Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

  

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Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON 19.10.1999

 

Humanistische Kulturrevolution

Vor 500 Jahren starb Marsilio Ficino

Von Enno Rudolph

Marsilio Ficino (19. 10. 1433 - 1. 10. 1499) ist die Schlüsselfigur dessen, was man nachträglich, aber treffend als «Humanismus» bezeichnet hat. - Ein Rückblick auf den aussergewöhnlichen Renaissance-Gelehrten und seine Zeit.

Übersetzungen und Kommentare können die Welt wirksamer verändern als demonstrative Proklamationen neuer Wahrheiten. Marsilio Ficino, der vor fünfhundert Jahren starb, haben wir die erste vollständige Übersetzung von Platons Werken in eine westliche Sprache (Latein) zu verdanken. Eine Leistung gigantischen Ausmasses, die der im Jahre 1433 geborene Humanist bereits vor seinem 33. Lebensjahr abgeschlossen hatte und mit der er dem cultural turn seiner Epoche, der Renaissance, einen entscheidend neuen Impuls gab. Gleich nach Abschluss dieser epochalen Arbeit (1469) verfasste er den unter dem Titel «De Amore» berühmt gewordenen Kommentar zu Platons «Symposion», um anschliessend seine als Hauptwerk bewertete «Theologia Platonica» zu vollenden, mit der zu belegen ist, wie konsequent seine intellektuelle Biographie einer Transformation vom religiösen Glauben zu einer philosophischen Form religiöser Spiritualität gleichkam.

Ficino verdankte seine grosse Wirksamkeit und seinen schulbildenden Einfluss vor allem der Kombination zweier glücklicher Umstände: zum einen seinem aussergewöhnlich produktiven, gleichermassen philologischen und philosophischen Genie, und zum anderen dem kompetenten Mäzenatentum der Medicis, vor allem Cosimo de Medicis, der ihm 1462 im florentinischen Careggi mit beeindruckendem Stiftungsethos eine Villa zur Verfügung stellte, die fortan unter dem Namen «Accademia Platonica» als Zentrum des Renaissance-Platonismus in Europa wirkte.

«PLATON REDIVIVUS»

Die Arbeiten und Veranstaltungen, die in diesem aussergewöhnlichen Zentrum für Philosophie, Wissenschaft und Literatur durchgeführt wurden, sind legendenumwoben. Platons alte Akademie diente ihr als imaginäres Vorbild, und Ficino selbst wurde von Zeitgenossen auch als «Platon Redivivus» bezeichnet, womit ebensosehr seine Rolle wie auch seine Erscheinung beschrieben werden sollte. Eine Büste Platons, vor der ständig Licht brannte, bildete die symbolische Verbindung zwischen Athen und Florenz. Die Arbeitsformen der Akademie waren sorgfältig gegliedert in die Durchführung zwangloser Diskussionen (unter den älteren Mitgliedern), die Präsentation von erbaulichen Reden («Declamationes»), private Lektüre aus Platons Werken und öffentliche Vorträge.

Ficino, dessen Korrespondenz für die Erschliessung seiner Bedeutung und seines Wirkens ohnehin unerlässlich ist, bemühte sich erfolgreich um überregionale und internationale Resonanz. Berühmtheiten aus dem kulturellen Leben des damaligen Europa gingen in der Akademie ein und aus, und eine von eigener Hand vorgenommene Auflistung der Namen seiner Schüler - überwiegend Dichter oder Literaten - zeigt, wie sehr Ficino an einer schulbildenden Wirkung seines Schaffens gelegen war. Sein eigenständigster Schüler war Pico della Mirandola. Dessen Werk und Schicksal bestätigen trotz manchen Differenzen mit Ficino, wie etwa in der Beurteilung der Person Savonarolas, dass die durch Ficino und Pico entscheidend mit geprägte, freilich erst viel später so benannte Bewegung des «Humanismus» mit Recht als eine schleichende Kulturrevolution bezeichnet werden kann.

Ficinos Werke verbindet die Bemühung um die Privilegierung des Menschen als Zweck der Schöpfung. Damit bereiten sie, wenngleich unausdrücklich, lange vor Anbruch der Moderne einer Säkularisierung im christlichen Gewande den Weg. Der Bewegung des Renaissance-Humanismus wird zu Recht die Leistung zugesprochen, durch Autoren wie Pico, Juan Luis Vives oder zuvor schon Giannozzo Manetti die Kategorie der «Würde des Menschen» («Dignitas Hominis») zur Leitidee sowohl der literarischen Gattung der «Dignitasliteratur» als auch des moraltheoretischen Denkens in Europas Kulturgeschichte gemacht zu haben. Ficino kommt in diesem Wirkungskreis die besondere Bedeutung zu, dem neuen kulturellen Paradigma des Humanismus den literarischen Boden gesichert zu haben, und dies sowohl durch die Aufbereitung der platonischen Quellen als auch durch seine eigene Philosophie.

Im Westen Europas war Platons Werk während des Mittelalters im wesentlichen nur fragmentarisch bekannt. Die Dialoge «Menon», «Phaidon», Teile des «Timaios» und der «Parmenides» waren die Texte, die dank der Interessensymbiose aus neuplatonischer Tradition und Christentum das Bild zeichneten, das man sich von Platons Philosophie machen konnte. Entscheidend an der Übersetzungsleistung Ficinos ist nun nicht allein  - vielleicht auch nicht einmal primär -, dass er ein vollständig zugängliches Œuvre Platons an die Stelle eines Fragments oder - was bereits virulenter ist - dass er überdies Quellenerschliessung an die Stelle von Traditionshörigkeit setzte, sondern entscheidend war, welches Platon-Bild er neu entwickelte. Ficino bevorzugte nämlich zum guten Teil ganz andere platonische Dialoge als die genannten, und für deren langfristigen Einfluss auf die europäische Philosophie und Geistesgeschichte gesorgt zu haben, zählt zu seinen wichtigsten historischen Verdiensten.

Platons «Symposion» und «Philebos» sind die beiden herausragenden Texte, denen er eine besonders nachhaltige Wirkung verschaffte und durch deren Auslegung er die anderen, vor allem aber den «Timaios», neu kontextualisierte. Massgebend dafür sind die Themen, um die es in diesen Dialogen geht und die ihrerseits auch ausserhalb der Kommentararbeit in Ficinos philosophischem Interesse lagen: Liebe und die reiche Vielfalt des menschlichen Lebens.

Dass Platons «Symposion» ein Streitgespräch über und ein Loblied auf den Eros enthält, ist bekannt. Dass aber dieser Eros als eine Energie zu deuten ist, durch die jede wahre Freundschaft unter den Menschen ebenso von Grund auf qualifiziert wird wie die Zuneigung des Menschen zur göttlichen Wahrheit, zeigt, wie sehr Ficino daran gelegen war, die lebensbejahende und lebensgestaltende Kraft des amor dei in den Mittelpunkt seiner Anthropologie zu stellen. Mehr noch. Sein Kommentar hebt die poietische Kraft des Eros in einer Weise hervor, als wäre es der Eros, der den Menschen zu dem macht, was dann Pico in seiner zum literarischen Symbol des Humanismus gewordenen Rede über die Würde des Menschen («Oratio de hominis dignitate») - dem humanistischen Credo des Renaissance-Humanismus - zur Wesensbestimmung des Menschen erklärt: plastes et fictor, Bildhauer und Dichter, seiner selbst zu sein. Ficino hat durch seine originäre Auslegung Platon zum massgebenden Philosophen praktischer Autonomie der individuellen Person gemacht. Pico gab diesem Gedanken später eine radikale Zuspitzung, die zwar nicht der Diktion und der literarischen Diplomatie Ficinos entsprach, wohl aber seinen Texten.

Entsprechendes gilt für die Richtung, die Ficino seiner Deutung von Platons Dialog «Philebos» gab. Mit der Bevorzugung dieses Dialogs bewies er sein Interesse an einem Platon-Bild, das in jeder Hinsicht unorthodox war. Ficino sah in der sinnlichen Vielfalt und Diversität der Welt kein Defizit gegenüber der abstrakten Vollkommenheit idealer Einheit, sondern, wie Platon selbst, den Prozess, in dem sich die eine Welt darstellt. Er entfernte sich damit de facto ebenso markant von der neuplatonischen Hierarchisierung des Verhältnisses zwischen geistiger Einheit und sinnlicher Vielheit wie auch vom christlichen Glauben an die Erlösungsbedürftigkeit dieser Welt. Dabei hatte Ficino keineswegs einen Bruch mit einer der beiden Positionen im Sinne - im Gegenteil. Aber es gehört generell zu den spezifischen Eigentümlichkeiten der massgeblichen Autoren des Renaissance-Humanismus im allgemeinen und des Quattrocento insbesondere, in der Weise eines «unconscious criticism» (Ernst Cassirer) mit gültigen Traditionen, der christlichen vor allem, in Konflikt zu geraten, obgleich sie ihnen bona fide zu entsprechen glaubten.

Wenn Ficino in seinem «Philebos»-Kommentar unter Anwendung seiner aus Platon entlehnten Philosophie des «Aufstiegs» für eine ausgeglichene Balance zwischen dem Aufstieg zur transzendenten Einheit und dem Abstieg zur Vielheit der Sinnenwelt plädiert und dabei die Vielheit als angemessenes Bild und als dynamisierte Entfaltung der Einheit begreift, dann entfernt er sich vom Dualismus, wie er dem Mainstream des Neuplatonismus ebensosehr entsprach wie der traditionell christlichen Zuordnung von Gott und Welt - jedenfalls etwa im Sinne Augustins.

Im bemerkenswerten Unterschied zu Plotin rückt Ficino im Rahmen seiner Schematisierung der Seinsordnung, die von Gott bis zur ersten Materie reicht, die menschliche Seele ins Zentrum. Das humanistische Interesse an der Würde des Menschen erhält auf diese Weise eine metaphysische Begründung, die den renaissance-humanistischen Anthropozentrismus stabilisiert und die der metaphysischen Spekulation über kosmologische Zusammenhänge eine grundlegend neue Ausrichtung vermittelt: Sie steht im Dienst des Menschen und nicht umgekehrt der Mensch im Dienst der metaphysischen Wahrheit. Dies hat Ficino nicht ausdrücklich in dieser Radikalität proklamiert; er hat es faktisch vollzogen.

Überhaupt: durch solche Akzentverschiebungen veränderte Ficino das überkommene Verhältnis zwischen Religion und Philosophie wesentlich. Was sich bei ihm vollzieht, ist eine Rehabilitierung der Philosophie gegenüber der Religion, eine Emanzipation der Philosophie von der blossen Dienstleistungsfunktion gegenüber der Theologie. Die «Theologia Platonica» ist ein philosophisches und im Effekt theologiekritisches Werk. In ihr wird Platons Lehre von der Unsterblichkeit der Seele zum Element der christlichen Theologie, indem er faktisch die christliche Idee von der Unsterblichkeit der Seele philosophisch plausibel macht: sie ist also nicht einfach ein Credendum, sie ist vernünftig - und deshalb wahr.

TOLERANZ

In seiner 1489 erschienenen Schrift «De Vita» entwickelte der stets gemässigt und harmonisierend auftretende, im Jahre 1473 bereits zum Priester geweihte Ficino Ansichten zu Problemen der Astrologie und der Magie, die ihm die deutliche Ablehnung der Kirche einbrachten. Ficino machte Konzessionen, ohne dass aber die tatsächlich den Kern des christlichen Dogmas betreffenden Differenzen deutlich markiert oder gar ausgeräumt worden wären. So vertrat Ficino in der Sache ein Prinzip interreligiöser Toleranz, das weiter ging als das in der berühmten Schrift «Über den Glaubensfrieden» («De pace fidei») des Nikolaus Cusanus bereits angelegte.

Die Konturen der Konzeption einer natürlichen Theologie und einer natürlichen Religion sind deutlich gezeichnet. Eine jede Religion ist nach seiner Überzeugung durch einen konstitutiven Bezug auf den einen und selben Gott ausgezeichnet und mit allen anderen auf diese Weise verbunden. Paul Oscar Kristeller verweist darauf, dass Ficino sich damit zum Vorgänger eines Herbert von Cherbury, sodann der Deisten und moderner Ideen des religiösen Universalismus machte. Nimmt man hinzu, dass ihm Platons «Philebos» nicht nur als Hermeneutik der christlichen Wahrheit, sondern vielmehr als deren Legitimation diente, dass er überdies in Autoritäten wie Hermes und Zoroaster und natürlich immer wieder in Plotin gleichermassen gültige Quellen der Wahrheit sah wie in Platon und in der christlichen Lehre auch, dann wird manifest: Ficino hatte das Zeug zum humanistischen Galilei, nicht aber dessen polemischen Habitus und eine wenig ausgeprägte Neigung zum Konflikt.

Ohne die ökologische Nische der Medicis und ohne Priesteramt hätte ihm schon die postulierte nicht-hierarchische Geschwisterlichkeit zwischen Christentum und Platonismus kirchlichen Widerstand eintragen können. Mehr noch aber die Tatsache, dass fundamentalchristliche Lehr- und Glaubensstücke wie Sünde und Gnade, ohne die das Christentum seine Identität und seine Botschaft verlöre, keinen Platz in seinem auf einen neuentdeckten Platonismus reduzierten Christentum fanden: die Lust etwa, so lehrt er, ist nichts tendenziell Böses. Erst durch einen bösen Dämon («malus daemon») kann sie zur Sünde führen.

Diese Indifferenz gegenüber der Sündhaftigkeit der menschlichen Natur lässt sich generell als integrierender Gedanke des Renaissance-Humanismus bezeichnen und kann als die Signatur der impliziten Häresie dieser Bewegung bewertet werden. In Vorwegnahme einer metaphysischen Hauptthese von Leibniz gehen die Konzepteure dieser Bewegung davon aus, dass Gott eine gute und schöne Welt schuf - etwas anderes wäre ihm unangemessen - und dass aus der Verheissung der Gottebenbildlichkeit des Menschen zu folgern sei, der Mensch stehe dem Göttlichen eher nahe, als dass er mit ihm «inkompatibel» wäre. Es wäre sicherlich zu kurz gegriffen, wenn man sagt, der Renaissance-Humanismus hätte in seiner latent häretischen Neigung zur Ersetzung der Theologie durch Anthropologie den Menschen an die Stelle Gottes gesetzt.

Er hat aber der Aufwertung der Stellung des Menschen in der Welt, seiner göttlich legitimierten Würde und seiner Autonomie eine raffinierte theologische Begründung gegeben. Sie nahm ihren Ansatz bei einer Auffassung von Gott als dem vorbildlichen Schöpfer - vorbildlich im pädagogischen Sinne des Wortes - und marginalisierte dabei die Lehrstücke von Sünde, Gnade und Erlösung. Von daher wird deutlich, inwieweit die in der Folgezeit von Pico bis Erasmus immer radikaler vertretene Idee der Autonomie des freien Willens mit Ficino eine historisch plausible Serie bildet, auch wenn Ficino zu einem offenen Bündnis mit radikalen und polemischen «Autonomisten» kaum bereit gewesen wäre.

UNREALISTISCHES

Der Humanismus kann im Verlauf der europäischen Kultur- und Ideengeschichte als eine tragische Bewegung gekennzeichnet werden. So spät dieser Titel entstand, so früh ist die Sache und so treffsicher der Begriff. Ficino genoss, wie wir wissen, in Florenz eine Ausbildung in den Fächern der sogenannten «studia humanitatis» wie auch in Medizin und Philosophie. Der Titel «studia humanitatis» kann neben der «Dignitasliteratur» als Legitimationsgrundlage für die Verwendung des Begriffs «Humanismus» betrachtet werden. Deutlich wird dies, wenn man das Augenmerk auf die Unterschiede zwischen den unter diesem Titel kanonisch zusammengefassten gelehrten Disziplinen einerseits und den traditionellen «artes liberales» andererseits richtet.

Die «studia» führten das Studium der Poetik (wie auch das der Moralphilosophie) neu in das Ensemble der Lehrfächer ein, was ein erhellendes Licht auf das humanistische Menschenbild wirft: Poetik - dieses Fach zielte darauf, die Studierenden selbst zu Dichtern zu erziehen, und nicht nur darauf, sie mit Dichtung vertraut zu machen. Erziehung zu poietischer Praxis, zu autonomer Schöpfung: zum «plastes et fictor», war das Ziel. Der Verdacht liegt nahe, dass die Humanisten zu unrealistisch von der Kompetenz der individuellen Selbsterziehung des Menschen dachten. Für diesen Verdacht spricht, dass dem politischen Realisten im eigenen Lager, Niccolò Machiavelli, ein stetigerer Erfolg in der Geschichte der europäischen Anthropologie beschieden war als den Humanisten.

Die postume Erwählung Platons zum Erzvater des europäischen Humanismus wird so aus sich heraus verständlich, zeigt aber überdies, dass Platons Philosophie damit ihrerseits nur einer bestimmten Rezeptionslogik gemäss als humanistisch bezeichnet werden kann. Nicht jeder Satz Platons, geschweige denn jeder Typ von Platonismus wird dadurch humanistisch, sondern der Humanismus der klassischen Gestalt, also derjenige der Renaissance, wird vielmehr zum Deutungsmuster für den Test auf die Kompatibilität so differenter Botschaften der platonischen Philosophie wie derjenigen von den politischen Eliten des Staates auf der einen und der sozialen Gerechtigkeit der Gesellschaft auf der anderen.

Zur erwähnten Tragik der Geschichte des Humanismus gehört aber, dass er solche wirkmächtigen Brückenschläge zwischen der eigenen Vergangenheit und der eigenen Gegenwart nur ein Stück weit errichten konnte, um dann unterbrochen, behindert, bekämpft oder auf Zeit erstickt zu werden, wohl auch, weil seine Gegner hinter den ebenso kompetenten wie faszinierenden Erweiterungen historischer Horizonte wachsende Widerstandskraft gegen Traditionshörigkeit und Orthodoxien erkannten. Dass der Humanismus eine Bewegung war, die die Methode kultureller Genealogie zunehmend vorbehaltloser zu ihren Prinzipien machte, erklärt nicht nur seine Faszination, sondern auch seine Anstössigkeit und Selbstgefährdung. Die Tendenz einer nicht geringen Anzahl von Ideenhistorikern, ihn zu einer frühen Bewegung der Moderne zu erklären, war und ist einer differenzierten Wahrnehmung seiner Authentizität eher abträglich. Hier wird man sich entscheiden müssen. Die Diskussion über die angemessenen Filiationen von historischen Paradigmen ist ja noch ebenso offen wie diejenige über Begriff und Einteilung der Epochen.

Jedenfalls hat der Protestantismus der Reformationszeit im Kampf gegen die humanistische Aushöhlung der Christologie und gegen die philosophische Verteidigung des freien Willens seine eigene theologische und historische Legitimation suchen müssen - und gefunden. Die (in Teilen durchaus kompromissbereite) Überwindung des Humanismus gehört zu den Existenzbedingungen des Protestantismus. Aus einer eigenartigen Position konstruktiver und wirkmächtiger Defensive gegen Trivialisierung oder Denunziation ist der Humanismus - zu dessen literarischen Apologeten Autoren wie Herder, Schleiermacher, Humboldt oder Cassirer zählen - bis heute kaum herausgekommen. Dass er gegenwärtig wieder - und dies im ausdrücklichen Rekurs auf den «Antihumanismus» im Anschluss an Heidegger - erneut ins Gerede kommt, könnte seine Chance, im Gespräch zu bleiben, immerhin wahren. Ficino bleibt ein Schlüsselautor, dessen Werk darüber mit entscheidet, was zu dieser historischen Synthese zählt und was nicht. Zur Präzision von Idee und Begriff des Humanismus hat er - lange vor dessen Prägung - massgeblich beigetragen.

Neue Zürcher Zeitung, 16. Oktober 1999

 

Die lateinische Übersetzung des Höhlengleichnisses

  

 

 


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