Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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NZZ Feuilleton, 14. März 2002, Nr.61, Seite 67

 

Verklärung des Lebens

Charles Taylor über Gemeinschaft und Demokratie

Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus liegt nun schon einige Jahre zurück. Der kanadische Philosoph Charles Taylor hat sich in dieser Zeit einen Namen gemacht, weil er zu den entschiedensten Verfechtern einer gemeinschaftsfundierten Gesellschaftstheorie gehört, in der nicht das isolierte Individuum, sondern das «situierte Selbst» im Vordergrund steht. Mit der vorliegenden Sammlung von Aufsätzen, die aus den letzten fünfzehn Jahren stammen, setzt Taylor seine Kritik am atomistischen Liberalismus fort. Demokratien, so seine Grundthese, sind auf ein «starkes Zugehörigkeitsgefühl» ihrer Mitglieder angewiesen. Sie leben davon, dass sich die Bürger aktiv an der Gestaltung ihres Gemeinwesens beteiligen, den Gesetzen gegenüber loyal verhalten und sich gegenseitig in ihrer Würde anerkennen.

Voraussetzung für diese Form des partizipatorischen Republikanismus, zu dessen Vorbildern der Autor Montesquieu, Tocqueville und Hannah Arendt zählt, ist die Identifizierung mit der Gesellschaft, in der man lebt. Erst sie stiftet die mitmenschliche Solidarität, den wechselseitigen Respekt und das bürgerliche Engagement, die zur vitalen Selbstorganisation demokratischer Ordnungen führen. Identifizierung aber bedeutet Ausgrenzung: Das Bewusstsein, zu einem Volk, einer Nation, einem Staat zu gehören, geht einher mit der «Exklusion» derjenigen, die nicht dazugehören. Der Bedarf nach sozialem Zusammenhalt mündet in eine riskante Homogenisierung der Gesellschaften, die sich nach innen und aussen gegen störende Fremdeinflüsse abschotten.

Taylor sieht dieses Dilemma sehr wohl. Ihm geht es nicht um gewaltsame Assimilation, sondern um die Einbindung von kulturellem «Anderssein» durch eine Politik der Differenz, die das Fremde behutsam in das Eigene integriert. Ein «gesundes Mass» an Patriotismus und Nationalismus ist für ihn erforderlich - nicht weil sie die Anerkennung des Gleichen unterdrücken, sondern den Respekt für das Verschiedene fördern.

In seiner Betonung kultureller Eigenarten und nationaler Bindungen trifft Taylor ein wesentliches Manko des prozeduralen Liberalismus, der die Konflikte und Kollisionen der globalisierten Welt auf verfahrenstechnischem Weg austragen will. Der politische Alltag zeigt, dass die Spannungen zwischen Völkern und Nationen sich nur dann mildern lassen, wenn die Beteiligten sich in ihrer Verwurzelung in lokalen, religiösen und historischen Besonderheiten wahrnehmen. Je stärker die Weltgesellschaft zusammenwächst, desto bedeutsamer werden die regionalen und traditionellen Unterschiede: Sie müssen in einem «metatopischen» Raum der Öffentlichkeit diskutiert werden, in dem die Akteure ihr jeweiliges Selbstverständnis zur Grundlage demokratischer Entscheidungen machen.

So richtig es ist, dass komplexe Gesellschaften einen substanziellen Unterbau benötigen, der für gemeinsame Zielsetzungen und Orientierungen sorgt, so fraglich bleibt die von Taylor zugrunde gelegte Anthropologie des Politischen. Der Mensch ist für ihn ein Wesen, das sein Handeln an Werten und Gütern ausrichtet, die seinem Dasein Sinn verleihen. Nicht der Wunsch nach Gerechtigkeit und Freiheit, sondern das Verlangen nach Authentizität bildet den Motor sozialer Verständigung. Das neuzeitliche Subjekt strebt nach Selbstverwirklichung, die ihm im Verbund mit anderen zuteil wird.

Diese Suche nach persönlicher Identität macht den romantischen Kern von Taylors Liberalismuskritik aus. Seine demokratischen Bürger sind keine Kosmopoliten, die in den virtuellen Netzwerken des Informationszeitalters existieren können. Sie brauchen festen Boden unter den Füssen, die Bindung an ein Kollektiv, einen Ort, an dem sie sich zu Hause fühlen. Diese Sichtweise ist nicht nur nostalgisch, sie zeichnet das einseitige Bild eines Menschentypus, der erst durch die «Verklärung des Lebens» Zugang zum Politischen gewinnt. Nicht der güterethische Substanzialismus, der Taylor vorgeworfen wird, ist das Problem, sondern die Ansicht, die meisten Menschen engagierten sich nur dann für eine demokratische Gesellschaft, wenn es um ihr eigenes Leben geht.

Sollte dies tatsächlich so sein, wäre die kommunitäre Zivilgesellschaft, die Taylor vor Augen hat, eine höchst prekäre Angelegenheit, da sie von der Erfüllung individueller Sinnansprüche abhängt. Sie bildet allein deshalb die Basis liberaler Demokratien, weil die Gesellschaftsmitglieder immer schon im Kontext gemeinschaftlicher Überzeugungen leben, arbeiten und handeln. Um aber dies zu verdeutlichen, bedarf es keiner existenziellen Theorie der Zugehörigkeit. Wir sind politische Gemeinschaftswesen nicht aus einem Sinnbedürfnis heraus, sondern wegen der schlichten Angewiesenheit aufeinander.

Ludger Heidbrink

Charles Taylor: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2002. 284 S., Fr. 20.60.

 

 


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