Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

  

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Quelle:

Neue Zürcher Zeitung Ressort Literatur und Kunst, 25. Mai 2002, Nr. 118, Seite 82

 

Sinnlichkeit und Vernunft

Platonische Liebesideen in der Renaissance

Von Hans-Peter Schmidt

Mit den Themen von Liebe und Tod werden Leser und Hörer seit je in die Literatur und die Religionen hineingezogen. Doch darüber hinaus liess das Mysterium der Liebe auch die Philosophen so mancher Epoche hoffen, sich mit seiner Hilfe ins Göttliche, in die Weisheit oder eben die Wahrheit schwingen zu können. Diese Art der Philosophie wurde allerdings im frühen Christentum einer Reinigung unterzogen, um nur den geistigen Oberton, die reine Liebe zu Gott und zum Nächsten, zu bewahren. Erst zu Beginn der Renaissance, als die Humanisten in der Philosophie eine Lebenskunst wiederentdeckten, mit der sie sich von der Scholastik und dem asketischen Lebensideal des Klosters absetzen konnten, trat die Liebe wieder als philosophischer Begriff in Erscheinung.

LIEBE UND TRANSZENDENZ

Während die christliche Doktrin die Liebe zu Gott letztlich über die Liebe zum Nächsten stellte, versuchten jene christlichen Philosophen, den Menschen kraft der Liebe ins Göttliche zu erheben. Die Liebe zu Gott erfüllt sich ihrer Meinung nach in der Liebe zum geliebten Menschen. In der Schönheit des Geliebten erschaut der Liebende die Schönheit der göttlichen Weisheit. Wobei die geistige Liebe freilich streng von der körperlichen getrennt und auf die auditiven sowie optischen Sinne beschränkt bleibt. Es ist der reine Anblick des geliebten Menschen, der den Liebenden und Verlangenden ins Höhere zieht. Das Ausser-sich-Geraten durch Liebe galt jenen humanistischen Philosophen als Voraussetzung für den Eintritt in die göttliche Sphäre.

In solcher Betrachtung der Liebe erspähten die Humanisten einen Ausweg aus der biblischen Personifizierung Gottes, an die sie nicht mehr zu glauben vermochten. Der gewandelte Liebesbegriff gestattete ihnen, Gott wieder als ein transzendentes Prinzip zu betrachten, als ein Ungreifbares, das man nicht lieben, zu dem man sich aber in der Liebe erheben kann, ohne deshalb die christliche Grundeinstellung in Frage zu stellen. In den diversen Liebestheorien, die sich im 15. und 16. Jahrhundert sowohl in der Philosophie als auch der Literatur entwickelten, zeigt sich der Versuch, «Athen» und «Jerusalem» zu einer Synthese zu führen und die immer deutlicher aufbrechenden Widersprüche zwischen Diesseits und Jenseits, Welt und Gott, Philosophie und Theologie zu überbrücken.

Die Ausarbeitung der Liebeskonzepte eröffnete die Möglichkeit, religiösen Anliegen auf philosophische Weise und ohne christliche Lebensverachtung gerecht zu werden. Die regelrechte Mode der Liebesidee wurde zu einem Ausdruck des humanistischen Bedürfnisses nach einer Existenz ausserhalb der Restriktionen monastischen Lebens, nach einer schuldfreien Vereinigung von vita activa und vita contemplativa.

NEU BELEUCHTET

In ihrem sehr sorgfältigen, gut lesbaren Buch mit dem Titel «Sinnlichkeit und Vernunft» hat Sabrina Ebbersmeyer den Einfluss Platons auf die verschiedenen Liebestheorien der italienischen Renaissance chronologisch dargestellt und ihre stetigen Wandlungen im Laufe zweier Jahrhunderte nachvollzogen. Neben Marsilio Ficino, dem ruhmvollen Platon-Übersetzer, kommen dabei Denker wie Picco, Bembo, Castiglione, Leon Ebreo, Varchi, Tasso und Bruno zur Sprache. Und auch wenn es ein wenig bedauerlich ist, dass Platon zu strikt als roter Faden durch das Buch führt und andere Einflüsse (Troubadour, Paulus, «dolce stil nuovo»), die zum Wiederaufleben der Liebesmetaphysik führten, weitgehend ausgespart bleiben, hat die Autorin ein Buch vorgelegt, das einen wesentlichen Hintergrund unseres Renaissance-Bildes neu ausleuchtet.

ENTZAUBERUNG

Als in den 1560er Jahren die Liebe mehr und mehr naturphilosophischen Untersuchungen unterzogen und auf physiologische «Ursachen» zurückgeführt wird, schwankt unter dem babylonischen Liebesturm bald der Boden. Nach und nach verschwindet das Konzept der Liebe aus der Philosophie, das sie nun wieder der Literatur und der religiösen Mystik überlässt. Die Philosophie braucht die Liebe nicht mehr, um sich gegenüber der Theologie zu behaupten, und die Liebe braucht die Philosophie nicht mehr, um sich ausleben zu lassen.

 

Sabrina Ebbersmeyer: Sinnlichkeit und Vernunft. Studien zur Rezeption und Transformation der Liebestheorie Platons in der Renaissance. Wilhelm Fink, München 2002. 282 S., Fr. 60.-.

 


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