Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Tages-Anzeiger WISSENSCHAFT Mittwoch, 21.10.1992 80

 

Vielleicht entsteht in der Welt nichts wirklich Neues

Der deutsche Philosoph Bernd-Olaf Küppers beschäftig sich mit der
Frage nach dem Ursprung des Lebens und der biologischen Information

 

Als Grenzgänger bezeichnet er sich gerne, als einer, der versucht, eine Brücke zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu schlagen. Bernd Olaf Küppers ist einer der wenigen Wissenschafter, die in beiden Disziplinen zu Hause sind. Sein zentrales Thema ist die biologische Lebens- und Informationsentstehung. «Ist die Evolution kreativ?» fragt Küppers beispielsweise. «Und wo kommen Sinn und Bedeutung her?»

 

VON ULRICH SCHNABEL

 

Bernd-Olaf Küppers hat theoretische Astrophysik studiert, sich mit Biochemie, Chaosforschung und Evolutionsbiologie beschäftigt und hält jetzt Vorlesungen über Naturphilosophie an der Universität Heidelberg. Dabei fühlt sich der habilitierte Philosoph allerdings nicht als Wissenschaftsprophet, der uns erklärt, wie «alles mit allem zusammenhängt» und unser aus den Fugen geratenes Weltbild wieder in einen Zustand von Harmonie versetzt. Schon der Mode gewordene Ausdruck «ganzheitlich» verursacht ihm Unbehagen.
Küppers fühlt sich eher dem Gegenteil verpflichtet, einer reduktionistischen Forschungsmethode, die versucht, alle Lebenserscheinungen auf physikalisch-chemische Gesetze zurückzuführen, zu reduzieren. Nach Ansicht des in Göttingen lebenden 48-jährigen Denkers findet sich dabei die Einheit der Naturerscheinungen in abstrakten Strukturgesetzen wieder, einem neuen Wissenschaftstyp, der sich unter anderem in der Kybernetik und der Chaostheorie abzeichnet.

Theorie der Lebensentstehung

Küppers philosophische Erkenntnisse stützen sich auf seine fast 20-jährige Arbeit am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen. Die Ergebnisse dieser Zeit hat er in seinem bekanntesten Buch «Der Ursprung biologischer Information»* zusammengefasst. Darin beschreibt Küppers die moderne Theorie der Lebensentstehung, die von einem molekularen Chaos ausgeht und die Vielfalt aller Lebenserscheinungen als gigantischen Selbst-Organisationsprozess der Materie betrachtet. Dabei soll das Prinzip von Mutation und Selektion bereits auf der molekularen Ebene wirksam sein.
Dieser molekular-darwinistische Ansatz deutet so den Übergang von unbelebter zu belebter Materie als Folge rein physikalischer Gesetzmässigkeiten. Küppers diskutiert in seinem Buch nicht nur ausführlich die philosophischen Konsequenzen dieser Theorie, sondern auch deren mögliche Alternativen.

Zufall oder göttliches Wirken?

Jeder, der die Lebensentstehung erklären will, sieht sich nämlich einer fundamentalen Schwierigkeit gegenüber: Die theoretische Wahrscheinlichkeit für das zufällige Entstehen eines sinnvollen Molekülhaufens ist so unvorstellbar klein, dass lebende Strukturen eigentlich gar nicht entstehen dürften.
Man weiss zum Beispiel heute, dass die genetische Information, die den Aufbau alles Lebendigen steuert, in den Bausteinen der Erbsubstanz DNS, den Nukleotiden, gespeichert ist. Ähnlich wie die Buchstabenfolge einer Schrift, verschlüsseln die Nukleotide im molekularen Bereich durch ihre Reihenfolge die Erbinformation. Schon der genetische Bauplan einer einfachen Bakterienzelle besteht allerdings aus annähernd 4 Millionen solcher Bausteine - die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese zufällig in der richtigen Reihenfolge anordnen, ist etwa so gross wie die, durch blosses Zusammenschütteln von Buchstaben ein Lehrbuch der Informationstheorie zu erzeugen.
Der französische Biochemiker Jacques Monod deutete daher die Entstehung des Lebens als singuläres Zufallsereignis, gleichsam als Lotteriegewinn der Evolution, der ein absolut einmaliges Ereignis darstelle. Die Anhänger des Vitalismus dagegen sahen hier ein zielgerichtetes (teleologisches) Prinzip am Wirken, eine Art Lebenskraft, die sich nicht auf die Gesetze der Physik und Chemie zurückführen lasse. Wie Küppers darlegt, ist allerdings die Zufallshypothese grundsätzlich unbeweisbar, während der teleologische Ansatz unwiderlegbar ist. Niemand kann also beweisen, dass es ein zielgerichtetes Prinzip in der Natur nicht gibt - keiner hat eine solche Lebenskraft aber auch je nachgewiesen.

Auslese auf molekularer Ebene

Küppers selbst vertritt mit seinem Mentor, Chemie-Nobelpreisträger Manfred Eigen, die These, dass bereits auf der molekularen Ebene eine Auslese im Sinne Darwins stattgefunden hat. Ein Simulationsexperiment mag dies erläutern: Erzeugt man nämlich in einem Computer per Zufallsgenerator beliebige Buchstabenfolgen, so kann auch aus der zufälligen Anfangssequenz «ULOWTRSMIKLABTYZC» ein so unwahrscheinliches Wort wie «EVOLUTIONSTHEORIE» quasi von selbst entstehen. Dazu muss man nur die Anfangssequenz genügend oft reproduzieren, Mutationen, also zufällige Abweichungen, einbauen und dafür sorgen, dass jede Sequenz, die um einen Buchstaben besser mit dem späteren Zielwort übereinstimmt, sich um einen bestimmten Faktor schneller reproduziert.
Auf die Ebene der Moleküle übertragen bedeutet dies, dass sich auch in einem molekularen Chaos ganz automatisch die Strukturen durchsetzen, die sich möglichst effizient und genau reproduzieren und dabei noch besonders stabil sind. Eine Selektion im Sinne Darwins findet damit nach Küppers Ansicht bereits auf der Ebene der Moleküle statt, und so sei es zur Bildung einfachster lebensfähiger Organismen gekommen.

Wo kommt die Information her?

Diese Simulationsexperimente haben nur einen Schönheitsfehler: Sie benötigen immer einen Bewertungsmassstab für die Auslese der richtigen Buchstaben- (oder Molekül-)Folge. Im Buchstabenbeispiel ist dies die Übereinstimmung mit der Zielsequenz. In der realen Welt soll diese Rolle nach Ansicht der Darwinisten der Anpassungsdruck durch die natürliche Umwelt sein.
Der Evolutionsforscher Küppers sieht die Sache jedoch nicht ganz so einfach: Das, was da als Umwelt angesehen werde, meint er, entstehe ja selbst erst im Laufe der Entwicklung. «Wir postulieren eigentlich», sagt Küppers, «dass während dieses ganzen Evolutionsprozesses so ein schöpferisches Element eine Rolle spielt, das uns auf einmal Sinn und Bedeutung langsam erzeugt.» Die Frage nach der biologischen Grundinformation, nach dem Bewertungsmassstab der Evolution, ist denn auch das Problem, mit dem sich Küppers wohl am meisten herumplagt.
Eine mögliche Antwort stammt von Carl Friedrich von Weizsäcker, den Küppers gern als «grosses Vorbild» bezeichnet. «Information», so schrieb Weizsäcker einmal, «ist nur das, was verstanden wird». Das hört sich banal an, bedeutet aber: Information in einem absoluten Sinne gibt es gar nicht; um eine Information zu verstehen, muss immer schon eine andere Information da sein. Damit also ein Organismus einen neuen Umweltreiz verarbeiten kann, muss er die dafür notwendigen Fähigkeiten schon besitzen. Daher könne es eine «gigantische Täuschung» sein, meint Küppers, die Evolution für «kreativ» zu halten. Vielleicht entsteht in der Welt gar nichts wirklich Neues, und die Komplexität der Welt faltet sich nur aus den anfänglichen Randbedingungen (der Umwelt nämlich) aus.

Physik wird zur historischen Wissenschaft

Das ist allerdings noch mehr Spekulation als handfeste Theorie. Eine andere, weniger spekulative Konsequenz betrifft dagegen die Wissenschaft selbst: Wenn die Physik der Biologie begegnet, so Küppers, transformiere sie sich selbst. Sie wird zur historischen Wissenschaft. Denn im Gegensatz zur klassischen Physik, die sich ausdrücklich mit nachprüfbaren, wiederholbaren Vorgängen befasst, rücken plötzlich einzigartige und nicht reproduzierbare Ereignisse in den Blickpunkt. Verstehen kann man solche Vorgänge nur noch in dem Sinne, dass man die ihnen zugrunde liegenden Strukturgesetze kennt, nicht aber, dass man sie vorausberechnen kann wie die Planetenbewegung oder eine Sonnenfinsternis.
Die Physik werde damit mehr und mehr zur Strukturwissenschaft, prophezeit Küppers. Beispielhaft zeigt das bereits die Chaostheorie. Die kennt zwar die (nichtlinearen) Gleichungen, die manchen komplexen Vorgängen zugrunde liegen, kann aber trotzdem nur allgemeine Aussagen machen wie die, wann ein System von regelmässigem in chaotisches Verhalten umkippt. «Aus universellen Gesetzmässigkeiten allein kann man nicht auf die Tatsachen dieser Welt schliessen», bringt Küppers die neue Physik auf den Punkt.

Wie soll Leben definiert werden?

Dies mag für uns orientierungsbedürftige Normalbürger enttäuschend klingen. Die streng reduktionistische Betrachtungsweise, der Versuch also, alle Lebenserscheinungen im Kontext von Physik und Chemie zu erklären, führt den Philosophen Küppers aber noch zu einer anderen Erkenntnis: Wenn sich nämlich die belebte und die unbelebte Natur nach denselben Gesetzen verhalten, dann kann es eine scharfe Trennlinie zwischen beiden Bereichen gar nicht geben. Wie soll Leben noch definiert werden, wenn es eine Folge rein physikalischer Selbstorganisationsprozesse ist? Grenzfälle wie die Viren, die sich wie Lebewesen selbst reproduzieren können, aber auch wie Mineralien kristallisieren, scheinen diese These zu bestätigen. Umgekehrt könnte man natürlich auch folgern, die ganze Natur (auch die sogenannte tote) sei lebendig.
Diese fast religiös anmutende Konsequenz will Küppers allerdings so nicht ziehen. Für ihn zeigt sich die Einheit von belebter und unbelebter Natur eher auf abstrakter Ebene, nämlich «in der Einheit der Grundbegriffe und der sie definierenden Gesetze». Für einen nüchternen Reduktionisten wie Bernd-Olaf Küppers klingt das allerdings auch schon verdächtig ganzheitlich.

 

*Bernd-Olaf Küppers: Der Ursprung biologischer Information, Piper-Verlag München 1991. 

 


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