Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

  

Logo

Klassische Sprachen
Latein, Griechisch
KZU


Quelle:

Neue Zürcher Zeitung Lebensart Samstag, 21.10.2000

 

Der Alternative: Diogenes von Sinope, der «Hund»

In zwei Schritten, zwei Schülergenerationen ist die stolz getragene sokratische Armut auf den Hund gekommen. Der Sokrates-Jünger Antisthenes erhob den stadtbekannten abgewetzten Mantel des Meisters zur Kulttracht der Konsumverächter - je zerschlissener, desto edler -; und der Antisthenes-Jünger Diogenes brachte zu dem zerlöcherten Outfit noch seine berüchtigte Schamlosigkeit hinzu - je anstössiger, desto besser. Antisthenes hatte seine Philosophie noch gepredigt; Diogenes inszenierte sein Leben als ein fortwährendes öffentliches Ärgernis.

Die Zeitgenossen nannten ihn «kyon», den «Hund», und wer ihn darauf ansprach, bekam diese hübsche Auskunft: «Weil ich, die mir etwas geben, anwedle, die mir nichts geben, anbelle, die mir lästig fallen, beisse -», und damit mochte er auf den frechen Frager losgefahren sein. Denn tatsächlich wusste jedermann, worauf der Spitzname zielte: «Er war gewohnt», umschreibt sein Biograph das vornehm, «alles auf offener Strasse zu verrichten, sowohl was die Korngöttin Demeter als auch was die Liebesgöttin Aphrodite betraf.»

Zur Ersten ist anzumerken, dass der Input auf offener Strasse damals gerade so verpönt war wie der Output. «Als Diogenes einmal mitten auf dem Markt sein Mittagessen auspackte, riefen die Umstehenden in einem fort: ‹Du Hund!›, ‹Du Hund!› ‹Ihr selbst seid die Hunde›, rief er zurück, ‹wie ihr mich hier beim Essen umlagert!›» Diogenes verstand es meisterhaft, den Spiess umzudrehen und die Lacher auf seine Seite zu bringen. «Bei einem Essen warfen einige der Gäste dem Diogenes ihre abgenagten Knochen zu, eben wie einem Hund. Ohne einen Augenblick zu zögern, sprang der auf, hob das Bein und pisste sie an, eben auch wie ein Hund.»

Von Sokrates «im Supermarkt» gibt es das schöne Wort, das noch heute jeden unerbetenen Versandhauskatalog zum Glücksquell werden lässt: «Wie viele Dinge gibt es doch, die ich nicht brauche!» Diogenes hat diese sokratische «Autarkie», diese «Selbstgenügsamkeit», auf die Spitze getrieben. Der Philosoph in der Tonne brauchte so gut wie nichts; als er einmal einen Knaben aus der hohlen Hand trinken sah, soll er seinen Holzbecher hervorgeholt und fortgeschleudert haben. Für die verwöhnte Gesellschaft jener Zeit konnte dieser Bursche nur Verachtung übrig haben. «Als ein reicher Bürger ihn durch sein teuer eingerichtetes Haus führte und ihm verwehren wollte auszuspucken, wie dieser hörbar Anstalt dazu machte (das Griechische hatte dafür ein lautmalendes Wort: chrempsasthai), spuckte Diogenes ihm gerade ins Gesicht und erklärte, einen gemeineren Ort habe er im ganzen Haus nicht finden können.»

Neben dem Grobschlächtigen steht einiges Feinere. Die Anekdote, in der Alexander der Grosse ihn fragt, ob er ihm einen Wunsch erfüllen könne, und Diogenes der Hund vor seiner Tonne liegen bleibt und erwidert: «Einen kleinen: Geh mir etwas aus der Sonne!», ist wohl grandios erfunden. Doch da ist dieses feine Strassentheater: Wie er am helllichten Tage mit seiner Laterne über den Markt geht, hier einem, da einem ins Gesicht leuchtet, kopfschüttelnd weitergeht, so lange, bis einer ihm das Stichwort gibt: Was er da, am helllichten Tag, mit seiner Laterne wolle? «Ich suche», sagt er da, «einen Menschen.» Und da ist jenes andere kleine Theater, in dem dieser ewige Belferer vor dem grossen Theater sein eigenes Leben spielt: Die Komödie ist zu Ende, die Zuschauer strömen heraus, und Diogenes kämpft sich, mit den Armen rudernd, durch den Menschenstrom zum Eingang durch, wieder bis einer ihm sein Stichwort gibt: Warum er denn jetzt hineinwolle, da alle anderen herauskämen? Und dann das Selbstbekenntnis des Alternativen: «Nichts anderes treibe ich doch in meinem ganzen Leben.»

Auf die Frage, was für ihn das Schönste sei, soll Diogenes einmal gesagt haben: «Die Freiheit, alles ausleben, alles aussprechen zu können.» Ein Leben lang gegen den Strom schwimmen und, wenn's sein soll, auch mal gegen den Wind pissen und spucken: Diese demonstrative, provokative Missachtung aller Konventionen hat auf Mitwelt und Nachwelt mächtig gewirkt. Eine vieltausendköpfige Meute von vagabundierenden «kynikoi», hündischen «Kynikern» im zerschlissenen Mantel, mit wild wucherndem Bart, sind diesem Ur- «Hund» gefolgt, und in der Gegenwart sind aus den ja bloss unverschämten «Kynikern» schliesslich noch die menschenverachtenden «Zyniker» geworden. Noch die Studenten, die vor dreissig Jahren auf den Rektoraten mancher Alma Mater ihre hündischen Markierungen placierten, waren Nachhut dieser Meute.

Ein Namensvetter, Diogenes Laertios, hat das Leben dieses «Hundes» beschrieben oder eher seine Aussprüche gesammelt; darin ist viel hündisches Knurren und Kläffen, gewiss auch manches Unterschobene. Verlässlich echt, weil so gar nicht hündisch, scheint dieses doppeldeutige, aufschlussreiche Wort: «Einer gab ihm zu bedenken: ‹Viele lachen über dich.› ‹Aber ich›, erwiderte er, ‹lache nicht über mich.›» Diogenes ist in hohem Alter in Korinth gestorben. Noch ein halbes Jahrtausend später hat Pausanias am Stadttor zum Isthmus hinaus das Grabmonument gesehen, das die Jünger des «Hundes» ihrem Guru dort errichtet hatten: Eine Säule stand darauf mit einem Hund obenauf, und der war dann doch aus kostbarem parischem Marmor.

Klaus Bartels 

 

 


Zurück zur Seite "Diogenes"

Zurück zur Seite "Texte zur Philosophie"

Zurück zur Seite "Arbeitsmaterial"