Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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NZZ Forschung und Technik, 2. August 2001, Nr.176, Seite 12

 

Beobachtungen, die Beine machen

Beschleunigter Zerfall durch häufige Messungen

Hätte Wilhelm Tell bei seinem legendären Apfelschuss an den griechischen Philosophen Zeno von Elea (um 500 v. Chr.) gedacht, so hätte er wohl am Sinne seines Vorhabens zweifeln müssen. Eines der berühmtesten Paradoxa des Zeno besagt nämlich, dass ein Pfeil überhaupt nicht abgeschossen werden kann, da er in jedem (äusserst kurzen) Augenblick, in dem man ihn beobachtet, praktisch stillsteht. Reiht man diese Augenblicke aneinander, so kommt man zu der Erkenntnis, dass sich das Geschoss nie vom Fleck rührt.

Natürlich wissen wir, dass der Pfeil dennoch fliegt, und mit der Infinitesimalrechnung kann man auch erklären, was an Zenos Überlegungen falsch war. Trotzdem ist das Pfeil-Paradoxon auch heute noch aktuell. Dafür sorgt die Quantenmechanik, die sich mit Vorgängen in atomaren und subatomaren Grössenordnungen befasst. In den siebziger Jahren sagten amerikanische Forscher voraus, dass ein instabiles Quantensystem - man denke etwa an einen radioaktiven Atomkern - durch wiederholtes Beobachten daran gehindert werden sollte zu zerfallen. Wegen der Ähnlichkeit mit dem Pfeil-Paradoxon nannten die Physiker diese Vermutung den «Quanten-Zeno-Effekt». Dieser Effekt wurde nun von Forschern der Universität von Texas in Austin experimentell nachgewiesen. Gleichzeitig machten die Forscher die überraschende Entdeckung, dass häufiges Beobachten auch das Gegenteil - also einen beschleunigten Zerfall - bewirken kann.

Die Forscher um Mark Raizen kühlten Atome mit Lasern auf tiefste Temperaturen ab. Eine stehende Lichtwelle hielt die Atome gefangen, als sässen sie in den Mulden eines kleinen Eierkartons fest. Wurde dieser Eierkarton nun in eine Richtung beschleunigt, so konnten die Atome nach den Gesetzen der Quantenmechanik aus ihren Gefängnissen heraus «tunneln» und waren danach frei. Prinzipiell sollte dieses Tunneln exponentiell erfolgen: Je mehr Atome noch in der Mulde sind, desto mehr tunneln auch in einer bestimmten Zeit heraus. Damit folgt das Tunneln der Atome den gleichen Gesetzmässigkeiten wie ein radioaktiver Zerfall.

Bereits 1997 hatten Raizen und seine Mitarbeiter jedoch nachgewiesen, dass dieses Exponentialgesetz in einem instabilen Quantensystem in den ersten Momenten des Zerfalls nicht ganz stimmt. Vielmehr blieb die Zahl der gefangenen Atome für eine kurze Zeit fast konstant. Beim radioaktiven Zerfall von Atomkernen ist diese Zeitspanne mit dem milliardsten Teil einer Milliardstelsekunde viel zu kurz, um eine vernünftige Messung durchzuführen. Bei den kalten Atomen jedoch dauert es einige Millionstelsekunden, bis der exponentielle Zerfall einsetzt - lange genug, um in dieser Zeit durch kurzes Anhalten des beschleunigten Eierkartons die Zahl der noch vorhandenen Atome zu messen. Diese Messung aber wirft das System wieder an den Anfang zurück, so dass der Zerfall erneut nichtexponentiell beginnt. Führt man die Messung nun wiederholt durch, so kommt das System nie dazu, in den «normalen» (also exponentiellen) Zerfall überzugehen. Das Resultat: Es zerfällt nicht oder doch deutlich langsamer. Hatte Zeno also Recht? Nicht ganz.

In einem zweiten Experiment warteten die Physiker mit ihren Messungen etwas länger als im ersten Experiment. Anstatt überhaupt nicht zu tunneln, verliessen die Atome ihre Mulden jetzt schneller als erwartet und «überholten» sogar den exponentiellen Zerfall. Ein solcher «Anti-Zeno-Effekt» war letztes Jahr von Forschern des Weizmann-Instituts in Rehovot (Israel) vorhergesagt worden und hatte für einige Verblüffung gesorgt. Dabei beruht er im Prinzip auf dem gleichen Phänomen wie der Zeno-Effekt, also auf dem nichtexponentiellen Zerfall von Quantensystemen. Nach der anfänglichen Zögerlichkeit des Systems, sich «normal» zu benehmen, zerfällt es nämlich für kurze Zeit schneller, als es das Exponentialgesetz verlangen würde, um dann in eine gewohnte Zerfallskurve überzugehen. Führt man gegen Ende der Phase des schnellen Zerfalls eine Messung durch und wiederholt dieses Spiel mehrmals, so zwingt man das System immer wieder, den Abschnitt des rasanten Zerfalls zu durchlaufen, was unter dem Strich zu einem schnelleren Zerfall führt.

Der Tell'sche Apfelschuss hätte also gemäss der Quantenmechanik auf zwei Arten ausgehen können, je nachdem, wie oft der Pfeil beobachtet wurde: Entweder er verliess die Armbrust überhaupt nicht, oder aber er traf sein Ziel im Eiltempo. Zeno hätte an solchen Gedankenspielen gewiss seine Freude gehabt.

Oliver Morsch

Quelle: Physical Review Letters 87, Art.-Nr. 040402 (2001).

 

 


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