Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

  

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NZZ Literatur und Kunst, 19. Januar 2002, Nr. 15, Seite 79

 

Jenseits der Stimme, jenseits des Mythos

Über die Veränderung der Welt durch Schrift

 Von Jan Assmann

Auf der Schwelle zum elektronischen Zeitalter stehen wir vor einer Medienrevolution weltgeschichtlichen Ausmasses. Mit dem Übergang von der Schriftkultur zur Digitalkultur sind Wandlungen verbunden, die sich nur mit dem Übergang von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit vergleichen lassen. Um zu verstehen, in welchem Umfang der Computer unsere Welt zu verändern im Begriff ist, mag man sich darauf besinnen, in welchem Mass die Schrift die Welt verändert hat.

Wir leben in einer schriftgeformten Welt und sind selbst schriftgeformte Wesen. Daher erscheint uns die Schrift als etwas Selbstverständliches. Wir können sie aus unserer Welt nicht mehr wegdenken und können uns nicht in eine schriftlose Welt hineinversetzen. Menschen, die in einer schriftlosen Welt leben, stellen wir uns als eine Art geistige Eintagsfliegen vor. In einer solchen Welt kann nichts festgehalten werden. Alles muss täglich oder doch von Generation zu Generation neu erfunden werden. Die Gedanken, die Sprache, die Technik - alles ist beherrscht vom Vergessen und Verschwinden. Erst die Schrift, sagt man, schafft ein über Generationen vererbbares Gedächtnis, hat die Menschheit aus dem geschichtslosen Raum des Vergessens befreit und jene geistige und technische Evolution freigesetzt, die uns nun in immer grösserer Beschleunigung in das nachschriftliche Zeitalter der elektronischen Kommunikation katapultiert.

FORMGEBUNG, KONTROLLE

In dieser pauschalen Form stimmt das natürlich nicht. Seit wir ihn zurückverfolgen können, hat der Mensch Spuren hinterlassen, die auf Traditionsbildung, d. h. ein von Generation zu Generation weitergegebenes Know-how, schliessen lassen. Hier gibt es durchaus Entwicklung und Fortschritt. Eins baut auf dem anderen auf, Erfindungen wie der Ackerbau, das Rad, die Pferdezucht werden nicht gleich wieder vergessen, sondern stetig perfektioniert, in den immer komplexer werdenden Formensprachen der Höhlenmalereien, Felsbilder, der Keramik usw. prägen sich nicht nur zeitliche Abfolgen, sondern auch ethnische Zugehörigkeiten aus. All das deutet auf ein kulturelles Gedächtnis, kraft dessen sich die Menschheit schon lange vor der Erfindung der Schrift im Fluss der Zeit stabile Sinn-, Symbol- und sogar Zeichenwelten aufbaute. Wir könnten auch sagen, dass in diesem Sinne die Menschheit immer schon geschrieben hat. Nicht erst die Schrift, sondern bereits die Formung wirkt als traditions- oder gedächtnisbildendes Prinzip. Das gilt auch für die Sprache: Durch Reim, Rhythmus, Assonanz, Wiederholung Geformtes behält sich leichter als das Ungeformte.

In welcher Weise hat also nun die Schrift, im strengen Sinne der visuellen Codierung von Sprache, die Welt verändert? Da muss man sich zunächst zweierlei klar machen. Erstens: Die Schrift ist eine Form, die von sonstiger Formgebung unabhängig macht. So wird es möglich, die Prosa des Lebens, das Alltägliche, Ungeformte, keinem Gedächtnis Einprägbare festzuhalten. In den Notationssystemen der Gedächtniskulturen - Knotenschnüren, Bilderschriften, song-lines - muss die Formung der Notation immer schon vorausgehen. Daher sind Gedächtniskulturen hochgradig ritualisierte Gesellschaften. Das gilt auch umgekehrt: Je schriftbestimmter eine Gesellschaft, desto weniger ritualisiert ist sie.

Zweitens: Die Lautschrift funktioniert nicht nur als ein externalisiertes Gedächtnis, das uns an etwas erinnern kann, sondern auch als eine externalisierte Stimme, die uns etwas mitteilen kann, auch wenn der Sprecher abwesend ist. Die Schrift ist für genau diese beiden Zwecke erfunden worden: als ein künstliches Gedächtnis oder ein Datenspeicher für kontingente, ungeformte Daten, die kein natürliches Gedächtnis speichern kann, und als eine künstliche Stimme für Empfänger, die keine natürliche Stimme erreichen kann.

Die frühesten Schriften sind in Mesopotamien und Ägypten erfunden worden, im Zusammenhang mit der Entstehung der ersten Staaten der Menschheitsgeschichte. Beide Phänomene gehören offenbar eng zusammen. Der frühe Staat bedurfte der Schrift als künstlichen Gedächtnisses, um der unendlichen Datenfülle im Zusammenhang von Wirtschaft und Verwaltung Herr zu werden, und als künstlicher Stimme, um das herrscherliche Machtwort an alle Enden des Reiches dringen zu lassen.

Die Schrift ermöglicht neue Formen von Kontrolle und Verwaltung, ohne die die komplexer gewordenen Gemeinwesen nicht funktionieren. Die Wandbilder in den altägyptischen Gräbern stellen uns eine Welt vor Augen, die von Schrift und Schreibern dominiert war. Es waren zwar nur wenige, die schreiben konnten, aber was «Schrift» ist, war keinem Ägypter verborgen. So eng begrenzt vielleicht ihre aktive Beherrschung, so allumfassend und alldurchdringend war ihr Einfluss.

In den frühen Hochkulturen bildete die Bürokratie immer den Kernbereich der Schriftkultur. Hier entwickelte sie alle Finessen der Aufzeichnung sowie die Künste des Rechnens, des Kalenders und der Annalistik, kurz all das, wofür in Ägypten der Mond- und Schreibergott Thot zuständig ist, den die Griechen dem Hermes gleichsetzten und der dann als Hermes Trismegistos zum Inbegriff der Weisheit wurde. Thot vereinigt die Kompetenzen des Beamten und des Ritualisten. Zwischen den Amtsstuben und den Tempeln dürfen wir anfangs keine allzu scharfe Trennungslinie ziehen. Auch im Tempel steht die Schrift im Dienst der Organisation präziser Abläufe. In beiden Bereichen fungiert die Schrift als Speicher und Stütze.

Am Beispiel von Schrift und Staat kann man sehen, dass die Schrift eine Grenzüberschreitung ermöglicht: vom Dorf zur Stadt, von der Face-to-face-Gemeinschaft zur grossräumigen politischen Organisation, von der Subsistenzwirtschaft zur Versorgungswirtschaft, eine Grenzüberschreitung, die im alten Ägypten etwa die Form eines Sprungs, einer unglaublich kurzfristigen und durchgreifenden Veränderung zu etwas qualitativ und quantitativ vollkommen Neuem angenommen hat.

JENSEITS DES TODES

Grenzüberschreitend hat die Schrift auch in Bezug auf die Grenze gewirkt, die dem menschlichen Leben gesetzt ist: den Tod. Die Schrift macht es möglich, nicht nur Spuren zu hinterlassen, die die eigene Existenz überdauern, sondern Botschaften, die zur Nachwelt reden. Das alte Ägypten ist auf diesem Weg der Selbstverewigung durch Selbstthematisierung sicher am weitesten gegangen. Hier wurden die Gräber der hohen Beamten mit Bildern und Texten dekoriert, in denen sie gegenüber der Nachwelt von ihrem Leben, ihren hohen Ämtern und vorbildlichen Tugenden Zeugnis ablegten in der Hoffnung, sich auf diese Weise einen dauernden Platz im Gedächtnis der Gemeinschaft zu sichern.

Die Schrift diente hier als eine künstliche Stimme, mit deren Hilfe der Grabherr zu den Nachgeborenen sprechen wollte. Vergleichbare Träume einer virtuellen Fortdauer sehen wir jetzt im Zusammenhang des Internets wieder aufleben. Das Internet erscheint als ein Raum, in den hinein man sich verkörpern kann in Form virtueller Doppelgänger, und auch wenn es hier vordringlich nicht um Ewigkeit und Unsterblichkeit, sondern um Selbstvervielfältigung und Multipräsenz geht, steht dahinter doch das Streben nach mediengestützter Aufhebung der existenziellen Grenzen, nach Erweiterung der Realität durch Virtualität.

Über die Idee, im Medium von Grabinschriften im Gedächtnis der Nachwelt präsent zu bleiben, sind die Ägypter selbst bereits einen entscheidenden Schritt hinausgegangen und haben das literarische Werk als den besseren Weg zur Unsterblichkeit dargestellt. Der Autor eines guten Buches ist der bessere Grabherr; er hat sich ein Monument errichtet, das kein Zahn der Zeit zerstören kann. Auf dieses Motiv, das durch Horaz berühmt geworden ist, stösst man bereits in einer ägyptischen Weisheitslehre aus dem 13. Jh. v. Chr.

«Die weisen Schreiber der Vorzeit . . . haben sich keine Pyramiden aus Erz gebaut . . . / Doch sie schufen sich Bücher als Erben. Ihre Grabkapellen sind vergessen, / aber man nennt ihre Namen auf ihren Schriften, die sie geschaffen haben, / Sie sind gegangen und ihre Namen wären vergessen, / aber das Buch ist es, das die Erinnerung an sie wachhält.» - Die Literatur erscheint hier als Überbietung der Monumentalarchitektur. In Ägypten hat die Schrift den Gedankenraum der Unsterblichkeit erschlossen und eng damit verbunden die Ideen der Autorschaft und der Individualität. Dieser Komplex ist es, der sich in der ägyptischen Grabkultur so eindrucksvoll herausgebildet hat. Die individuierende Auswirkung der Schrift auf den Schreibenden ist eine andere der in ihr angelegten Möglichkeiten. Man kann sagen, dass die Schrift den Autor konstituiert; hierfür gibt es im Bereich der Mündlichkeit keine Parallele.

Der Name Homers steht nicht für eine Person, sondern für eine Tradition, die unter seinem Namen kodifiziert wurde. Der Barde ist Träger der Überlieferung; seine Kreativität besteht darin, der Überlieferung, die durch ihn hindurchgeht, eine besonders eindrucksvolle, elaborierte Gestalt zu geben. Der Autor dagegen steht der Überlieferung gegenüber und muss sie überbieten. Das ist nicht erst die Erfahrung der Moderne, wie die um 1800 v. Chr. entstandene Klage des Chacheperreseneb zeigt:

«O dass ich unbekannte Sätze hätte, seltsame Aussprüche, / neue Rede, die noch nicht vorgekommen ist, / frei von Wiederholungen, / keine überlieferten Sprüche, die die Vorfahren gesagt haben.»

Der mündliche Barde verkörpert die Tradition; sein Lied ist immer wieder neu, es «erneuert» sich in jeder neuen Aufführung, auch wenn es traditionell und möglicherweise uralt ist. Vom schriftlichen Autor dagegen erwartet man das Neue. Er kann sich nicht auf die Tradition berufen, sondern muss sie aus Eigenem bereichern; das lateinische Wort auctor heisst ja «Vermehrer». Das schreibende Ich ist in einem ganz neuen Sinne «Ich» und wird ebenso von seinem Text als dessen Autor hervorgebracht, wie es selbst diesen Text hervorgebracht hat. Das gilt in gewissem Sinne schon für das «Ich» der altägyptischen Grabinschriften.

Das Phantasma solcher schriftgestützten Fortdauer beruht nicht nur auf der Erwartung, dass die Botschaften noch in ferner Zukunft gelesen werden, sondern auch auf der Erfahrung, Botschaften aus ferner Vergangenheit lesen zu können. Die Schrift erschliesst einen Raum virtueller Gleichzeitigkeit, der einen zum Gesprächspartner jahrtausendealter Vorgänger und fernster Nachgeborener macht. So wie die Ägypter die Gräber der Vorfahren besuchten, las man im Abendland in den Schriften der griechischen und lateinischen Autoren und führte mit ihnen, über die Jahrtausende hinweg, ein Geistergespräch. Diesen Chrono-Topos einer überlebenszeitlichen, ja Jahrtausende umfassenden Kommunikation erschliesst erst die Schrift.

So wie die Schrift Grenzen überschreitet, zieht sie auch Grenzen. Eine solche schriftgezogene Grenze ist die schon erwähnte zwischen Alt und Neu, die es in dieser Form in der schriftlosen Welt nicht gibt, eine andere die zwischen Mythos und Geschichte oder geglaubter und verbürgter Wahrheit. Damit komme ich zum dritten der durch die Schrift erschlossenen Wirklichkeitsbereiche: der Geschichte, verstanden als quellenkritischer Diskurs über die Vergangenheit als Raum menschlichen Handelns und Leidens, im Gegensatz zu den fundierenden Erzählungen des Mythos, denen jede Quellenkritik fremd ist, die auf ganz anderen Wahrheitskriterien beruhen und in denen nicht Menschen, sondern Götter die Hauptrolle spielen. Geschichte in diesem Sinne kann es erst geben, seitdem es aussagekräftige Quellen gibt. Hier bedeutet die Erfindung und Verwendung der Schrift die entscheidende Epochenschwelle. Erst die schriftliche Quelle gibt verlässliche Kunde darüber, was wann wo wem geschah.

Ohne Archive ist keine Geschichtsschreibung möglich. Die Schrift fundiert einen auf Tatsächlichkeit gegründeten Datenspeicher, dessen sich die Geschichte als Erzählung bedienen kann. So ist die Schrift die Bedingung der Möglichkeit von Geschichtsschreibung, und zwar im Sinne der Schriftlichkeit nicht nur der Erzählung, sondern auch und vor allem der Dokumente, auf denen diese basiert. Wenn man Herodot und Platon Glauben schenken darf, dann haben die Ägypter auf der Basis ihrer Archive ein spezifisch schriftgeprägtes Geschichtsbewusstsein entwickelt, das dem mündlich und mythisch geprägten, aristokratischen Herkunftsbewusstsein der Griechen widersprach.

Als Hekataios von Milet, so erzählt uns Herodot, nach Theben kam und den dortigen Priestern seinen Stammbaum bis zum sechzehnten Ahn, einem Gott, vorrechnete, führten ihn die Priester in den Tempel und zeigten ihm 341 hölzerne Kolossalstatuen. «Von den Urbildern dieser Standbilder stamme immer einer vom anderen, und trotzdem führe der Stammbaum nicht auf einen Gott oder Heros zurück.» Ebenso erging es Solon, wie Platon erzählt, mit den Priestern von Sais. «Ihr Griechen bleibt doch immer Kinder», rufen die Priester aus, «und einen alten Griechen gibt es nicht.» Das griechische, mündlich verfasste Geschichtsbewusstsein ist «jugendlich», es geht immer schon nach einigen Generationen in Mythos über, während das ägyptische, schriftlich verfasste Geschichtsbewusstsein auf «alter Überlieferung» und «mit der Zeit ergrauter Kunde» basiert, die viele Jahrtausende zurückreicht, ohne je in die mythische Welt der Götter überzugehen.

ÜBERPRÜFBARKEIT

In diesem Sinne dokumentierter Vergangenheit und kritischer Überprüfbarkeit hat die Schrift die Geschichte hervorgebracht und den Mythos vertrieben oder zumindest in seinem Wahrheitsanspruch relativiert. Die Schrift bewirkte, dass, wo Mythos war, Geschichte wird, weil sie Verhältnisse dokumentierte, in denen nicht Götter, sondern Menschen herrschten und für ihre Taten verantwortlich waren. Die Schrift verleiht der Erinnerung die Eigenschaft der kritischen Überprüfbarkeit und damit einen Wahrheitswert, der dem Mythos abgeht.

Mit genau dem gleichen mythenkritischen Pathos eines neuen Wahrheitswertes tritt die Schrift auch im Bereich der Religion auf. Hier stützt sich ihr Anspruch auf eine Offenbarung, die sie verbrieft und verbürgt. Alle Offenbarungsreligionen basieren auf einem Kanon heiliger Schriften. Ebenso evident ist der kritische Anspruch der geoffenbarten Wahrheit. Auch hier zieht die Schrift eine Grenze. Denn erst die Schriftreligionen unterscheiden zwischen wahrer und falscher Religion und grenzen die anderen Religionen als «Heidentum» aus. Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden hat es immer gegeben, aber diese Grenze im Zeichen der Wahrheit ist etwas radikal Neues und ohne die Schrift nicht denkbar. Erst die Schrift schafft die Bedingung dafür, dass eine Religion sich auf eine höhere, geoffenbarte Wahrheit berufen und alles andere zu sich in die Beziehung der Unwahrheit setzen kann.

Mit dem Aufstieg der Schrift geht der Verfall der Riten einher. Dadurch kommt es zu einem Strukturwandel auch des «kulturellen Gedächtnisses». Die kulturelle Identität einer Gruppe wird jetzt weniger durch rituelle Wiederholung gesichert als durch Auslegung der kanonischen Texte. Kultreligionen sind Geheimnisreligionen, sie sind bestimmt vom Pathos der Geheimhaltung, Exklusivität und Einweihung. Schriftreligionen dagegen sind bestimmt vom Pathos der Verkündung und Unterweisung. Im Idealfall sollte jedes Mitglied der Gemeinschaft die Texte lesen, ja auswendig kennen und Zugang zu einem Ausleger haben, der sie erklären und bei dem man sich Rat holen kann. Diesen Unterschied hat bereits der jüdische Historiker Josephus Flavius auf den Punkt gebracht, wenn er Judentum und Hellenismus gegenüberstellt:

«Wenn alle Schichten des Volkes zur Frömmigkeit erzogen werden, wenn die Pflege der Letzteren vornehmlich den Priestern anvertraut ist - sieht das nicht aus, als ob das gesamte öffentliche Leben eine einzige heilige Festfeier wäre? Was die Heiden unter dem Namen Mysterien und Weihen nur in wenigen Tagen begehen, ohne es jedoch dauernd in ihren Herzen bewahren zu können, daran halten wir mit unendlichem Entzücken und unverrückten Sinnes allezeit fest.»

Die Heiden müssen bis zur nächsten Durchführung des Rituals warten, aber die Juden sind im ständigen Besitz ihrer Wahrheit, weil sie in «öffentlichem Unterricht» von den Priestern darin unterwiesen werden.

Vielleicht darf man sogar noch einen Schritt weiter gehen. Schriftreligionen ziehen eine Grenze nicht nur zwischen sich und den anderen Religionen, die sie als Grenze zwischen Wahrheit und Unwahrheit interpretieren, sondern sogar die entscheidendste aller Grenzen: die Grenze zwischen Gott und Welt. Die Verschriftung der Offenbarung führt letztlich zu einer Ausbürgerung des Heiligen aus der Welt, einerseits in die Transzendenz und andererseits in die Schrift. Die Kultreligionen setzen das Heilige als auf vielfältigste Weise innerweltlich anwesend voraus, in Bildern, Bäumen, Bergen, Flüssen, Gestirnen, Tieren, Menschen und Steinen. Das alles wird in den Buchreligionen als Götzendienst gebrandmarkt.

Vieles spricht dafür, dass das Prinzip der Offenbarung und der aus diesem Prinzip entwickelte Abscheu gegen traditionelle Formen des Kultes aus dem Geist der Schrift geboren ist. Der Schritt in die Offenbarung war ein Exodus aus der Welt in die Schrift. Die Welt wird insgesamt zum Gegenstand der Idolatrie erklärt. Der radikalen Ausserweltlichkeit Gottes entspricht die radikale Schriftlichkeit seiner Offenbarung. Dem prophetischen Monotheismus mangelt es an natürlicher Evidenz; er wandelt, wie Paulus sagt, nicht in der Schau, sondern im Glauben. Der Glaube stützt sich auf die Schrift, auf den verbrieften Bund und das Gesetz. Der Kult stützt sich auf den Akt, den Vollzug, die Schau. Die Schrift führte zu einer Entritualisierung und Enttheatralisierung der Religion.

So hat die Schrift die Welt verändert. Sie hat Grenzen überschritten und Grenzen gezogen. Mit der Überschreitung der Grenzen unseres Gedächtnisses und unserer Stimme hat sie die Bildung grossräumiger politischer und wirtschaftlicher Organisationsformen ermöglicht und die Idee der Kultur als eines Jahrtausende umfassenden Gedächtnisses und Kommunikationsraums entstehen lassen, angesichts dessen die Menschen von Unsterblichkeit und Fortdauer träumen konnten. Mit der Aufrichtung der Grenzen zwischen dem Alten und dem Neuen sowie dem Geglaubten und dem Verbürgten hat sie einen neuen, kritischen Wahrheitsbegriff geschaffen und eine Ideenrevolution in Gang gesetzt. Mit der Aufrichtung der Grenze schliesslich zwischen Buchreligion und Kultreligion, Monotheismus und Kosmotheismus hat sie die Dynamik der abendländischen Religionsgeschichte bestimmt.

 

 


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