Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Neue Zürcher Zeitung Ressort Literatur und Kunst, 10. März 2001, Nr. 58, Seite 81

 

Wir Griechen

Bernard Williams zerstört den Mythos eines «entwickelten» Moralbewusstseins

Von Uwe Justus Wenzel

Auch nach dem mehrfach proklamierten Ende der Grossen Erzählungen sind die vielen kleinen in Umlauf geblieben, die - obzwar weniger heilsgewiss - noch immer von einem Schneller, Höher, Weiter künden. Unter diesen unscheinbaren besitzt eine Erzählung eine scheinbar unerschütterliche Evidenz. Sie wird besonders gerne von Philosophen wenn nicht lautstark zum Besten gegeben, so doch stillschweigend vorausgesetzt - halblaut vorausgeschickt, wenn die Rede auf eine eigentümliche Errungenschaft der modernen Zeit kommt, auf das «entwickelte Moralbewusstsein». Es mag da Differenzierungen im Einzelnen geben - Mehrstufenmodelle zumal -, in aller Regel jedoch wird grundsätzlich generös und grob unterschieden: zwischen einem Einst und einem Jetzt, einer «konventionellen» und einer «postkonventionellen» Moral, zwischen aussengesteuertem und innengeleitetem Handeln, zwischen Schicksalsergebenheit und Selbstbestimmung, zwischen zurückgeblieben und fortgeschritten.

Bernard Williams, dessen Subtilitätsstandards selbst für die undogmatischen unter den analytischen Philosophen hoch sind, hat sich vor einiger Zeit darangemacht, den Mythos vom entwickelten Moralbewusstsein zu demontieren. Er ist dabei bis ins «archaische» Griechenland zurückgegangen. Sein Essay «Shame and Necessity», vor bald acht Jahren erschienen, ist kürzlich ins Deutsche übertragen und als erster Band einer neuen, von Axel Honneth verantworteten Reihe im Akademie-Verlag publiziert worden. «Polis» heisst sie und will «Schriften zur Ethik und Sozialphilosophie» präsentieren, die in Zeiten «praktisch-moralischer Unsicherheiten» - keinen neuen Sinn stiften, sondern - «Möglichkeiten und Grenzen» zeitgenössischer Ethik ausloten. (Der Leser hofft, der minimale Schriftgrad des ersten Bandes - die bedruckten Seiten wirken als Augenpulver - verdanke sich einem Versehen.)

KEINE «WIEDERBELEBUNG»

Der Oxforder Philosoph destruiert die Mär vom moralischen Fortschritt nicht, um stattdessen eine Verfallsgeschichte zu erzählen. Die Gefahr, in den Augen mancher als «antikisierender Reaktionär», der er nicht ist, dazustehen, nimmt Williams in Kauf, um zu zeigen, dass «wir» (der Problematik dieses Personalpronomens ist er sich bewusst) den Menschen der Antike in bedeutsamen Hinsichten nahe sind - näher als «je ein Mensch des Westens in der Zwischenzeit»: Wir seien, da inzwischen wieder «jenseits des Christentums», wie die, die im fünften vorchristlichen Jahrhundert und davor «die Spuren eines Bewusstseins hinterlassen haben, das noch nicht von den Versuchen des Plato und des Aristoteles geprägt war, unsere ethischen Beziehungen zur Welt vollständig verständlich und durchsichtig zu machen».

Um Missverständnissen vorzubeugen, sollte der Akzent beim Lesen dieses Résumés auf «vollständig» gelegt werden: Williams huldigt keineswegs einem Irrationalismus und Dunkelmännertum. Er will Unverständliches - als solches - verstehen, Undurchsichtiges - als solches - transparent werden lassen; soweit dies eben möglich ist. Auf diesem Wege soll der Realismus, soll die Lebensdienlichkeit jener griechischen Weltsicht hervorgestrichen und überdies deutlich werden, dass «wir» in Tat und Wahrheit von vermeintlich überwundenen «archaischen» Auffassungen zehren. Zentrale Begriffe der Alten sind also nach Williams noch immer, wenn auch mitunter verdeckt, am Werke, wenn die Heutigen sich über ihre «ethische Situation» ohne Scheuklappen Rechenschaft ablegen. Darum ist der Untertitel, der der deutschen Ausgabe beigegeben wurde, nicht nur kontraintuitiv, er ist - vollständig - falsch: «Eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral» ist exakt das, was Williams nicht intendiert. Und denen, die den subtilen Gedankengängen anderes abmerken wollen, sagt der Autor es ausdrücklich: «Es geht überhaupt nicht darum, irgendetwas wiederzubeleben. Was tot ist, ist tot; in vielerlei Hinsicht würden wir es auch gar nicht wiederbeleben wollen, selbst wenn wir wüssten, was das bedeuten könnte. Was von der griechischen Welt noch am Leben ist, muss nicht wiederbelebt werden - es hilft uns sogar dabei (oft auf versteckte Weise), am Leben zu bleiben.»

Um freizulegen, was dieses Was sein könnte, macht Williams erst einmal Vorurteilen den Garaus, die noch immer durch die Köpfe und Schriften nicht weniger Altphilologen und Philosophen geistern. Bruno Snell hat da manches angerichtet, als er das «homerische Weltbild» skizzierte. Die «homerischen Menschen» entbehren angeblich der Fähigkeit, selbst zu entscheiden und zu handeln, sie ermangeln des Bewusstseins, Urheber ihrer Taten zu sein; Beweis: Die Götter greifen ein und nehmen die jeweilige Sache in die Hand. Gegen eine solche Deutung wendet Williams unter anderem dies ein: Auch wenn die Götter intervenieren (sehr oft tun sie es gar nicht), werden die Menschen nicht zu Marionetten. Und, dies ein zweites, ein «beschämend einfaches» Argument: Wenn die Götter handeln, dann stellen sie selbst Überlegungen an und treffen selbst Entscheidungen. Homer (oder wer auch immer «Odyssee» und «Ilias» verfasst hat) hatte mithin durchaus einen Begriff davon, was es heisst, selbstverantwortlich zu agieren.

Für das Zusammenspiel von Göttlichen und Sterblichen offeriert Williams gleichfalls eine lichtvolle Interpretation; sie gibt bereits einen Fingerzeig auf das, was auch heute noch zu beherzigen wäre: Zwar liessen sich oft Gründe und Motive angeben, die erläutern, warum Menschen tun, was sie tun; warum aber gerade dieser Grund ausschlaggebend ist und andere mögliche Gründe überwiegt, das könne sich dem Bewusstsein entziehen. Bei Homer seien es die Götter, «die in solchen Fällen am Ort der verborgenen Ursache wirken».

Die homerische Welt und ihre Akteure, so schlussfolgert Williams, sind mit allem Nötigen ausgestattet. Dass ihre zweieinhalbtausend Jahre jüngeren Beobachter dennoch unzufrieden sind und das Tableau sogar grotesk verzeichnen, führt er - eher beiläufig - auf deren «Sehnsucht nach einer grundlegend ethisierten Psychologie» zurück. (Woher dieses Bedürfnis rühren könnte, fragt der Autor nicht.) Eine solche moralisierende Seelenkunde sei Homer und den Tragikern tatsächlich fremd. Sie seien nicht der Ansicht gewesen, dass die Frage, was Menschen sind und wie sie etwas tun, nur unter Zuhilfenahme ethischer Begriffe beantwortet werden könne. Ein Manko vermag Williams darin nicht zu erkennen. Er hält es hier wie auch in anderem mit Nietzsche und dessen Ausspruch: «Diese Griechen waren oberflächlich - aus Tiefe.»

Auch dort, wo die Freiwilligkeit des Getanen, die Problematik der Verantwortung also, in den Blick rückt, sieht Williams griechische Umsicht walten. Die stärkere Gewichtung des Moments der Freiwilligkeit, wie sie moderne Konzeptionen charakterisiert, gilt ihm nicht als Ausdruck eines «tieferen» Verständnisses dessen, was es bedeute, «wirklich» verantwortlich zu sein. Die vergleichsweise vage und «oberflächlich» anmutende Thematisierung des Freiheitsaspekts im vorplatonischen Griechenland erweise sich als vorteilhaft, sobald man sich vor Augen führe, dass die Idee der Freiwilligkeit - anders, als Fortschrittsgläubige bisweilen suggerierten - sich nicht beliebig «verfeinern» lasse, ohne ihren Nutzen bei der Zuschreibung von Verantwortung einzubüssen. Wer nämlich die Fragen nach der eigentlichen Intention und nach der tatsächlichen Selbstherrschaft des Handelnden über einen bestimmten Punkt hinausführe, versinke «im Treibsand eines alltäglichen und völlig gerechtfertigten Skeptizismus».

SCHAM UND SCHULD

In ähnlich günstigem Licht erscheint, was man die «Schamkultur» der Griechen genannt hat, um es gegen die vorgeblich moderne und avanciertere «Schuldkultur» des persönlichen Gewissens alt aussehen zu lassen. Williams bestreitet nicht das Obwalten von Schamphänomenen in den griechischen Gesellschaften, wohl aber, dass diese ohne ein ausreichendes Verständnis für Schuldfragen gewesen seien. Eines eigenen Wortes für «Schuld» habe es nicht erst bedurft. Der Autor sammelt nicht bloss Indizien für eine These, er konturiert eine mögliche Theorie, die Scham und Schuld zu integrieren vermöchte. In antiken Vorstellungen sieht er sie vorgebildet, in der Gegenwart sieht er sie sich bewähren.

Der Scham falle dabei die eminente Rolle zu, die Wirklichkeit der handelnden Person, ihre Emotionen, ihren Charakter und ihre soziale Situation, zu erschliessen - Aspekte, die bei einer ausschliesslichen Fokussierung auf die Schuld ausgeblendet würden. Jedenfalls dann, wenn darunter die moderne, «reine» Gewissensschuld begriffen werde, die ein «wahres» moralisches Selbst entwerfe, das keinen individuellen Charakter kenne, das vielmehr direkt von der Vernunft oder auch einer religiösen Erleuchtung mit der Kenntnis des moralischen Gesetzes versorgt werde. Leider verweilt Williams bei dem zentralen Kapitel seines Essays nicht lange genug, um die angedeuteten Linien auszuführen. Der zweite Titelbegriff (der englischen Ausgabe) harrt noch seiner Erörterung, der der «Notwendigkeit». In einer seiner Bedeutungen: aus «inneren» Gründen so und nicht anders handeln zu können, ist er bereits in den Passagen über die Logik des Sichentscheidens zur Sprache gekommen. Seine für heutige, zumal für «fortschrittsgläubige» Gemüter anstössigen Versionen sind zum einen die Notwendigkeit, die Menschen von anderen Menschen auferlegt wird: die Sklaverei; zum anderen die «übernatürliche» Notwendigkeit, die von «Schicksalsmächten» über die Menschen verhängt zu sein scheint. Um eine Rehabilitation ist es Williams hier, anders als im Falle der Scham, naheliegenderweise nicht zu tun; aber doch um die Korrektur liebgewonnener Kontrastfolien, die «uns» in der Sicherheit wiegen, ein entwickelteres Moralbewusstsein zu besitzen.

Was moderne Gesellschaften von den frühen griechischen unterscheide, sei jedenfalls nicht, dass damals manchen Menschen eine «notwendige Identität» zugeschrieben worden sei, die sie nicht hätten abstreifen können. Auch und gerade die Sklaverei sei - überwiegend - als Zufall, als Unglück verstanden worden, das über niemanden gerechter- oder natürlicherweise komme. Zwar sei die Institution der Leibeigenschaft nicht als ungerecht eingestuft, aber eben auch nicht als gerechte Einrichtung gepriesen worden. Sie sei lediglich als ökonomische Notwendigkeit betrachtet worden - nicht unähnlich heutigen Praktiken und Nöten, die hingenommen würden, weil «der Markt» nun einmal und nur so funktioniere.

Ob nun die Wirtschaft «unser» Schicksal ist oder die Politik: In der Erfahrung der Kluft zwischen individuellen Bestrebungen und einem sich dahinwälzenden, ziellosen «Gesamtprozess» sind die heutigen Menschen, so meint Bernard Williams, denen des frühen Griechenland nahe. Sie wären es eben auch darin, dass sie sich keinen Illusionen hingäben und die Heillosigkeit als das betrachteten, was sie ist . . . - Ein moralisches Ideal kennt und anerkennt also auch der Moralskeptiker: ohne Lüge leben zu sollen.

Bernard Williams: Scham, Schuld und Notwendigkeit. Eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral. Mit einem Vorwort des Autors zur deutschsprachigen Ausgabe. Aus dem Englischen von Martin Hartmann. Akademie-Verlag, Berlin 2000. 217 S., Fr. 44.70.  

 

 


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