Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

  

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Klassische Sprachen
Latein, Griechisch
KZU


Quelle:

Neue Zürcher Zeitung LITERATUR UND KUNST Samstag, 10.07.1999 Nr. 157  83

 

 

Wer redet da von Entwicklungsland?

Afrikanische Sprachwelten und das europäische Afrikabild

Von Thomas Bearth

Afrikanische Sprachen unterscheiden sich in ihrer Gestalt teilweise signifikant von den europäischen Sprechern vertrauten Formen. Die Rückschlüsse, die aus solchen

Besonderheiten und Kontrasten gezogen werden, sind faszinierend - aber trügerisch.

Ungläubiges Staunen auf den Gesichtern der Versammelten, verhohlenes Gekicher und schliesslich lautes Gelächter aus Hunderten von Bantukehlen.

Kasimba, der führende Helvetist unter den Bantu, fasste nochmals die erstaunlichste Erkenntnis von seiner Forschungsreise ins Innere Europas zusammen: «Es ist tatsächlich so, dass dort in den abgelegenen Bergen und in deren nördlichem Vorland ein Volk lebt, für das es nur die Gegenwart, das Präsens, gibt. Alles, was zukünftig ist, wird mit dem Präsens ausgedrückt, und alles Vergangene mit dem Perfekt - auch eine Art von Präsens. Für diese Leute ist alles präsentisch. Ihr Denken kennt keine zeitliche Tiefendimension. Es ist wohl der Schluss zu ziehen, dass ein Stamm mit so reduzierten sprachlichen Möglichkeiten weder von der eigenen Geschichte etwas wissen kann noch fähig ist, seine Zukunft sinnvoll zu planen.» - In der anschliessenden Diskussion zieht einer der angesehenen Männer in Zweifel, dass es sich dabei überhaupt um Menschen im Sinn der Bantu handle. Ein Mitglied der Expedition widerspricht. Es müsse sich um Menschen handeln, denn sie seien durchaus fähig - wenn sie dies wollten - der von ihnen bezeichnenderweise «Hochdeutsch» genannten Rede ihrer nördlichen Nachbarn zu folgen. Und deren Sprache unterscheide bei der Beschreibung von Tätigkeiten zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Perfekt und Präteritum - wenn sie auch natürlich von der jedem Bantukind vertrauten Zeiteinteilung in drei bis fünf sprachlich unterschiedene Vergangenheitsformen weit entfernt sei.

Kasimba hielt dem entgegen, dass kaum einer der Deutschschweizer imstande sei, Perfekt und Präteritum des Hochdeutschen korrekt auseinanderzuhalten, selbst nachdem man es ihm seine ganze Jugend hindurch beizubringen versucht habe. Man müsse deshalb davon ausgehen, dass die Spezies der Deutschschweizer im Vergleich zu der immer noch sehr primitiven Stufe der Deutschen noch eine weitere Vorstufe der Entwicklung darstellten. Für die Richtigkeit dieser These spreche auch die interessante Beobachtung, dass diese Leute bei aller Fixierung auf die Gegenwart doch ständig in ruheloser Bewegung seien. Vielleicht könnte man sogar einen Funken einer Einsicht in die Rückständigkeit des eigenen Sprach- und Geisteszustandes darin sehen, dass man ständig aus ihrem Mund höre: «Ich habe keine Zeit, ich habe keine Zeit.» Im Bewusstsein der fehlenden Zeit artikuliere sich eine Vorahnung der Möglichkeit einer höheren, bantuähnlicheren Existenzform.

 

DASSELBE, UMGEKEHRT

Nicht anders, als es in diesem Versuch einer Umkehrung der Perspektive geschieht, ist in der Afrika-Literatur mit dem afrikanischen Zeitbegriff und seiner sprachlichen Codierung umgesprungen worden. Die konzeptuelle Beschränkung auf eine Zweiteilung der Zeitachse in Vergangenheit und Gegenwart bei einem gleichzeitig nach der Zukunft hin verkürzten Zeithorizont sei durch die sprachlichen Strukturen vorgegeben, schreibt etwa der ostafrikanische Philosoph und Theologe John Mbiti («Afrikanische Religion und Weltanschauung», 1974). Daraus folge die Unfähigkeit des im traditionellen Denken verhafteten afrikanischen Menschen, über das Unmittelbare hinaus vorauszudenken und zu planen. In einem Klassiker der afrikanischen Sprachwissenschaft (William Welmers: «African Language Structures», 1973) wird in Anlehnung an Mbitis These der unberechenbare Umgang mit Verabredungen und Terminen, der für die afrikanische Mentalität typisch sei, durch eben diese Abwesenheit einer sprachlich codierten Verbform des Futurs als verständlich und gewissermassen entschuldbar hingestellt. Was in Lehrbüchern afrikanischer Sprachen als Futur bezeichnet wird, drücke in Wirklichkeit nicht einen zeitlich bestimmten Zukunftsbegriff aus, sondern lediglich eine Möglichkeit, deren Umsetzung in die Realität in den Augen des Sprechers stets offenbleibe.

Es entspricht durchaus der in der romantischen Sprachphilosophie wurzelnden Auffassung der Einheit von Sprache und Weltbild, wenn man, in charakteristischer Verengung des Sprachbegriffs auf die Grammatik, in deren explizit ausgedrückten Kategorien das Abbild eines impliziten, den Wahrnehmungs- und Handlungsspielraum der Sprecher einschränkenden Weltbildes sehen möchte. Die Theorie vom «sprachlichen Weltbild» verhilft damit altgedienten Stereotypen über die afrikanische Mentalität zu einer postkolonialen Nachblüte. Sie steht auch der Ablösung der Dominanz des westlichen Entwicklungsdiskurses in der Nord-Süd-Kooperation durch einen echten Dialog zwischen internationalen Partnern einerseits und der afrikanischen Bevölkerung andererseits im Weg. Denn wie soll man mit Leuten, denen man Unfähigkeit unterstellt, die Zukunft zu denken, sinnvoll über Entwicklung reden?

 

SPRACH-PHILOSOPHIE

Aber stimmt denn überhaupt der sprachanalytische Befund, der solche meist unterschwellig rezipierten und dadurch doppelt kontraproduktiven Stereotypen scheinbar legitimiert? Im ausdrücklichen Widerspruch gegen Mbiti zeichnet der westafrikanische Philosoph Kwame Gyekye («An Essay on African Philosophical Thought», 1987), gestützt auf Belege aus dem Akan, der Mehrheitssprache Ghanas, ein durchaus zukunftsoffenes, entwicklungs- und modernisierungskompatibles Bild des afrikanischen Zeitverständnisses. Auch für ihn ist Sprache Schlüssel zum Weltbild, aber Sprache als Ausdruck des Denkens ist nicht reduzierbar auf sprachimmanente Kategorien. Wirklichen Aufschluss über Umfang und Grenzen der Konzeptbildung einer Sprachgemeinschaft gibt erst die diskursive Dimension der Sprache mit ihrem nahezu unerschöpflichen Potential der kreativen Anreicherung der beschränkten Ressourcen von Grammatik und Wortschatz. Gyekye zeigt anhand von Sprichwörtern, Redensarten und Langzeit-Divination, dass der Begriff einer entfernten Zukunft als Zielpunkt gegenwärtigen Handelns dem Denken der traditionellen Akan-Gesellschaft keineswegs fremd ist.

Nun ist einzuräumen, dass aus dem grammatischen Fundus afrikanischer Sprachen auch durchaus positive Rückschlüsse auf Weltanschauung und Denken afrikanischer Völker und Kulturen gezogen wurden. An erster Stelle muss hier die vom belgischen Missionar Tempels entwickelte und von afrikanischen Sprachphilosophen (Kagame) und europäischen Schriftstellern (Jahnheinz Jahn) popularisierte Bantuphilosophie genannt werden. Sie beruht auf den in den Bantusprachen vorherrschenden, aber im übrigen nicht auf sie beschränkten Nominalklassensystemen: Die Gesamtmenge der Substantive ist in ein Dutzend (Swahili) bis maximal zwei Dutzend (Ful) grammatisch unterschiedlich gekennzeichnete Klassen eingeteilt, von denen meist zwei jeweils ein Singular-Plural-Paar bilden und deren formale Merkmale einem Reim vergleichbar auf alle im Text nachfolgenden nichtsubstantivischen Elemente übertragen werden.

Dies kann für das Swahili mit dem folgenden, etwas hypothetischen Satz illustriert werden: Wa- le wa-toto wa-tatu wa-dogo wa-zuri wa-meanguka: «Jene Kinder drei kleine hübsche (d. h. jene drei kleinen hübschen Kinder) sind umgefallen.» Der Leitbegriff oder Gegenstand der Aussage ist wa-toto, «Kinder». Die Vorsilbe wa- drückt einerseits die Zugehörigkeit zur Menschenklasse und andererseits die Tatsache aus, dass von einer Mehrzahl von Kindern die Rede ist. Sämtliche auf den Leitbegriff «Kinder» bezogenen Ausdrücke des Satzes enthalten deshalb ebenfalls die Vorsilbe wa-. Ganz analog dazu verhält sich etwa die sogenannte «Dingklasse», die aber keineswegs nur «Dinge», andererseits aber auch längst nicht alle gegenständlichen Objekte umfasst: Vi-le vi-tabu vi-tatu vi-dogo vi-zuri vi-meanguka, «Jene drei schönen kleinen Bücher sind heruntergefallen». Auch in der Einzahl verhält sich dieses Beispiel regelkonform - das Klassenzeichen vi- der Mehrzahl der Dingklasse wird einfach durch das Klassenzeichen ki- ersetzt: Ki-le ki-tabu ki-tatu ki-dogo ki-zuri ki-meanguka, «Jenes eine schöne kleine Buch ist heruntergefallen». In einigen Fällen richtet sich indessen die Form des Klassenzeichens nicht nur nach der Klasse des Substantivs, sondern auch nach der Wortart. Dies trifft zum Beispiel auf die Einzahl der Menschenklasse zu. So lautete das eingangs zitierte Beispiel in der Einzahl: Yu-le m-toto m-moja m-dogo m-zuri a-meanguka, «Jenes hübsche kleine Kind ist umgefallen». Als Vorsilbe zur Kennzeichnung der Tatsache, dass von einem einzelnen Exemplar der Menschenklasse die Rede ist, dienen die Vorsilben m- beim Substantiv und Adjektiv, a- beim Verb und yu- beim hinweisenden Pronomen.

Tempels und seine Nachfolger glaubten in dieser Einteilung des Gesamtwortschatzes den sprachlichen Reflex einer archaischen philosophischen Weltanschauung erkennen zu können, in deren Mittelpunkt die ontologische Kategorie des -ntu als Bezeichnung des Existierenden schlechthin steht. Die Grundkategorien der Bantuphilosophie ergeben sich nach dieser Vorstellung aus der Verbindung des «Begriffsmoleküls» -ntu mit den Klassenzeichen. So ergibt die Verbindung mit der Vorsilbe mu-/ba- die ursprünglichen Formen muntu/bantu, «Mensch/Menschen» - im Swahili zu m-tu/ba-ntu vereinfacht - als Ausdruck des Grundbegriffs des personalen oder intelligenzbegabten Seins. Die Verbindung mit der Vorsilbe ki-/vi- ergibt den Inbegriff des gegenständlichen Seins - im Swahili in der vereinfachten Form ki- tu/vi-tu, «Ding/Dinge», belegt. Analog dazu ist in vielen Bantusprachen die Seinsweise des räumlich Existierenden mit Hilfe der Vorsilbe ha- und die Kategorie der Art und Weise des Seins mit der Vorsilbe ku- kodiert. Auch den übrigen Nominalklassenzeichen wird eine begriffsbildende Funktion innerhalb der Bantu-Weltsicht zugeschrieben.

 

MACHTVERHÄLTNISSE

So eindrücklich solche weltanschaulichen Konstruktionen sind und so sehr sie, wie Übersetzungen etwa der Schriften Kagames beweisen, auch im deutschen Sprachraum Anklang gefunden haben, so problematisch sind sie aus methodologischer Sicht. Psycholinguistische Experimente mit Sprechern von Bantusprachen haben die angenommene Korrelation zwischen kognitiven und linguistischen Kategorien nicht bestätigt. Und selbst die Annahme eines Urzustandes der perfekten Entsprechung semantischer und grammatikalischer Klassenmerkmale, die auch von manchen Sprachwissenschaftern vertreten wird, muss aus grundsätzlichen Überlegungen mit einem Fragezeichen versehen werden.

Methodologisch gesehen erweist es sich als unsinnig, aus immanenten Eigenschaften der Sprache - grammatischen Kategorien, Satzstrukturen oder vom Sprachgebrauch abstrahierten Merkmalen des Lexikons - Erkenntnisse über Denkweise und Geisteshaltung der Sprecher abzuleiten, unabhängig von Aussagen, die diese selbst mit Hilfe dieser sprachlichen Mittel ausdrücklich machen und überprüfen können. So gehört es ins Reich der Spekulation, wenn behauptet wird (Tossou), dass der Ausdruck «Etwas ist in meiner Hand» ein weniger rücksichtslos besitzergreifendes Verhältnis der in Togo und Ghana beheimateten Ewe zur Gegenstandswelt widerspiegle als unser europäisches «Etwas haben», das mit der grammatischen Subjekt-Objekt-Codierung das Verhältnis Besitzer - Besitz als reines Machtverhältnis konzipiere. Abgesehen davon, dass es kulturell den Ewe verwandte afrikanische Völker gibt, die das Besitzverhältnis sprachlich nach dem «Haben»-Muster konstruieren - etwa die Wobe an der Elfenbeinküste -, ohne dass sich ihr Verhalten in Fragen des Besitzes in erkennbarer Weise grundlegend von demjenigen der Ewe unterscheidet, übersehen solche Deutungen die Eigenständigkeit der sprachlichen Codierung gegenüber der konzeptuellen Erfassung der Wirklichkeit.

Wenn allerdings bei den Akan, den westlichen Nachbarn der Ewe, «mein(e)» Vater, Mutter, Onkel, Grosseltern, Mann mit einem hochtonigen besitzanzeigenden Pronomen, «mein(e)» Kind, Neffe, Enkel oder Frau mit einem tieftonigen Pronomen verbunden sind, dann lässt sich hier der Bezug zu einer durch Dominanz der Seniorität und des Mannes gekennzeichneten Gesellschaftsordnung schwerlich leugnen. Und wenn bei dem Minderheitenvolk der Tura an der Elfenbeinküste das in «mein Mann» und «meine Frau» ausgedrückte Zugehörigkeitsverhältnis zwar geschlechtersymmetrisch, im Unterschied zu anderen Verwandtschaftsbezeichnungen und zu Körperteilen aber grammatisch so konstruiert wird wie bei veräusserbaren Gegenständen, so darf man darin durchaus einen sprachlichen Reflex eines exogamen Verständnisses der Heirat im Sinn einer Transaktion zwischen Grossfamilien sehen.

Gerade an diesem Beispiel lässt sich aber auch zeigen, dass der Umkehrschluss von der Sprache auf Kultur und Weltbild, auf dem letztlich die Hypothese vom «Weltbild der Sprache» in allen ihren Spielarten beruht, nicht haltbar ist. Man würde analog zur grammatischen Gleichbehandlung der Ehepartner bei den Tura und ihrer grammatischen Ungleichbehandlung bei den Akan ja bei den ersteren eine stärkere Neigung zur Gleichstellung der Geschlechter erwarten als bei den letzteren. In Wirklichkeit verhält es sich genau umgekehrt: Während die teilweise matriarchalisch geprägte Akan-Gesellschaft der Frau etwa im Erb- und Familienrecht Rollen zuweist, die ein starkes Gegengewicht zur männlichen Vorrangstellung darstellen, lässt die streng patrilineare und auch patriarchalische Gesellschaft der Tura für einen solchen Ausgleich nur wenig Raum.

Der Weg über die afrikanischen Sprachen bietet in der Tat einen einzigartigen, durch nichts zu ersetzenden Zugang zum Denken und Wirklichkeitsverständnis der Kulturen Afrikas in ihrer gemeinsamen Verschiedenheit von der europäischen Kultur und ebenso in ihrer Verschiedenheit voneinander. Aber wem es um wirkliches Verstehen des Anderen zu tun ist, der wird den aufwendigeren Weg über die textliche und dialogale Dimension der Sprache nicht scheuen. Diese Dimension ausser acht lassende Rückschlüsse aus sprachimmanenten Befunden, wie sie die Theorie vom sprachlichen Weltbild nahelegt, tragen der historischen Zufälligkeit solcher Befunde nicht Rechnung und sind schon deshalb oft Kurzschlüsse, die wirkliches Verstehen eher hindern als fördern. 

 

 


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