Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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NZZ 13. Dezember 2000

 

Quantenphilosophie

Erkenntnistheoretische Probleme einer erfolgreichen Theorie

Die Quantentheorie gilt heute als die am besten bestätigte Theorie der Physik. Im merkwürdigen Gegensatz dazu stehen die erkenntnistheoretischen Probleme, die diese Theorie bis zum heutigen Tag aufwirft. So propagiert die Quantentheorie ein Konzept von Ganzheit, das mit unserer Alltagsvorstellung von Wirklichkeit radikal bricht.

Von Harald Atmanspacher *

«Man klagt zu Unrecht, dass unsere Zeit keine Philosophen mehr habe», pflegte der Theologe und Wissenschaftsorganisator von Harnack zu sagen, «sie sitzen jetzt nur in der anderen Fakultät, und ihre Namen sind Planck und Einstein.» Mit beiden Namen sind die Anfänge der Quantenphysik in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts untrennbar verbunden. Doch es sollte bis zum Beginn der dreissiger Jahre dauern, bis von Bohr, Heisenberg, Pauli, Schrödinger, von Neumann und anderen solide formale Vorstellungen ausgearbeitet wurden, die den Begriff einer physikalischen Theorie rechtfertigen. Seither entwickelt sich die Quantentheorie ständig weiter und gilt heute als die empirisch am besten bestätigte Theorie im Bereich der Physik.

Wozu Philosophie?

Fast alle, die zur Entwicklung der Quantentheorie massgeblich beigetragen haben, interessierten sich nicht nur für theoretische und experimentelle Fragen im engeren Sinn der Physik, sondern auch für die damit verbundenen erkenntnistheoretischen Probleme. Vor allem zeigte sich dies immer wieder bei den verschiedenen Versuchen, sowohl für den Formalismus der Theorie als auch für experimentelle Resultate einen kohärenten Zusammenhang mit unserem Verständnis von Wirklichkeit herzustellen. Unter allen derzeit bestehenden physikalischen Theorien traten in der Quantenphysik in besonderem Mass Probleme in Erscheinung, die ein naives, vom sogenannten «gesunden Menschenverstand» geleitetes Verständnis von Wirklichkeit radikal hinterfragten.

Was ist der Grund dafür, dass sich gerade die Quantenphysik im Vergleich zu anderen Gebieten der Physik, wie etwa der klassischen Mechanik, Elektrodynamik und Thermodynamik, als so notorisch «philosophieträchtig» erwiesen hat? Ein zentraler Punkt, der in diesem Zusammenhang von Anfang an diskutiert wurde, besteht in der Rolle des Prozesses der Beobachtung bzw. der Messung.

In der Physik wurde bis zum Ende des 19. Jahrhunderts davon ausgegangen, dass das Resultat einer Beobachtung bzw. Messung etwas über denjenigen Zustand eines Systems aussagt, in dem es sich vor der Messung befunden hat. Diese Annahme bedeutet, dass zwischen dem Zustand vor der Messung und dem gemessenen Zustand, abgesehen von Messungenauigkeiten, kein wesentlicher Unterschied besteht. Im Gegensatz dazu sind der Zustand eines Quantensystems vor der Messung und sein Zustand nach der Messung im Allgemeinen nicht identisch; die Messung verändert den Zustand.

Dies liegt nicht etwa daran, dass Quantensysteme wegen ihrer mikroskopischen Dimensionen besonders störanfällig sind; es gibt Experimente mit makroskopischen Quantensystemen, deren räumliche Ausmasse Kilometer erreichen! Die Ursache liegt vielmehr darin begründet, dass typische Eigenschaften von Quantensystemen in einer speziellen Beziehung zueinander stehen, die man Nichtvertauschbarkeit nennt. Ein bekanntes Beispiel sind Ort und Impuls, zwischen denen als Folge der Nichtvertauschbarkeit eine sogenannte Unschärferelation besteht. Sie impliziert, dass die Resultate einer Orts- oder einer Impulsmessung davon abhängen, in welcher Reihenfolge die Messungen durchgeführt werden.

Die Bohr-Einstein-Diskussion

Etwas allgemeiner formuliert, steht der Vorgang der Messung zwischen dem «So-Sein» eines Systems an sich und der Art und Weise, wie sich dieses System durch eine Messung präsentiert. Die kontroversen Diskussionen, die Einstein und Bohr in den zwanziger und dreissiger Jahren wiederholt führten, beruhten auf unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Standpunkten. Während Einstein in dieser Diskussion die Position vertrat, dass es auch ohne Beobachtung eine Wirklichkeit gebe, die objektiven Bestand hat («Der Mond ist auch dann da, wenn niemand hinschaut»), stellte Bohr die Bedeutung des empirischen Zuganges in den Vordergrund («Phänomene sind nur dann Phänomene, wenn sie beobachtete Phänomene sind»). Aus heutiger Sicht kann man sagen, dass die Bohr-Einstein-Diskussionen wesentlich darunter gelitten haben, dass keiner von beiden seinen philosophischen Ausgangspunkt hinreichend explizit gemacht hat. Tut man dies, so lassen sich eine ganze Reihe von sogenannten Paradoxa der Quantentheorie in einem Licht darstellen, das mit tatsächlichen Widersprüchen wenig zu tun hat. Die zentrale Frage lautet dann eher, wie der Zusammenhang zwischen beiden Positionen auszusehen hat, damit ein umfassenderes Gesamtbild entstehen kann. Diese Frage ist bis heute nicht endgültig geklärt und stösst auf viele formale wie konzeptuelle Schwierigkeiten. Klar ist hingegen, dass die Bedeutung zweier einander ausschliessender, aber ergänzender («komplementärer») erkenntnistheoretischer Positionen für die Physik erstmals in der Quantentheorie deutliche Konturen erhält.

An die erwähnte Unterscheidung schliessen sich etliche andere Problembereiche an, die in der Debatte um die Interpretation der Quantentheorie immer wieder auftauchen. Einige Beispiele sind die Unterscheidungen von individuellen und statistischen Beschreibungen, isolierten und offenen Systemen, universellen und kontextuellen Gesetzen, reversiblen und irreversiblen zeitlichen Entwicklungen und dergleichen mehr. Auch hier ist davon auszugehen, dass die Lösung nicht in einem pauschalen «Entweder-oder», sondern in einem differenzierten, je nach Kontext zu diskutierenden «Sowohl-als-auch» zu suchen ist. Auf diese Weise zwingt die Quantentheorie dazu, Denkgewohnheiten zu hinterfragen, die in der klassischen Physik (und darüber hinaus) weithin als selbstverständlich gelten.

Ein illustrativer Begriff bei der Diskussion all dieser Fragen, der von Heisenberg stammt, ist der eines konzeptuellen «Schnittes», der in einem Gesamtsystem das Objekt der Beobachtung von dessen Umgebung (inklusive der Beobachtungsmittel) trennt. Dieser oft als Heisenberg-Schnitt bezeichnete Vorgang der Trennung umschreibt die Zerlegung eines Gesamtsystems in Teile. Diese Zerlegung ist nicht ein für alle Mal vorgegeben, sondern hängt von Kontexten ab, die sich beispielsweise in der Wahl einer experimentellen Anordnung widerspiegeln. Verschiedene Zerlegungen schliessen sich zwar gegenseitig aus; ein umfassendes Gesamtbild des unzerlegten Systems entsteht jedoch nur durch ihre gemeinsame Berücksichtigung.

Ein Ganzes ohne Teile

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Beschreibung des Gesamtsystems - anders als in der klassischen Physik - nicht von vornherein mit der Beschreibung der zerlegten Teilsysteme identisch ist. Salopp gesagt handelt es sich um ein Ganzes, das nicht aus Teilen besteht! Somit liegt in der Quantentheorie ein Konzept von Ganzheit vor, das weitaus radikaler ist als viele seiner Varianten in anderen Bereichen der Wissenschaft.

Die theoretische Fundierung dieses quantentheoretischen Holismus geht auf ein Gedankenexperiment von Einstein, Podolsky und Rosen, dessen Modifikation durch Bohm und schliesslich auf einen genialen Gedankengang von Bell zurück. Mit Bells Argumenten wurde es möglich, experimentell zwischen einer klassisch-lokalen und einer quanten-holistischen Charakterisierung des Zustandes eines Quantensystems vor dessen Messung zu unterscheiden. Die entsprechenden Experimente gelangen mit überzeugenden Resultaten erstmals Aspect und Mitarbeitern in Paris. Sie bestätigten, dass die von Einstein geforderte Unabhängigkeit der Eigenschaften physikalischer Objekte an verschiedenen Orten nicht von vornherein als gegeben vorausgesetzt werden darf. Die empirischen Belege für die Ganzheit des Zustandes eines Gesamtsystems vor der Messung, die mit der Messung erbracht werden, nennt man heute Einstein-Podolsky-Rosen-Korrelationen. Sie stehen für eine holistische Wirklichkeitsauffassung, die für Quantensysteme heute ebenso unbestritten wie kontraintuitiv ist.

Auf diese Weise hat die Quantentheorie, die zu ihrer Entstehungszeit angetreten war, um das atomistisch bestimmte Forschungsparadigma der Physik zu vollenden, dazu geführt, dass gerade das Gegenteil des Atomismus in der Physik eine solide Grundlage erhielt. Aus philosophischer Sicht sind im Zusammenhang damit zwei Punkte besonders interessant. Erstens stellt der quantentheoretische Holismus einen substanziellen Beitrag der Physik zu einem Problem der Metaphysik dar. Er macht nämlich Aussagen über den Zustand eines Systems in einer Situation, in der dieser prinzipiell nicht empirisch zugänglich ist - den Zustand vor der Messung.

Und zweitens erhält durch den quantentheoretischen Holismus die Reduktionismusdebatte der Physik eine neue Wendung. Wenn Systeme nicht schlicht aus Teilen bestehen, sondern es komplizierter Prozeduren und Argumente bedarf, um eine Beschreibung in Form von Teilen zu rechtfertigen, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die gesamte materielle Wirklichkeit vollständig auf die Eigenschaften und das Verhalten der Elementarteilchen der Physik reduzierbar ist. Beide Punkte werden unter Wissenschaftern und Wissenschaftsphilosophen vermehrt diskutiert.

Und das Bewusstsein?

Im Zusammenhang mit dem Thema Beobachtung wird oft mehr oder weniger selbstverständlich unterstellt, dass dabei letztlich auch das menschliche Bewusstsein eines Beobachters involviert ist. So kann man zwar argumentieren, doch es muss klar sein, dass sich die Quantentheorie als Theorie der materiellen Wirklichkeit nicht mit Bewusstsein als mentaler Kategorie beschäftigt. Beobachtung im Sinne der Quantentheorie ist immer ein Akt der Registration eines Ereignisses durch eine physikalische Apparatur, bei der Fragen des Bewusstseins völlig ausgeklammert bleiben. Anders gesagt: Das menschliche Bewusstsein spielt im Rahmen des gegenwärtigen Standes der Theorie bei der Beobachtung von Quantensystemen genau die gleiche Rolle wie bei der Beobachtung von klassischen Systemen. Versuche, die Quantentheorie über diesen «status quo» hinaus zu entwickeln, hat es wiederholt gegeben. Zu etablierten neuen Befunden hat bisher keiner davon geführt.

Pauli schrieb in diesem Zusammenhang in einem Brief an Fierz (1954): «Es könnte doch sein, dass wir die Materie, z. B. im Sinne des Lebens betrachtet, nicht richtig behandeln, wenn wir sie so beobachten, wie wir es in der Quantenmechanik tun, nämlich vom inneren Zustand des Beobachters dabei ganz absehend.» Pauli sah im Problem der Beobachtung in der Quantenmechanik eine Unvollständigkeit, bei der es - anders als in Einsteins Auffassung - «nicht um eine Unvollständigkeit der Quantenmechanik innerhalb der Physik, sondern um eine Unvollständigkeit der Physik innerhalb des gesamten Lebens» geht. Inwieweit diese Unvollständigkeit prinzipieller oder vorübergehender Natur ist, bleibt offen. Wer sich mit derlei Fragen einer zukünftigen Naturwissenschaft beschäftigt, mag daran denken, was Bohr gelegentlich zu sagen pflegte: «Die Frage ist nicht, ob eine Theorie zu verrückt ist, sondern ob sie verrückt genug ist.»

* Der Autor arbeitet am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg und am Max-Planck- Institut für extraterrestrische Physik in Garching.

 

 


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