Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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NZZ LITERATUR UND KUNST Samstag, 01.07.2000 Nr. 151 85
Metaphysischer Zankapfel
Warum Philosophen über die Existenz der Atome streiten
Von Holm Tetens
Für die physikalische Forschung macht es - praktisch - keinen Unterschied, ob ihre Betreiber an die Existenz von Atomen glauben oder nicht. Warum aber streiten sich Wissenschaftsphilosophen dann um die Atome? Weil es auch in dieser Sache um die Frage geht, wie zu leben sei.
Existieren Atome? Bis auf wenige Ausnahmen quittieren Physiker diese Frage heutzutage mit einem verständnislosen Kopfschütteln: Natürlich existieren Atome. Die indirekten empirischen Evidenzen scheinen so überwältigend, dass es für Physiker entweder einer wissenschaftsfremden Donquichotterie oder einem wissenschaftsfeindlichen Skeptizismus gleichkommt, die Existenz der Atome zu leugnen. Was für die Physiker fast schon eine Binsenwahrheit geworden ist, ist den Philosophen des Nachdenkens und des Streits würdig. Die Wissenschaftsphilosophie ist gespalten in zwei Lager, in das der Realisten, die von der Existenz der Atome überzeugt sind, und das der Antirealisten, die die Existenz der Atome bestreiten.
Für die Realisten erforscht die Physik, genauer: die Quantenmechanik, die Atome und die Teile, aus denen sie bestehen, die Elementarteilchen. Freilich beeilen sich die Realisten hinzuzufügen, dass man die Atome und Elementarteilchen nicht direkt beobachten könne; aber die Welt des direkt Beobachtbaren sei voll von kausalen Spuren der Elementarteilchen, und die Physik habe mit ihren zum Teil gigantischen Wissenschaftsmaschinen Mittel und Wege gefunden, die kausalen Hinterlassenschaften der Elementarteilchen in der Welt systematisch aufzuspüren.
STREIT, ENDLOS
Woran erkennt ein Physiker, dass die Daten, die die Wissenschaftsmaschinen der Physik registrieren, von Elementarteilchen herrühren? Direkt sieht man das den Spuren ja nicht an. Nun, die Daten werden als Spuren von Elementarteilchen gedeutet: Sie werden mit Elementen eines theoretischen Modells identifiziert, in dem Elementarteilchen als Objekte unterstellt werden. Bettet man die Daten in ein solches theoretisches Modell ein, lässt sich daraufhin eine Fülle neuer Daten vorhersagen, die sich ebenfalls an den Registriermaschinen nachmessen lassen.
An dieser Stelle warten die Realisten mit einem Standardargument auf: Müsste es nicht mit dem Teufel zugehen, wenn es die unbeobachtbaren Elementarteilchen nicht wirklich gäbe, obwohl die Physiker immer neue Daten erfolgreich vorhersagen, indem sie gerade die Existenz von Elementarteilchen unterstellen? Der Prognoseerfolg der Elementarteilchenphysik wäre ein unerklärliches Wunder, gäbe es keine Elementarteilchen. Das lässt für den Realisten nur den Schluss zu, dass es die Elementarteilchen tatsächlich gibt.
Gegen diesen Schluss protestieren die Antirealisten. Sie beharren darauf, dass kein Physiker etwas anderes direkt beobachtet als mesoskopische Veränderungen an mesoskopischen Apparaten. Mit mathematischen Modellen ordnen die Physiker die Beobachtungsdaten übersichtlich und sagen neue voraus. Die Antirealisten stellen keineswegs in Abrede, dass sich diese mathematischen Modelle prognostisch glänzend bewähren. Doch deshalb müssten nicht alle Bestandteile des Modells ein Gegenstück in der Realität haben. Aus dem Prognoseerfolg auf die Existenz der Elementarteilchen zu schliessen, wie es die Realisten tun, ist für die Antirealisten ein Fehlschluss.
Den Prognoseerfolg mit der Existenz der Elementarteilchen zu erklären, laufe auf die folgende zirkuläre Scheinerklärung hinaus: Die Modelle der Elementarteilchenphysik beschreiben die Wirkungen an mesoskopischen Apparaten deshalb prognostisch erfolgreich, weil sie sich bei der Prognose solcher Wirkungen bewähren. Die mathematischen Modelle solle man daher nicht wörtlich verstehen, Atome und Elementarteilchen seien nur nützliche Fiktionen in diesen Modellen; in Wahrheit gebe es keine Atome oder Elementarteilchen. So weit die Sichtweise der Antirealisten.
Wer hat Recht, der Realist oder der Antirealist? Natürlich wird der Realist für seine These Belege anführen, Ergebnisse von Messungen und Experimenten, logische Deduktionen im mathematischen Formalismus der Elementarteilchenphysik, den Erfolg der Prognosen. Doch womit auch immer der Realist die Realität der Elementarteilchen belegen möchte, stets kann der Antirealist die Belege so umdeuten, dass sie im Einklang mit seiner eigenen These stehen, Elementarteilchen existierten nicht wirklich. Endlos werden sich Realisten und Antirealisten so weiter streiten; kein empirisches Faktum kann den Streit definitiv zugunsten eines der beiden Kontrahenten beenden.
Eine mögliche Welt, in der Physiker auf die übliche Weise und mit den bekannten Ergebnissen Physik betreiben und in der es Atome und Elementarteilchen gibt, lässt sich empirisch nicht unterscheiden von einer möglichen Welt, in der Physiker ebenfalls auf die übliche Weise und mit denselben empirischen Ergebnissen Physik betreiben und in der Atome und Elementarteilchen nur nützliche Fiktionen in theoretischen Modellen sind. Für die Forschung macht es daher auch keinen Unterschied, ob ein Physiker Realist oder Antirealist ist. Die typischen Tätigkeiten eines Physikers, nämlich zu experimentieren und zu messen, experimentelle Daten theoretisch zu interpretieren, mit den mathematischen Formalismen der Physik zu rechnen und neue Daten vorherzusagen, werden durch die Differenzen zwischen Realisten und Antirealisten weder beeinträchtigt noch gefördert. Deshalb kooperiert die realistisch eingestellte Mehrheit der Physiker bestens mit der kleinen Minderheit der Antirealisten.
WOZU?
Das Entscheidungsdilemma zwischen der Welt, wie sie der Realist beschreibt, und der Welt, wie sie der Antirealist beschreibt, ist nach dem amerikanischen Philosophen Arthur C. Danto typisch für ein echtes philosophisches Problem. Er behauptet, «dass philosophische Probleme im Zusammenhang mit ununterscheidbaren Paaren» möglicher Welten auftreten, ohne dass sich anhand von Erfahrungen beweisen lasse, welche der möglichen Welten die reale empirische Welt ist.
Doch wozu dann der Streit der Philosophen über die Realität der Atome und Elementarteilchen?
Philosophen sind nicht erst von Planck, Bohr, Heisenberg und anderen dazu angeregt worden, über die Atome nachzudenken. Der Atomismus hat nicht mit der modernen Physik begonnen, er ist von antiken Philosophen erfunden worden, und unter ihnen war Epikur einer seiner vehementesten Verfechter. Epikur plädiert für den Atomismus jedoch in einem Kontext, in dem heute kein Wissenschafter über die Atome nachzudenken pflegt.
Für Epikur zielt die Philosophie auf die Glückseligkeit des Menschen. Philosophie definieren die Epikureer als die «Tätigkeit, die durch Argumentation und Diskussion das glückselige Leben verschafft». Dabei ist Epikur davon überzeugt, dass der Mensch in dieser empirischen Welt glückselig leben kann, sofern er sich nur von der Furcht, den Begierden und den körperlichen Schmerzen als Quellen der Unlust befreit. Der Philosophie kommt dabei vor allem die Aufgabe zu, durch einsichtsvolles Nachdenken die Furcht vor den Göttern und vor dem Tod zu zerstreuen.
FURCHT AUSTREIBEN
Nach Epikur kann den Menschen die Furcht vor den Göttern und vor dem Tod am besten durch den Atomismus ausgetrieben werden. So haben wir Eingriffe der Götter in die Welt der Menschen nicht zu fürchten, weil das Universum nicht von einem intelligenten Wesen nach einem Plan geschaffen ist und weil sich das Naturgeschehen vollständig aus sich heraus verstehen und erklären lässt. Weil der Atomismus die Natur so erklärt, ist er Epikur so willkommen. Ebenso wenig haben wir nach Epikur den Tod zu fürchten, weil wir ohne unsterbliche Seele mit dem Tod für immer empfindungslos werden. Es ist der Atomismus, der eine solche Sicht der Seele und des Todes zur Konsequenz hat.
Schliesslich folgt aus dem Atomismus, dass das Naturgeschehen strengen Gesetzmässigkeiten unterworfen ist; es ist berechenbar und verhält sich konstant, deshalb können wir uns auf die Natur verlassen und auf den Gleichlauf der Natur mit dem unaufgeregten Gleichmut eines ruhigen Seelenlebens antworten. Kurz: Der Atomismus erklärt am besten, dass und warum die Natur so ist, wie sie sein muss, damit wir glückselig leben können. Hinter Epikurs Atomismus steht somit ein Schluss auf die beste metaphysische Erklärung für die Realisierbarkeit des glückseligen Lebens.
Sollte tatsächlich allein im Kontext der Frage nach dem guten Leben etwas davon abhängen, ob die Welt wirklich aus Atomen besteht oder nicht? Oder ist der Kontext, in dem Epikur den Atomismus thematisiert, zufällig und untypisch für die Philosophie?
Zufällig und untypisch ist die Frage nach dem guten Leben für die Philosophie ganz und gar nicht; sie schafft den Kontext für alle anderen Fragen der Philosophie. Denn am Anfang des Philosophierens steht eine Grunderfahrung, die sich jedem aufdrängt. Unser Leben spielt sich in der physischen Welt ab. Es ist an die physische Existenz unseres Organismus gebunden, so scheint es jedenfalls zu sein. Nichts an unserem Leben zwischen Geburt und physischem Tod hat wirklichen Bestand. Alles verändert sich fortwährend. Zudem scheint vieles, um nicht zu sagen alles, was uns in unserem Leben im Guten wie im Schlechten zustösst, so zufällig, so unvorhersehbar, so unverfügbar, so unverdient, so ungerecht zu sein, dass wir an einem tieferen Sinn unseres Lebens zweifeln können. Und am Ende steht der Tod, der alles zu vernichten und sinnlos werden zu lassen droht.
LEITFRAGEN
Gibt es in diesem Sog ständiger Veränderungen, in den unser empirisch erlebtes Dasein hineingerissen wird, überhaupt etwas, worauf wir bauen dürfen, etwas, was unser Leben tragen könnte, was unserem Leben letztlich eine Richtung und ein Ziel geben kann, etwas, was uns unser Leben in Frieden und Einklang mit der Welt und uns selbst führen lässt? Oder ist es unser unentrinnbares Schicksal, Fremdlinge und Zufallsprodukte in einer zutiefst zufälligen und sinnlosen Welt zu sein?
Es sind diese Fragen, die die Philosophie aufgreift und radikal weitertreibt, Fragen, die man die «metaphysischen Leitfragen» der Philosophie nennen könnte. Im Lauf der Philosophiegeschichte hat so gut wie jede überhaupt logisch mögliche Antwort auf diese Fragen unter den Philosophen mindestens einen ernsthaften Fürsprecher gefunden. Diese Thesenvielfalt und das Gewirr sich widersprechender Argumente machen die Philosophie so unübersichtlich und kontrovers.
Auch der Streit der Wissenschaftsphilosophen um die Existenz der Atome wird durch die ebenso kontroverse wie verwirrende Debatte der Philosophie um die metaphysischen Leitfragen angestossen. Zu den wichtigsten metaphysischen Leitfragen zählt die Frage: Ist, unter der Perspektive des guten Lebens betrachtet, die wahre Realität anders, möglicherweise radikal anders, als sie uns empirisch erscheint? Es gibt Philosophen, die darauf antworten, das Wirkliche falle mit dem Beobachtbaren zusammen. Ohne Zweifel ist diese Antwort für die Vorstellungen vom guten Leben folgenreich; zum Beispiel wird damit die Existenz Gottes oder die Unsterblichkeit unserer Seele geleugnet. Ein Philosoph mag das für das gute Leben positiv bewerten - wie dies zum Beispiel Epikur getan hat -, für einen anderen aber mag gerade mit Blick auf die Vorstellungen vom guten Leben der Gedanke unerträglich sein, dass nur das Beobachtbare Realität haben soll. Er wird die Beobachtungsthese deshalb vehement bestreiten.
WIE ZU LEBEN SEI
In diesem Für und Wider der Beobachtungsthese taucht früher oder später auch das Atom als Zankapfel der Philosophen auf. Zum Beispiel kann ja ein Philosoph gegen die These, nur das Beobachtbare existiere, einwenden, damit würde man ja noch nicht einmal den Naturwissenschaftern gerecht, die unbeobachtbare Gegenstände wie die Atome gleichwohl für Realität hielten. Einen Verteidiger der Beobachtungsthese muss dieser Einwand nicht beeindrucken, er kann sich auf die antirealistische These zurückziehen, Atome seien nur nützliche Fiktionen in den mathematischen Modellen der Physik.
Wiederum andere Philosophen behaupten in der philosophischen Kontroverse um die wahre Realität, letztlich bestehe die gesamte Realität nur aus Elementarteilchen, eine für die Frage nach dem guten Leben ohne Zweifel folgenreiche Behauptung; Epikur, lebte er heute, könnte sie unterschreiben und dieselben Anweisungen zum glückseligen Leben daraus ableiten, die er aus seinem wesentlich kruderen und noch gänzlich spekulativen Atomismus abgeleitet hat. Abermals werden andere Philosophen, vielleicht weil sie die mit dem Atomismus verbundene Idee des guten Lebens nicht teilen können und wollen, dagegen einwenden, dass die Physik aus methodologischen und erkenntnistheoretischen Gründen nur etwas über das Beobachtbare aussagen könne; keineswegs seien es die Atome, die die Welt im Innersten zusammenhalten; diese seien nur nützliche Fiktionen, um das Beobachtbare zu ordnen und vorherzusagen. Mithin begrenzt ein solcher Philosoph mit antirealistischen Argumenten den Geltungsbereich der Physik, um für die Metaphysik und den Glauben Platz zu schaffen.
Dies sind nur einige wenige Beispiele dafür, wie sich Philosophen um die richtigen Antworten auf die metaphysischen Leitfragen streiten und sich dabei manchmal auf die realistische, manchmal auf die antirealistische Deutung der Physik berufen. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Erfahrung und wissenschaftlichen Praxis kann es also für die Debatten der Philosophen um das gute Leben doch auf einmal bedeutsam sein, ob Atome Fiktionen oder Realität sind. Wenn das so ist, dann gehört der Streit der Philosophen um die Realität der Atome auch weiterhin allein in diesen Kontext. Nur die moderne Wissenschaftsphilosophie scheint inzwischen fast vollständig verdrängt und vergessen zu haben, wo der Streit um die Existenz der Atome seinen angestammten Platz in der Philosophie hat.
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