Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

  

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Neue Zürcher Zeitung Ressort Feuilleton, 19. Dezember 2000, Nr. 296, Seite 59

 

Zu Patos Symposion als ergänzende Lektüre

 

Fatale Unsterblichkeit

Die Kosten einer Leidenschaft

Beschwerlich sind die Wege zur Unsterblichkeit. Geplagt von der Vorahnung des Endes, errichten die Menschen riesige Tempel und Grabstätten, Behausungen für das ewige Leben. Unermüdlich zeugen sie Nachkommen auf Nachkommen, um in allen folgenden Generationen fortzuleben. Sie mühen sich ab mit bedeutsamen Werken für das kollektive Gedächtnis. Und nicht wenige klammern sich verzweifelt an die Idee einer ewigen Seele, welche im finalen Augenblick die hinfällige Körperhülle verlassen wird, um endlich irgendwo eine dauerhafte Bleibe zu finden.

Neuerdings setzen manche Zeitgenossen darauf, mittels biotechnischer Verfahren Kopien ihrer selbst zu erschaffen; andere versorgen sich stattdessen lieber rechtzeitig mit organischen Ersatzteilen. Historisch Weitsichtige lassen sich nach ihrem Ableben mumifizieren oder in mannshohen Thermoskannen mit flüssigem Stickstoff einfrieren, in der vagen Hoffnung, später wieder auferweckt zu werden.

Ruhm

Offenbar kann sich der Homo sapiens kaum damit abfinden, dass es gegen den Todfeind kein probates Mittel gibt. Dabei ist das Einzige, was die Götter dem Menschen zur Überwindung des Todes gelassen haben, der Ruhm. Als Geschenk des Himmels wurde er einst verliehen - für grosse Taten und grosse Worte, für Klugheit, Freigebigkeit oder Tapferkeit.

Für das Individuum war Ruhm zwar immer nur ein dürftiger Ersatz für den Verlust des ewigen Lebens, doch sorgte er für das Überleben der Gattung. Denn Ruhm festigt die soziale Verbindlichkeit der Werte und Tugenden. Er bekräftigt Leitbilder und lenkt den unerfreulichen Geltungsdrang des Einzelnen in erwünschte Bahnen. Wer mit Lorbeer bekränzt wird, gibt ein Exemplum für die anderen. An ihm können sie erkennen, wie man sich aus eigener Kraft unsterblich macht. Doch liegt es in der sozialen Natur des Ruhms, dass er stets von Missgunst begleitet wird. Wer Ruhm ohne Neid wünscht, dem bleibt nur der baldige Abgang. So schrieb Erasmus, der Hochgeehrte, allen ruhmsüchtigen Toren ins Stammbuch: «Vollbringe irgendeine glänzende Tat und stirb!»

Bevor die Menschen den Lorbeer grosszügig untereinander zu verteilen begannen, oblag es den Göttern, die Auserkorenen zu sich zu rufen. Der Gerühmte galt als Günstling höherer Mächte und konnte auf baldige Unsterblichkeit zählen. Der grosse König, der wagemutige Heros, der Dichter oder Vordenker, sie wurden auf Erden als göttlich verehrt und am Ende ihrer Tage in den Himmel aufgenommen. Der irdische Ruhm diente als Aufzug zu den unsterblichen Göttern.

Später übernahm der Staat das Amt der Belobigung. Verdienste um die Glorie von Volk und Vaterland werden noch heute mit öffentlicher Anerkennung honoriert. Wer Staatsruhm erwirbt, hat sich angeblich um das Gemeinwesen verdient gemacht. Doch ist es nur ein sterblicher Gott, der den Orden anheftet. Daran mag es liegen, dass die Auszeichnung insgeheim als ungenügend empfunden wird und sogleich die Gier nach weiteren Orden weckt. Den Wahn nach wahrer Unsterblichkeit kann kein Ruhmeslied befriedigen, das nur von Sterblichen gesungen wird.

Wie auch sonst ist die Geschichte der Unsterblichkeit eine Verfallsgeschichte. Klaus Thiele-Dohrmann lässt seine Erzählung des alten Menschheitstraums enden bei den Idolen der Populärkultur, bei den Göttinnen der Leinwand oder des Tennisplatzes. Dabei dürfte das Niveaugefälle zwischen der Hetäre Phryne und der «göttlichen» Garbo so gross nicht sein. Und was unterscheidet den Triumphzug über das Forum Romanum von der Siegesparade auf der Fifth Avenue? Aber welcher heutige Preisträger entspräche der Apotheose Homers, Solons oder Alexanders?

Prestige, Prominenz

Gewiss hat der Ruhm seine Aura verloren, Vergöttlichung ist zu Vergötterung verkommen. Statt ewigen Ruhms sind nur noch Prestige und flüchtige Prominenz zu ernten. Nicht die Götter, nicht der Staat, die Fama verkündet heute den Ruf. Ein gar hässliches Wesen ist sie. Tausende von Augen, Zungen und Ohren verbergen sich unter ihrem Federkleid, das sich rasend schnell zwischen Erde und Himmel bewegt und mit jeder Bewegung grösser und grösser wird.

Nicht immer endet der Weg zur Unsterblichkeit in harmloser Symbolik. Die wohlgesetzten Verse, das vortreffliche Bildwerk, der ausgeprägte Sinn für Gerechtigkeit, die höheren Leistungen der Kultur verblassen vor den Verdiensten unter Lebensgefahr. Niemand genoss früher grösseren Ruhm als der siegreiche Feldherr und der gefallene Krieger. Dem römischen Herrscher, der mit der Kriegsbeute in die Stadt zurückkehrte, gewährte der Senat die Parade des Triumphs. Hierzu musste er jedoch nachweisen, dass auf den Schlachtfeldern seines Feldzugs mindestens 5000 Feinde gefallen waren. Je zahlreicher die Toten, desto grösser sein Triumph und desto stärker die Versuchung, sich in die Sphäre des Göttlichen erheben zu lassen. Nicht umsonst musste der Lenker des Triumphwagens den Feldherrn mit rituellem Ruf zur Bescheidenheit mahnen: «Vergiss nicht, das du ein sterblicher Mensch bist.»

Dass selbst der Tod Unsterblichkeit einzubringen vermag, beweist der tote Heros. Er hat sein Leben geopfert für das Gemeinwesen, hat bis zum letzten Atemzug dem Schicksal getrotzt und zahllose Feinde in den Tod geschickt. Dafür gebührt ihm ein leuchtendes Grab am Ehrenmal der Nation, ein unvergänglicher Lobpreis, auf dass sein Ruhm bei jedem Anlass zur Rede oder Tat unvergessen nachlebe.

Die Unsterblichkeit hat eine fatale soziale Nebenwirkung. Der Überlebende will nicht nur immerzu da sein, er will noch da sein, wenn andere nicht mehr da sind. Tagtäglich studiert der alte Herr die Todesanzeigen, um befriedigt festzustellen, dass von seinem Jahrgang niemand sonst übrig ist. Das Überleben braucht die Gesellschaft der Toten. Darin liegt eine höchst gefährliche Triebkraft. Unsterblichkeit ist weit mehr als ein törichter Wahn, sie ist eine Destruktivkraft eigener Art, eine Geburtsstätte der Gewalt, des Terrors.

Tötungsmacht

Nichts verschafft stärkere Vitalität als der Besitz des Todes. Wer über Tötungsmacht verfügt, hat sich den ärgsten Feind untertan gemacht. Unverletzbar kann er sich fühlen, frisch und voller Lebenskraft. Er meint zu wissen, dass er zu den Letzten gehören wird, ja dass er selbst der Letzte sein wird. «Die einzige Möglichkeit, auf der Erde zu leben, ist, in einer Welt unter dem letzten Menschen zu leben. Ich bin die letzte und äusserste Grenze; ihr alle werdet tun, was ich sage, oder es wird nichts geben.» So lautete das Glaubensbekenntnis von Charles Manson, dessen «Family» 1969 zehn Morde in Los Angeles beging, u. a. in der Villa des Regisseurs Roman Polanski. Mansons Weltsicht entspricht dem Credo aller apokalyptischen Sekten, die unter charismatischer Führung das Ende der Welt herbeisehnen oder durch eigene Tat zu erzwingen versuchen.

Der terroristischen Dynamik radikaler Sekten ist Robert Jay Lifton in einer aufschlussreichen Studie nachgegangen. Lifton, erfahren in der Psychoanalyse der Katastrophen des letzten Jahrhunderts, eruiert in Gesprächen mit ehemaligen Mitgliedern der japanischen Aum-Sekte die mörderischen Kräfte, die aus der charismatischen Bindung an einen Guru, den halbblinden Aktionspropheten Asahara, erwachsen sind. Durch Exerzitien, Folter und Selbstbestrafung wurde das Gehirn der Anhänger so leer gewaschen, dass es mit der Ideenwelt ihres Anführers vollständig aufgefüllt werden konnte, einem krausen Potpourri aus christlicher Apokalypse, Shintoismus, tibetischem Buddhismus und japanischen Endzeitvisionen. Aum war eine totalitäre Gemeinschaft, die von jedem Mitglied die absolute Seelenreinigung verlangte, einen weltlosen Zustand der Erlösung, wie er zuletzt nur den Göttern vorbehalten ist. Aus dem Laufrad von Demütigung, Drohung und Scham gab es kein Entkommen. Immer tiefer gerieten die Nonnen und Mönche in den Strudel bedingungsloser Liebe und Anbetung.

Den ersten Morden fielen Verräter und missratene Jünger zum Opfer, welche den Treuetest nicht bestanden hatten. Damit war die Gewalt als Mittel der Läuterung legitimiert. Man begann Spione aufzuspüren und mit biologischen und chemischen Waffen zu experimentieren. Von allgegenwärtiger Verworfenheit fühlte sich die Sekte umstellt. Denn alle anderen Menschen, die ihr nicht angehörten, wurden zum Reich des Bösen gerechnet. Sie waren wert, vernichtet zu werden. Der Tod sollte sie der Verderbnis entreissen und ihnen zur Wiedergeburt auf höherer spiritueller Stufe verhelfen. Der Tod als göttliche, mildtätige Gabe zum Heil des Opfers, als Gnadengeschenk des Himmels, vollstreckt von den erleuchteten Weltkriegern - das war die perverse Logik des «altruistischen Massenmordes». Mit dem Nervengas Sarin aus eigener Herstellung verübte die Sekte das Attentat in der U-Bahn von Tokio. Es sollte der Anfang des dritten Weltkriegs sein, dem nur die wenigen Auserwählten entgehen sollten.

In der Geschichte der Unsterblichkeit markiert Aum den bisher radikalsten Endpunkt. Andere apokalyptische Sekten wie «Peoples Temple» oder «Heaven's Gate» begnügten sich noch damit, sich selbst in den Himmel zu befördern. So erschreckend die kollektiven Selbstmorde in Jonestown (Guayana) oder San Diego waren, die Gruppen erwarteten zwar den nahen Weltuntergang, aber sie führten nur ihr eigenes Finale herbei. Die Gefolgsleute von Jim Jones lebten bis zuletzt in der Vorstellung, ihrer revolutionären Gemeinschaft allein durch den eigenen Tod Unsterblichkeit verleihen zu können. Die Jünger Marshall Applewhites bereiteten sich mit kleinem Gepäck darauf vor, von einem Ufo zur nächsthöheren Stufe abgeholt zu werden. Der Nachwelt hinterliessen sie - zum ewigen Gedenken - ein Video.

Asahara jedoch wollte sich durch Massenmord Unsterblichkeit zuteilen. Er wollte der Letzte sein, wollte in die Tat umsetzen, was der berühmte Geheimrat Daniel Paul Schreber nur in seinen Phantasien ausgelebt hatte: allmächtiger Vernichter der Welt und ihr göttlicher Neuschöpfer zu sein - bis in alle Ewigkeit.

Wolfgang Sofsky

Robert Jay Lifton: Terror und Unsterblichkeit. Erlösungssekten proben den Weltuntergang. Aus dem Amerikanischen von Udo Rennert und Ursula Gräfe. Verlag Carl Hanser, München 2000. 389 S., Fr. 47.50.

Klaus Thiele-Dohrmann: Ruhm und Unsterblichkeit. Ein Menschheitstraum von der Antike bis heute. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 2000. 272 S., Fr. 44.50. 

 

 


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