Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

  

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Neue Zürcher Zeitung LITERATUR UND KUNST Samstag, 27.03.1999 Nr. 72  77

 

Medienkritik in der Antike
Platons Ausgrenzung der Dichtung aus dem Staat

Von Christoph Riedweg

 

Dass Platon in einem seiner Hauptwerke die Dichtung heftig attackiert und insbesondere Epos und Tragödie aus seinem Staat verbannt wissen möchte, hat seit der Antike erhebliches Befremden ausgelöst. Aus moderner Perspektive irritiert nicht allein der innere Widerspruch zwischen solcher Zensur und Platons eigener literarischer Meisterschaft. Überraschend ist ebenso die Tatsache, dass der Auseinandersetzung mit Dichtung, Literatur und Theater im Rahmen einer staatsphilosophischen Abhandlung überhaupt so viel Platz eingeräumt wird. Platons Haltung wird leichter verständlich, wenn man die Bedeutung, welche diese Formen der Kultur für die antike Gesellschaft hatten, bedenkt. Im Grunde finden Platons Überlegungen am ehesten in der heutigen

Medienkritik ihre Entsprechung.

An zwei Stellen seines Dialogs «Staat» setzt sich Platon intensiv mit Dichtung und Literatur im allgemeinen auseinander. Die bereits in der Antike vielbeachteten Ausführungen enthalten dabei nicht wenige scharfsinnige Beobachtungen zu Form, Eigenart und zum Funktionieren von Dichtung - Beobachtungen, deren Nachwirkung bis in die moderne Literaturtheorie hinein zu verfolgen ist (u. a. G. Genette, J. Derrida). Platons Leitinteresse ist jedoch nicht literarischer oder ästhetischer, sondern dezidiert ethischer Natur. Was ihn umtreibt, ist die Frage nach der moralischen Eignung von Dichtung für die Erziehung und Bildung der Heranwachsenden, der er - ähnlich wie nach ihm Aristoteles - höchste Bedeutung für ein gut funktionierendes Gemeinwesen beimisst. Ist doch «der Anfang eines jeden Tuns das Wichtigste», wie der Gesprächsführer des Dialogs, Sokrates, sagt: Deswegen müsse auch der ethisch richtigen «Prägung» der jungen, noch formbaren Seelen besondere Beachtung geschenkt werden.

 

MATERIELLE KRITIK

BildIm zweiten und dritten Buch erfolgt die Auseinandersetzung zunächst unter inhaltlichem Gesichtspunkt. Platon geht dabei von Beginn weg mit Dichtung und Mythographie scharf ins Gericht: Nicht allein die den Kleinkindern von Ammen und Müttern erzählten Mythen seien grösstenteils frei erfundene Lügengeschichten; viel schlimmer noch äusserten auch Hesiod und Homer in ihren (für die Theologie der Griechen nach allgemeinem Selbstverständnis grundlegenden) Epen schlimme Lügen über Götter und Heroen, die zu deren wirklichem Wesen in eklatantem Widerspruch stünden. Im Anschluss an die ältere philosophische Dichtungskritik führt Platon als Beispiele für falsche poetische Äusserungen über die Götter den Hesiodeischen Sukzessionsmythos mit der Entmannung des Himmelsgottes Uranos durch Kronos und der Absetzung des Kronos durch seinen Sohn Zeus an, ferner u. a. den Kampf der griechenfreundlichen gegen die Troja unterstützenden Götter (die sogenannte Theomachie, wie sie von Homer im 20. Buch der Ilias eindrücklich geschildert wird). Als «Leitlinien» (týpoi) eines richtigen, die gewünschte sittliche Haltung der Zöglinge befördernden «Redens über die Götter» (theo-logía) werden bestimmt: 1. Der Gott ist seinem Wesen nach gut und wirkt nie etwas Schlechtes; 2. Götter ändern ihre Gestalt nie und wenden uns gegenüber keine Täuschung an. An diese Richtlinien, die im übrigen das spätere religionsphilosophische Denken bis weit ins Christentum hinein massgeblich beeinflusst haben, hätten sich die approbierten Dichter im skizzierten Idealstaat zu halten.

Was die Darstellung der Heroen im Epos anlangt, moniert Platon all jene Passagen, die der Tapferkeit der angehenden Elite der Wächter Abbruch tun könnten. Dazu rechnet er u. a. pessimistische Schilderungen der Unterwelt - zum Beispiel Achilleus' berühmten Wunsch, lieber als Taglöhner bei einem mittellosen Bauern auf der Erde sein Leben zu fristen als Herrscher über alle Toten zu sein -, da sie die Angst vor dem Tode förderten; ferner heftiges Wehklagen der Helden - etwa des Achilleus um seinen gefallenen Freund Patroklos - und auch übermässiges Lachen, welches beides sich für die Wächter nicht gezieme. Die inhaltliche Kritik wird mit einem Hinweis auf verwerfliche Äusserungen der Dichter über die Menschen - zum Beispiel, dass Bösewichte grossenteils im Glück, Gerechte jedoch im Elend lebten - beschlossen.

 

«MODES NARRATIFS»

Auf die inhaltliche Auseinandersetzung folgt die formale. Die von Platon an diesem Punkt offensichtlich neuentwickelte und dann weitgehend auch von Aristoteles übernommene Einteilung der Literatur nach dem äusseren Kriterium der Darstellungsform hat seit längerem die Aufmerksamkeit der Literaturtheorie auf sich gezogen. Insbesondere der französische Narratologe Gérard Genette liess sich davon zu seiner Unterscheidung dreier «modes narratifs» inspirieren. Nach Platon handelt es sich bei jeder Form von Literatur um eine Art «Erzählung» (dihegesis). Dieses Genus wiederum unterteilt er in die drei Species a) «reine Erzählung», b) Erzählung «durch Nachahmung» (mímesis) und c) Erzählung «durch beides». Als Beispiele für a) werden Mythographie und der chorlyrische Dithyrambos genannt, für b) Tragödie und Komödie und für c) das Epos. Platon illustriert seine Einteilung anschliessend anhand der ersten Verse der Ilias, in denen der Dichter zunächst «selbst spricht und auch nicht versucht, unser Denken in eine andere Richtung zu lenken, als wäre es ein anderer, der spricht, und nicht er»; danach jedoch schlüpfe er in die Rolle des Chryses und versuche, möglichst die Illusion zu erzeugen, dass nicht mehr er selber spreche, sondern der alte Apollonpriester, dem er sich in Sprache und Haltung so weit wie möglich anzugleichen suche (= mimeîsthai).

Diese im einzelnen sehr aufschlussreiche formale Analyse der Literatur wird von Platon in der Folge wieder konsequent unter moralischem Gesichtspunkt beurteilt, wobei sich die Diskussion auf die Frage zuspitzt, ob auch mimetische Dichtung - das heisst insbesondere die Tragödie mit Homer als Vorläufer dieser Gattung - in den Staat aufgenommen werden soll. Zum richtigen Verständnis der Ausführungen ist es notwendig, sich einige Besonderheiten der antiken Aufführungspraxis zu vergegenwärtigen: Alle Rollen wurden im Drama ausschliesslich von Männern gespielt; wichtig ist ausserdem, dass an den Dionysien, in deren Rahmen Tragödien (mit Satyrspiel), Komödien und Dithyramben aufgeführt wurden, jedes Jahr ein erheblicher Teil der männlichen Bevölkerung in der einen oder anderen Form aktiv an den Aufführungen beteiligt war (vor allem als Chormitglieder, in der Jury usw.).

Platon betont nun eindringlich die Gefahren, die von aktiven theatralischen «Nachahmungen», zumal wenn sie seit der Jugend betrieben werden, ausgehen: Die Nachahmungen könnten zur Gewohnheit und zu einer zweiten Natur werden, sowohl körperlich und in der Stimme wie vor allem auch im Denken. Deshalb spricht er sich entschieden dagegen aus, dass die Wächter, in deren Erziehungsprogramm der mousike im weitesten, die Dichtung mit einschliessenden Sinne eine grosse Bedeutung zukommt, die Rollen von Frauen, Sklavinnen oder Sklaven, feigen Männern oder Säufern oder gar - was vor allem in Satyrspielen, Komödien und Mimen der Fall war - von Tieren spielten. Einzig die «Nachahmung» sittlich guter Männer wird zugelassen (als mimetische Darstellungen des Sokrates genügen die Platonischen Dialoge evidenterweise dieser Anforderung), jede andere Art von Mimesis jedoch aus dem Staat verbannt.

Die Auseinandersetzung mündet zum Schluss in eine als fiktive Begegnung mit einem Vertreter der mimetischen Dichtung gestaltete, durch ihre rituellen Anklänge hochpoetische Ausgrenzung dieser Kunst:

 «Wenn aber ein Mann, der auf Grund seiner Klugheit imstande ist, alles mögliche zu werden und alle Dinge nachzuahmen (mimeîsthai), selbst in die Stadt kommt und seine Werke vorführen will, werden wir ihn wohl wie einen heiligen, wunderbaren und ergötzlichen Menschen verehren, jedoch sagen, dass es bei uns in der Stadt keinen Mann dieser Art gibt und es auch nicht erlaubt ist, dass es einen solchen darin gebe; und wir werden ihn in eine andere Stadt schicken, nachdem wir ihm wohlriechendes Öl über das Haupt gegossen und ihn mit Wolle bekränzt haben. Wir selber aber werden wohl mit dem herberen und weniger angenehmen Dichter und Mythenerzähler verkehren - um des Nutzens willen: dieser ahmt uns die Redeweise des sittlich Guten nach und erzählt uns das, was im Einklang mit den Richtlinien gesprochen ist, welche wir zu Beginn als Gesetz festgelegt hatten, als wir versuchten, die Soldaten zu erziehen.»

Der einprägsame Passus dokumentiert in schöner Weise Platons ambivalentes Verhältnis zur mimetischen Dichtung, wie es noch deutlicher im 10. Buch des «Staates» zum Ausdruck kommt, in dem die Dichtungskritik erneut aufgegriffen und unter Rekurs auf die in den dazwischenliegenden Büchern skizzierte Ideenlehre und Psychologie philosophisch vertieft wird. Es ist unverkennbar, dass Platon, dessen Dialoge ja recht eigentlich Meisterwerke mimetischer Literatur sind, auf der einen Seite durchaus empfänglich war für die ästhetisch-literarischen Reize der homerischen Epen und der mit Musik und Tanz verbundenen Tragödienaufführungen - er spricht von einer auf die früheste Kindheit zurückgehenden «Freundschaft und Ehrfurcht gegenüber Homer»; auch räumt er ausdrücklich ein, dass er sich selbst von der genussvollen nachahmenden Dichtung verzaubern lasse.

Zugleich betont er aber nicht allein die ontologische Distanz der (lediglich Abbilder «nachahmenden») Dichtung von der Wahrheit der Ideen, sondern vor allem auch ihren verführerischen Reiz, der bewirke, dass sich unbemerkt sittliche Fehlhaltungen wie übermässige Affekte in den Seelen der Mitspielenden und auch der Zuschauenden festsetzten und das rationale, für die ethische Lebensführung hauptverantwortliche Seelenvermögen nachhaltig geschwächt werde. «Gross nämlich ist der Kampf, lieber Glaukon», sagt Sokrates, die gesamte Erörterung über Nutzen und Schaden der Dichtung beschliessend, «- grösser, als er scheint -, ob man sittlich gut oder schlecht wird. Daher soll man sich weder durch Ansehen, Geld, irgendeine Macht noch besonders auch durch Dichtung dazu verlocken lassen, Gerechtigkeit und die übrige Tugend (arete) zu vernachlässigen.»

 

DICHTUNG IN DER ROLLE DER MEDIEN

Der enorme moralische Ernst, mit dem sich der Philosoph Platon mit der Dichtung in all ihren Formen beschäftigt, ist aus heutiger Sicht wohl ebenso überraschend wie die Tatsache, dass der Auseinandersetzung mit ihr im Rahmen einer staatsphilosophischen Abhandlung überhaupt so viel Platz eingeräumt wird. Für uns gehört Dichtung vor allem in den Bereich des Persönlichen, ist (mehr oder weniger wichtiger) Teil der Privatsphäre jedes Einzelnen. Man liest ein Buch oder zeitgenössische Lyrik in einer Zeitung, gönnt sich ab und zu eine Aufführung im Schauspielhaus oder in einem Kleintheater, usw. Wenn es hoch kommt, melden sich einzelne Dichter (etwa Adolf Muschg oder Martin Walser) einmal in einer aktuellen öffentlichen Debatte zu Wort. Doch reicht dies alles schwerlich aus, um Dichtung und Literatur in einem modernen philosophischen Werk über den Staat oder in einem zeitgenössischen pädagogischen Erziehungsprogramm einen so dominanten Platz zu sichern.

Um Platons Motive zu verstehen, muss man sich in Erinnerung rufen, dass in der klassischen griechischen Polis die Dichtung in der Öffentlichkeit eine ungleich wichtigere Rolle spielte. Im Grunde ist ihre Bedeutung am ehesten mit derjenigen der Medien in der heutigen Gesellschaft zu vergleichen. Belehrung, Unterhaltung, gehobene (und auch weniger gehobene) Abspannung lieferte in der antiken Gesellschaft in erster Linie die Dichtung in ihren verschiedenen Formen und pragmatischen Kontexten, sei es bei öffentlichen Festen mit ihren literarischen Agonen oder auch, in kleinerem Rahmen, auf Symposien. Bereits im ersten Unterricht stand Dichtung im Zentrum: An Homer lernte man Lesen und Schreiben. «Und sobald sie Lesen und Schreiben gelernt haben und so weit sind, dass sie das Geschriebene verstehen können . . ., legen die Lehrer ihnen auf ihren Bänken die Werke guter Dichter vor und lassen sie diese auswendig lernen - Werke, in denen viele sittliche Ermahnungen enthalten sind, viele Erzählungen, Lob und Preis guter Männer früherer Zeiten, damit das Kind sie eifrig nachahme (mimêtai) und danach strebe, genau so zu werden» (Protagoras in Platons gleichnamigem Dialog). Einige scheinen gar so weit gegangen zu sein, der Tragödie und «ihrem Anführer Homer» die höchste Kompetenz in allen praktisch-technischen, moralischen und religiösen Belangen zuzuschreiben (Platon im 10. Buch des «Staates»).

Sobald man sich der ausserordentlichen gesellschaftlichen Relevanz von Dichtung bewusst wird, überrascht auch die Intensität und Schärfe der Auseinandersetzung bei Platon kaum mehr. Entsprechendes findet sich in der modernen Debatte um die omnipräsenten Medien und ihren Einfluss besonders auf Kinder und Jugendliche, aber auch auf die Gesellschaft insgesamt. Wieviel Gewalt- und pornographische Darstellungen etwa sind, zumal in öffentlichrechtlichen Fernsehprogrammen, zulässig? Zu welchen Zeiten, wenn überhaupt, sollen sie ausgestrahlt werden, um die Jugendlichen so weit wie möglich vor einer falschen «Prägung» zu bewahren? Käme den Medien nicht überhaupt die Aufgabe einer «moralischen Sekundärsozialisation» nach der Primärsozialisation in Familie und Schule zu (B. Debatin) - mit den entsprechenden Konsequenzen für die Gestaltung der Programme?

Solche und ähnliche Fragen werden, in unterschiedlicher Lautstärke, immer wieder gestellt. Dass in einem zur Hauptsache von ökonomischen Kriterien geleiteten Medienmarkt wie dem heutigen eine gewisse Kontrolle notwendig ist, scheint dabei weitgehend unbestritten, so heikel auch in Demokratien - im Unterschied zu Platons streng hierarchischem Staatsentwurf - das Problem ist, welche Instanz diese Funktion übernehmen soll. Im Hintergrund steht auf jeden Fall eine Befürchtung, die für Platon den Rang einer Gewissheit hatte und für seine Kritik der mimetischen Dichtung grundlegend ist: dass ein durch die «Medien» vermitteltes problematisches Welt- und Menschenbild negative Auswirkungen auf das ethische Verhalten der Rezipierenden, ihre moralischen Vorstellungen und Handlungen, haben könnte, dass es zu unerwünschten «Nachahmungen» der medialen Mimesis kommen mag.

Der modernen Medienkritik wird der Vorwurf gemacht, sie überschätze Wirkung und Macht der Medien (der Kommunikationswissenschafter Dieter Ross spricht von einer Tendenz zur Mystifikation). Das gilt wohl nicht anders auch für Platons Dichtungskritik. Zum Nachdenken zwingen beide, so oder so. 

 

 


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