Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
Klassische Sprachen |
Quelle:
Neue Zürcher Zeitung LITERATUR UND KUNST Samstag, 10.07.1999 Nr. 157 81
Zur Relativität des sprachlichen Relativismus |
Japanische und chinesische
Beispiele
Von Elmar Holenstein
Dass man anderswo rot sieht, wo wir orange
sagen, dass Eskimos für jede Schneekonsistenz eine eigene
Bezeichnung haben: diese Feststellungen gehören zum
Basisrepertoire der sprachrelativistischen Argumentation. Aber
wieweit kann man aus
solchen Sprachphänomenen auf
grundlegende kognitive Differenzen
schliessen?
Eine japanische Beifahrerin macht den europäischen Wagenlenker vor einer Verkehrsampel mit den Worten «Es ist blau geworden» darauf aufmerksam, dass er weiterfahren kann. Die Japanerin hatte ihren Hinweis wörtlich aus ihrer Muttersprache ins Deutsche übertragen. Die beiden sind auf einer Fahrt «ins Blaue» an einem hellen Maisonntag. So liegt die Rückfrage nahe, ob sie den Unterschied zwischen der Farbe des Himmels über sich und der Farbe der Wiese neben der Strasse denn nicht bemerke und sehe, dass das Licht der Ampel mehr dem grünen Gras als dem blauen Himmel gleiche. Die Japanerin ist über die Frage ebenso verdutzt wie ihr deutscher Kollege, der «Weisswein» anbietet und daraufhin gefragt wird, ob er denn nicht sehe, dass die Farbe des Weins mehr derjenigen der Sonnenblumen gleiche als derjenigen des Papiers, auf das er schreibt. Offenkundig kann man nicht einfachhin sagen, dass die Sprachen die Welt so widerspiegeln, wie sie ihre Sprecher wahrnehmen.
Kein Kenner wäre jedoch überrascht, wenn ein Kind, das nebeneinander ein Glas Weisswein und ein Glas Rotwein zu zeichnen hätte, den Weisswein weiss zeichnen würde oder auf jeden Fall heller, als wir ihn sehen. Warum? Einen Kontrast verdeutlicht man, indem man ihn übertreibt, beim Malen wie beim Sprechen. Man muss überdies unterscheiden zwischen dem möglichen Einfluss der Sprache auf die Wahrnehmung und ihrem Einfluss auf die gedankliche Verarbeitung des Wahrgenommenen und auf seine bildhafte oder sprachliche Wiedergabe. Wahrnehmungen sind weniger leicht verformbar als ihre Verarbeitung im Kopf oder ihre Reproduktion in Bild und Sprache. Menschen haben die Neigung, in der Kunst das darzustellen, was sie wissen oder zu wissen glauben, nicht, was sie sehen. Bei Kleinkindern und ähnlich bei Angehörigen alter Kulturen ist diese Tendenz besonders auffällig. Sie wissen, dass Menschen Beine haben, und zeichnen sie entsprechend. Paul Feyerabend schrieb, Kinder und «archaische Menschen» sähen die Welt so, wie wir ihre Bilder sehen. Ein archaischer Zeichner wäre aber mutmasslich ebenso erstaunt gewesen, wenn er gefragt geworden wäre, ob er nicht sehe, dass die Beine des Pferdelenkers, die er als über den Seitenwänden des Streitwagens stehend zeichnet, in Wirklichkeit von den Seitenwänden verdeckt werden, wie der moderne Wissenschaftstheoretiker, der gefragt wird, ob er den Unterschied zwischen der Farbe seines «Weissweins» und der Milch, die er nach wie vor trinkt, nicht wahrnehme.
Der kulturelle Relativismus hat in diesem Jahrhundert einen massiven Schub erhalten durch die wichtige wissenschaftstheoretische Einsicht, dass die gleichen Beobachtungsgegebenheiten prinzipiell mit unendlich vielen verschiedenen theoretischen Deutungen vereinbar sind. Ein simples Einführungsbeispiel: Ein Strich auf einem Blatt Papier lässt sich gleicherweise als ein Strich oder als fünf unmerklich ineinander überlaufende Striche deuten. Eine x-beliebige Anzahl von solchen Strichen ist vereinbar mit dem, was wir wahrnehmen. Aber nicht alles, was von einem logischen Standpunkt aus möglich ist, ist auch natürlich. Unser neurales «Wahrnehmungsvermögen» ist so beschaffen, dass wir unabhängig von der Sprache und der Kultur, in die wir hineingeboren werden, einen Strich sehen und nicht fünf ineinander überlaufende Strichlein. Ist dies blosser Zufall?
DER STOFF DER WELT
Bei der Entwicklung natürlicher Sprachen machen sich immer wieder Schranken strukturaler und funktionaler Art bemerkbar, von denen sich ein Grossteil mit der allen Menschen gleichen neurobiologischen Ausstattung erklären lässt. Darauf weisen die zugleich interkulturellen und interdisziplinären Studien hin, die heute in Amerika in Zusammenarbeit mit Forschungskollegen hauptsächlich aus Japan und China durchgeführt werden. Klassischen philosophischen Fragen wird nunmehr interdisziplinär, häufig an psychologischen Instituten zentriert, nachgegangen. Zwei Beispiele müssen genügen.
Philosophen befassen sich nicht mit der Klassifikation von Farben und Schneesorten. Ihr Terrain sind niedriger gelegene und abstraktere Schichten. Sie fragen nach den denkbaren Seinsweisen und Seinssorten der Wirklichkeit. In den indoeuropäischen Sprachen unterscheidet man grammatisch zwischen diskreten Gegenständen (Werkzeugen, Tieren, Menschen), die dank ihrer Gestalt deutlich voneinander verschieden und entsprechend leicht zählbar sind, und massigen Substanzen (Wasser, Lehm, Mehl, Speck). Um sie quantifizieren zu können, gebrauchen wir Messeinheiten, mit denen wir sie zugleich klassifizieren als von flüssiger, fester, brocken- oder scheibenförmig aufteilbarer Stofflichkeit. Wasser wird zählbar, wenn wir es in Krüge oder Liter abfassen. Mehl können wir in Säcken oder Kilos quantifizieren, Speck, indem wir ihn in «Bröcklein» oder «Scheiben» schneiden usf. Die Substantive, die wir für diskrete Gegenstände gebrauchen, werden daher als «Zählnomina» bezeichnet, und die für massige Substanzen als «Massennomina».
Der amerikanische Philosoph W. V. Quine, ein hervorragender Sprachen- und Sprachwissenschaftskenner, ist nun darauf gestossen, dass im Japanischen wie in vielen andern Sprachen die uns vertraute grammatische Unterscheidung zwischen «Zählnomina» und «Massennomina» nicht gegeben ist. Um diskrete Gegenstände zählbar zu machen, müssen sie nicht anders als die massigen Substanzen zuerst klassifiziert werden, als mehr oder weniger ein-, zwei- oder dreidimensionale Gegebenheiten, als Tiere einer bestimmten Art oder als Menschen und dergleichen mehr. Wenn Japaner von fünf Rindern sprechen, gebrauchen sie eine nach Quine ontologisch zweideutige Sprachwendung, die man annähernd entweder als «fünf zur Klasse der Bovine gehörige Rinder» oder aber als «fünf Stück Rindvieh» übersetzen könne, ohne dass es entscheidbar sei, welche Übersetzung die richtige sei. Es sei «unerforschlich», ob sie sich mit ihrer Redeweise letztlich auf Individuen oder auf eine massige Substanz beziehen. Mit dem heute zur Verfügung stehenden Jargon könnte man sagen, es sei nicht auszuschliessen, dass sie auf einem Reisfeld «fünf Stück Rind-Biomasse» wahrnehmen, ähnlich wie wir in einer Metzgerei «fünf Stück Rindfleisch» sehen.
Quine hatte jedoch seine «Inskrutabilitätsthese» ein ontologisches Untergeschoss zu hoch angesetzt. Einer seiner japanischen Schüler, dem Quines Interpretation überhaupt nicht dem eigenen Sprachverständnis als «native speaker» entsprach, machte ihn darauf aufmerksam, dass Englisch lernende Japaner den Ausdruck «five pieces of bread» anfänglich fehldeuteten, als seien damit nicht fünf Scheiben Brot, sondern fünf Brote gemeint. Der Unterschied zwischen individuierten Gegenständen (Rindern) und massigen Substanzen (Beef) sei für sie so evident wie etwas. So sehr, könnte man meinen, dass sie es nicht nötig finden, den Unterschied auch grammatisch zu markieren.
Interkulturell durchgeführte Wahrnehmungs- und Sprachtests mit Kindern deuten inzwischen darauf hin, dass ihnen sprachunabhängig die ontologische Unterscheidung zwischen individuierten Gegenständen und massigen Substanzen geläufig ist. Gewisse Unterschiede sind augenfällig. Eine Portion Rindfleisch ist auch Rindfleisch, während ein Körperteil eines Rindviehs, etwa sein Hals, kein Rindvieh ist. Vor allem «grössere Tiere», Menschen zumal, werden spontan als Individuen erfasst. Der «westliche Individualismus» ist «den Chinesen» und «den Japanern» nicht sprach- oder kulturbedingt etwas Unerfassliches. Er ist ihnen nur zu vertraut. Auch aus eigener Erfahrung. Egoisten, die auf ihr Recht pochen, gibt es drüben wie hüben, ebenso Menschenkenner.
Wenn ein gewisser Relativismus auszumachen ist, dann scheint er weniger von den einzelnen Sprachen abhängig zu sein als von dem Bereich, in dem er sich bemerkbar macht. Einerseits ist, wie eingangs ausgeführt, zu unterscheiden, ob es sich um Wahrnehmung, begriffliche Verarbeitung des Wahrgenommenen, Erinnerung oder Reproduktion zu Kommunikationszwecken handelt. Andererseits spielt die Beschaffenheit der Phänomene eine Rolle, auch innerhalb der Wahrnehmung. Häufig hat man es mit einem Kontinuum von Wahrnehmungsgegebenheiten zu tun. An einem Ende des Kontinuums ist die Sprachunabhängigkeit der Wahrnehmung evident. Am anderen ist die Wahrnehmung, durch die Natur der Sache bedingt, schwankend, variabel und von der jeweiligen Sprache oder Sprachbeherrschung leicht beeinflussbar.
Die Wahrscheinlichkeit einer individuierten Wahrnehmung ist bei Lebewesen am höchsten, gefolgt von konkreten Objekten. Am niedrigsten ist sie bei massigen Substanzen. Ein Kenner fragt einen Käser, «wie viele Käse» er produziert, und meint dabei Käselaibe. Ein Laie fragt nach, «wieviel Käse» und denkt dabei an Kilo. Der erste gebraucht «Käse» als «Zählnomen» im Plural, der zweite als «Massennomen» im Singular. Eine gleicherweise zwischen- und binnensprachliche Variation der Wahrnehmungs- wie der Bezeichnungsweise entlang eines Kontinuums ist von Farbentests her wohlbekannt. Für Sprecher verschiedener Sprachen ist der Unterschied zwischen einem optimalen Rot und einem optimalen Blau genauso offensichtlich wie für Sprecher ein und derselben Sprache. Wo aber die Grenze zwischen Rot und Blau auf dem Farbspektrum zu ziehen ist, darüber sind die Benutzer ein und derselben Sprache nachweislich in vielen Fällen kaum weniger unsicher und uneins als die Benutzer verschiedener Sprachen. Die Bestimmtheit, mit der die Benennung im einen Fall erfolgt, und die Unbestimmtheit, mit der eine Trennlinie im zweiten Fall gezogen wird, hat entschieden mehr mit der Natur unseres neuralen Wahrnehmungsapparates zu tun, den wir von unseren Eltern vererbt bekamen, als mit der Struktur der Sprache, die wir von ihnen gelernt haben.
INNERSPRACHLICHE
VARIABILITÄT
Beim zweiten Beispiel geht es um die Frage, ob man in allen Sprachen über alles sprechen kann und ob man entsprechend alles, was man in einer Sprache mitteilen kann, auch in allen andern Sprachen mitteilen kann. Vor bald zwanzig Jahren glaubte der amerikanische Kulturwissenschafter Alfred Bloom nachweisen zu können, dass kontrafaktisches Denken Chinesen nicht so geläufig ist wie Amerikanern. Im Chinesischen gibt es keinen Subjunktiv, d. h. Verbformen wie «wäre» und «hätte». Die kontrafaktische Behauptung «Wenn A der Fall wäre, dann würde auch B der Fall sein» und die faktische Behauptung «Wenn A der Fall ist, dann ist auch B der Fall» werden im Chinesischen mit dem gleichen Satz wiedergegeben: «Wenn A der Fall seiend, B der Fall seiend.» Bloom mutmasste, dass diese grammatische Undifferenziertheit mit eine Erklärung dafür liefern könnte, dass die Wissenschaftsentwicklung in China hinter derjenigen im Westen zurückgeblieben ist. Kontrafaktische Annahmen spielen im wissenschaftlichen Argumentieren eine grosse Rolle.
Chinesische und japanische Psychologen, Au, Liu und Takano, setzten sich nun in der Zeitschrift «Cognition» mit Blooms Tests auseinander. Sie wiesen darauf hin, dass es im Chinesischen durchaus sprachliche Mittel gibt, um die kontrafaktische Natur einer Aussage hinreichend kenntlich zu machen, übersetzbar etwa mit «A nicht der Fall seiend, aber wenn A der Fall seiend . . .» oder «Angenommen: Wenn A . . .». Bei ungewohnten Sachverhalten bieten sich längere Umschreibungen an.
Zur Sprachkompetenz der Menschen gehört, salopp ausgedrückt, dass sie erstens über alles reden können und zweitens alles auch anders sagen können. Bienen teilen einander mit, wie weit entfernt und in welcher Richtung Nektar zu finden ist. Über das Wetter oder die Farbe der Ampeln oder gar über ihre «Bienensprache» vermögen sie keine Aussagen zu machen. Wenn der Nektar 1 Kilometer entfernt ist, können sie das nur auf eine Weise zum Ausdruck bringen. Menschen können räumliche Kategorien (1 Kilometer), zeitliche Kategorien («eine Viertelstunde»), Metaphern («ein Katzensprung») und noch andere Umschreibungen benutzen. Ohne die Fähigkeit, alles auch mit andern Worten zu sagen, vermöchte kein Menschenkind die Sprache zu lernen, die es lernt. Das gilt wohl auch für die subjunktiven Verbformen «wäre» und «würde». Nicht alles ist «tel quel» in jede Sprache übersetzbar. Aber in jeder Sprache lässt sich hinreichend verständlich erläutern, was in einer fremden Sprache anders gesagt wird und mit welchen Mitteln.
Ebenso wichtig ist eine andere Einsicht, die von den alten Sprachrelativisten übersehen worden ist. Nicht alle Informationen, die wir benötigen, um eine sprachliche Äusserung zu verstehen, sind in der Sprache selber enthalten. Wir reden laufend mehrdeutig, ohne dass es zu Missverständnissen kommt. Unser Erfahrungswissen und der jeweilige Kontext reichen zur Entscheidung zwischen den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten aus. In den Sportnachrichten lesen wir: «B gewann nach einer dreimonatigen Pause wegen einer Knieverletzung bereits das zweite Turnier.» Kein Mensch lässt sich von der Zweideutigkeit des Satzes aufhalten. Niemand ist unsicher, ob B «wegen der Knieverletzung» zur Pause oder zu seinen Siegen gekommen ist. Die Grenzen unserer Sprachen sind nicht die Grenzen unserer Welt. Menschen verfügen über kognitive Fähigkeiten, die weit über ihre sprachlichen Fähigkeiten hinausreichen.
Die Sprachen bleiben jedoch ein Musterforschungsgebiet zur Diskussion traditioneller philosophischer Probleme. Der Sprachrelativismus ist als Modeströmung im Westen 250 Jahre alt (im muslimischen Iran gut 1000 Jahre), der moralische Wertrelativismus dagegen 2500 Jahre. Einiges deutet dennoch darauf hin, dass man bei diesem mit analogen Forschungsstrategien, wie sie die interkulturell betriebene Sprachpsychologie beispielhaft entwickelt hat, auch zu analogen - intellektuell interessanten und politisch relevanten - Relativierungen landläufiger Vorurteile gelangt.
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