Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

  

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TAGES-ANZEIGER KULTUR & MEDIEN Freitag, 29.12.2000 Nr. 72  49

 

War Sokrates wirklich ein Märtyrer?

Die Justiz der ersten Demokratie hat einen miesen Ruf. Teils zu Unrecht, wie das Buch "Grosse Prozesse im antiken Athen" zeigt.

Von Peter Müller

Auch nach 2400 Jahren kann sich der Historiker Peter Funke noch ereifern. "Der ganze Prozess war ein Skandal", schreibt er in einer kürzlich erschienenen Geschichte des klassischen Athen. Funke ist nicht allein mit seiner Empörung. Dass das Volksgericht, die Heliaia, im Frühling 399 v. Chr. den Philosophen Sokrates zum Tod verurteilte, gilt gemeinhin als Justizskandal. Denn was hatte der Denker schon verbrochen? Auf den Zahn hatte er den Bürgern gefühlt und dabei Denkfäulnis entdeckt. Und die Athener wussten nichts Gescheiteres, als den unbequemen Ironiker zum Märtyrer zu machen. Eine Schande für die Demokratie.

Wirren des Nachkriegs

Der Fall ist komplizierter. In seinem Beitrag zum Sammelband "Grosse Prozesse im antiken Athen" stellt ein anderer Historiker, Peter Scholz, die Verurteilung des Sokrates in einen geschichtlichen Zusammenhang. Athen litt unter den Folgen des verlorenen peloponnesischen Kriegs (431-404 v. Chr.). Die hundertjährige demokratische Ordnung wurde gestürzt, 30 Tyrannen regierten 403 unter dem Schutz der siegreichen spartanischen Truppen. Während ihrer sechsmonatigen Schreckensherrschaft wurden 1500 Bürger umgebracht, 5000 verloren ihr Vermögen und mussten ins Exil, auch der reiche Lederfabrikant Anytos, ein späterer Ankläger des Sokrates. Der Philosoph dagegen konnte in der Stadt bleiben. Vermutlich gehörte er zu jenen 3000 Männern, denen die Tyrannen nach strenger Einzelprüfung das volle Bürgerrecht zugestanden.

Eine ständige Horrorvorstellung der Athener war jetzt Wirklichkeit: die Stasis, der Bürgerkrieg. Mit militärischer Gewalt gelang es schliesslich den Demokraten, die Tyrannen zu stürzen. Der spartanische König gestand in der Folge die Wiederherstellung der Demokratie zu, verlangte aber eine umfassende Amnestie. Doch die Spaltung des Stadtstaats war so leicht nicht zu heilen. Misstrauen und Verdacht, Ängste und Rachegelüste schwelten weiter. Als sich die spartanische Kontrolle lockerte, kam es zu Prozessen gegen Männer, die während der Tyrannis zu den 3000 genehmen Bürgern gehört hatten. Auch gegen Sokrates.

Als Misodemos, als Volksfeind, war er jetzt verdächtig. Hatte er nicht jahrelang Umgang gepflegt mit Mitgliedern des Tyrannenregimes, mit Kritias zumal, dem Anführer der verhassten dreissig? Und hatte er nicht immer wieder das Losverfahren bei der Ämterbesetzung verspottet, das für die athenische Demokratie zentral war? Der 70-jährige Sokrates geriet in den Ruch, ein Tyrannenerzieher, ein intellektueller Hintermann der Antidemokraten zu sein.

Die Losmaschine

Das macht das Todesurteil gegen den Philosophen nicht gerecht, aber verständlicher. Zumal er nichts tat, um seine Haut zu retten. In der Verteidigungsrede, wie sie sein Schüler Platon überliefert hat, rechtfertigte Sokrates nur beiläufig sein Verhalten während der blutigen Diktatur. Und noch nach dem Schuldspruch provozierte er das Gericht. Wo nicht das Gesetz das Strafmass bestimmte, konnten Ankläger und Verurteilter je einen Antrag stellen. Anytos und seine Mitkläger forderten die Todesstrafe; Sokrates dagegen soll auf einen Antrag verzichtet oder statt einer Strafe gar die höchste Ehrung verlangt haben - die lebenslange Speisung auf Kosten der athenischen Bürgerschaft.

Lebten Intellektuelle also gefährlich im alten Athen? "Die Verurteilung des Sokrates war eine durch besondere Umstände erklärbare Ausnahme", versichert Kurt Raaflaub, der die Prozesse im Umkreis des Staatsmanns Perikles untersucht. Eher schon mussten sich Politiker und Generäle fürchten. Wenn sie keinen Erfolg (mehr) hatten, konnte das Volksgericht erbarmungslos sein. Der Band dokumentiert spektakuläre Fälle: Themistokles, Perikles, Aischines, Demosthenes, auch die Feldherren, die zwar eine Seeschlacht gewonnen, aber 25 Schiffe samt der Mannschaft verloren hatten.

Im Unterschied zum modernen Rechtsstaat kannte man in Athen keine Gewaltenteilung. Es gab im Wesentlichen nur eine Instanz: die männliche Bürgerschaft. 6000 Bürger wurden jährlich als Richter ausgelost. Sie mussten über 30 Jahre alt sein, Zeit haben und mit drei Obolen als Tagespauschale zufrieden sein. Weil man an 150 bis 220 Tagen pro Jahr Gericht hielt und die Entschädigung nicht üppig war, nehmen die Historiker an, dass sich vor allem ältere und arme Bürger als Richter meldeten. Für die Staatskasse war ein Gerichtstag dennoch teuer: Für die simpelste Privatklage brauchte es 201 Richter, bei öffentlichen Klagen waren es, je nach Schwere des Falls, zwischen 501 und 2501, selten alle 6000. Über Sokrates sassen 501 Bürger zu Gericht - damals keine grosse Staatsaffäre also.

Die Athener waren Skeptiker. Anders als etwa die Römer misstrauten sie Entscheidungen durch einzelne Amtspersonen. Immer witterten sie die Korrumpierbarkeit durch Macht. Sie setzten auf Ämterrotation, auch Kontrolle, Klüngelei und Bestechung galt es zu verhindern. Darum war das Losverfahren so wichtig in der athenischen Demokratie. Bei den Volksgerichten wurde es im 4. Jahrhundert v. Chr. bis zur Perfektion verfeinert, wie Gerhard Thür anschaulich schildert. Keineswegs wussten die 6000 ausgelosten Richter am Gerichtstag, ob sie tatsächlich zum Einsatz kommen. Und unbekannt war ihnen daher auch, in welcher der zehn Gerichtssektionen und in welcher Bankreihe sie sitzen würden. Alles wurde erst ausgelost. Sogar Losmaschinen, Kleroteria, sind dafür eigens entwickelt worden. Bei Ausgrabungen hat man Bruchstücke davon gefunden.

Jede Stimme zählt

Weder ein kohärentes Strafrecht noch juristisch austarierte Urteile waren den Athenern wichtig. Entscheidend war das Verfahren. Ein Prozess durfte nicht länger als einen Tag dauern. Kläger und Angeklagter mussten selber ihre Sache vor Gericht vertreten. Anwälte gab es so wenig wie Berufsrichter, einzig Hilfe von Redenschreibern, Logografen, war erlaubt. Die Richter stellten keine Fragen und begründeten ihr Urteil nicht. Nur schuldig oder unschuldig hiess es, und Berufung war nicht möglich.

Man kann das primitiv nennen, verkennt damit aber das Wesen der athenischen Justiz. Die Heliaia, das Volksgericht, das noch in unseren Geschworenengerichten nachwirkt, ist eine direkte Ergänzung, auch Entlastung der Volksversammlung, der Ekklesia. Das spannende Buch "Grosse Prozesse im antiken Athen" macht das in Überblicken und an Einzelfällen sehr klar. Jeder Prozess ist politisch, das Gericht wird zur Bühne für die Selbstdarstellung der Demokratie. Ob der Bürger über Gesetze oder Rechtsfälle entscheidet - seine Stimme zählt. Oder wie es Demosthenes, Athens berühmtester Redner, formulierte: Der Demos, das Volk, ist "Herr über alles".

Leonhard Burckhardt/Jürgen von Ungern-Sternberg (Hrsg.): Grosse Prozesse im antiken Athen. Verlag C. H. Beck, München 2000, 301 Seiten, 50 Fr.

 

Bild

J. L. David
Der Tod des Sokrates
1787
(40KB)

 

 

 


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