die Prinzipien unserer ersten symbolischen Instrumente wirksam: die Prinzipien der Sprache, des Rituals, des Tanzes, des Totems, des Tabus, der Religion und der Magie. Sprache schafft Welt. Benennen ist erschaffen. Sprache ist das wichtigste Mittel, durch das wir die Welt um uns interpretieren, als sinnvoll erkennen können.

Sprachen und Welten

Die «weltschaffende» Kraft der Sprache ist in Mythen und Schöpfungsgeschichten der Kulturen und Religionen der ganzen Welt belegt. Jede neue Sprache schafft eine neue Welt. Dies gilt auch für die elektronischen Sprachen. Doch jede Welt braucht die Unterstützung durch eine Gemeinschaft, ist ein gemeinschaftliches Projekt, das eine gemeinschaftliche Verantwortung fordert.

Im Fluss der Zeit, den ich mir aus unzähligen Punkten zusammengesetzt vorstelle, sind wir in der westlichen Welt an dem Punkt angelangt, an dem wir in einer spezifischeren Weise als bisher Verantwortung für eine Sprache und eine Welt übernehmen können - oder eben auch für mehrere Sprachen und mehrere Welten. Unsere Vorfahren, die noch umsichtiger und vorsichtiger mit ihrer Umwelt umgingen, begleiteten jede Phase ihrer Entwicklung mit entsprechenden Übergangsriten, die fast universale Zeremonien waren. Heute begnügen wir uns mit papierenem oder elektronischem Ersatz.

Der französische Physiker Jean E. Charon, der Schöpfer der «komplexen Relativitätstheorie», sagt: «Die Welt ist, was ich von ihr denke.» Dass der menschliche Körper und der menschliche Geist sich trennen lassen, glaube ich nicht. Was ich glaube, ist, dass wir eine feiner nuancierte Konzeption unser selbst und der Welt um uns herum brauchen, eine «fliessendere» als die bloss materielle.

Der Mensch könnte in einer völlig durchrationalisierten Welt, wenn sich eine solche herstellen liesse, gar nicht leben. Denn er ist selber nur zum kleinsten Teil ein rationales Wesen. Alles lässt sich nicht rechnen. Alles lässt sich nicht rational erklären. Der Mensch muss auch auf seine Gefühle hören, auf seine Intuition.

* Überarbeitete Fassung der Ansprache an der Promotionsfeier der Philosophisch-naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern am 24. Januar 2001.

 

 


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