Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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NZZ Zeitfragen, 29. Dezember 2001, Nr. 302, Seite 71

 

Das paranormale Gehirn

Was der Umgang mit Zufällen über den Glauben verrät

Von Peter Brugger*

Das Phänomen des «sinnvollen Zufalls» hat den Menschen seit je fasziniert. Neuropsychologische Untersuchungen zeigen, dass das Gehirn von Leuten, welche eine paranormale Ursache hinter Zufallsereignissen wittern, anders funktioniert als dasjenige von Skeptikern. Das Studium des «paranormalen Gehirns» ist für die Psychiatrie genauso wichtig wie für die Erforschung der Kreativität.

Bestimmt haben Sie schon einmal erlebt, dass Sie einem spontanen Einfall folgend eine Ihnen bekannte Person anrufen wollten, aber nicht dazu kamen, weil Sie selbst im gleichen Augenblick einen Anruf ebendieser Person erhielten. Oder haben Sie neulich in einem Restaurant einen Tisch für sieben Personen bestellt, und es stellte sich heraus, dass unter gleichem Namen (wohlbemerkt: weder Meier noch Müller!) bereits ein Tisch derselben Grösse reserviert wurde? Was die einen als blossen Zufall ansehen, ist für andere höchst bedeutsam; für sie sind «sinnvolle Zufälle» traute Wegbegleiter durch den Alltag, ein Zeichen dafür, dass Gott nicht würfelt, oder zumindest ein Hinweis auf die Existenz einer lenkenden Kraft, die sich der Entdeckung durch unsere niederen Sinne entzieht.

Tatsächlich haben Befragungen ergeben, dass der Glaube an aussersinnliche Phänomene wie Telepathie, Hellsehen oder Prophetie mit einer erhöhten Bereitschaft einhergeht, selbst banalsten Zufällen des Alltags einen tieferen Sinn abzugewinnen. In jüngster Zeit hat sich die Neuropsychologie der Frage angenommen, welche zentralnervösen Mechanismen für die erhöhte Deutungsbereitschaft und den Glauben an aussersinnliche Wahrnehmung, kurz ASW, verantwortlich sein könnten.

Sinnvolle Zufälle im Versuchslabor

Vor gut einem halben Jahrhundert hat der bekannte Psychologe Burrhus Skinner «abergläubisches» Verhalten bei Tieren beobachtet. Findet etwa eine Ratte ausschliesslich dann ein Futterstückchen vor, wenn sie sich einem nahe stehenden Napf erst nach einer Wartezeit von mindestens fünf Sekunden nähert (obschon der Napf durchaus innerhalb einer Sekunde erreicht werden könnte), «füllt» sie die Wartezeit mit individuellen Verhaltensweisen wie zum Beispiel Hinterm-Ohr-Kratzen oder Sich-um-die-eigene-Achse-Drehen. Es scheint, als ob es das Tier nicht so einfach hinnehmen könnte, für nichts anderes als blosses Abwarten belohnt zu werden. In der Sprache des Behaviorismus hat die Ratte gelernt, eine anfangs zufällig erfolgte Paarung zwischen einem spontan gezeigten Verhaltenselement und einer Belohnung zu verstärken und so das unnötige Verhalten selber zu konditionieren. Bereits Skinner vermutete, dass ein grundsätzlich identisches Verstärkungsprinzip auch für die Entwicklung abergläubischer Praktiken beim Menschen verantwortlich sein könnte. Paradebeispiel ist der Regentanz: Ausdauerndes Tanzen wird fast zwangsläufig mit Regen belohnt, obschon auch hier geduldiges Kratzen hinterm Ohr zu vergleichbarem Erfolg führen würde.

Belohnung für überflüssiges Verhalten

Interessanterweise ist erst in jüngster Zeit der Versuch unternommen worden, das Konditionierungsverhalten von Versuchspersonen in Abhängigkeit eines modernen Aberglaubens, des Glaubens an paranormale Phänomene, zu untersuchen. In Zusammenarbeit mit der Neurologischen Klinik des Universitätsspitals Zürich wurde an der Universität Victoria (Kanada) ein Computerspiel entwickelt, bei dem Versuchspersonen durch Tastendruck ein Mäuschen über den Bildschirm bewegen. In einer Ecke des Bildschirms befindet sich ein Feld, zu dem das Mäuschen hingeführt werden soll. Beim «Sprung» auf dieses Feld schnappt entweder eine Falle zu (wenn die Versuchsperson das Ziel in weniger als fünf Sekunden erreicht), oder es erfolgt eine Belohnung in Form eines virtuellen Käsestückchens (wenn das Zielfeld erst nach Ablauf von fünf Sekunden angesprungen wird). Zu Beginn des Versuches wurde den Versuchspersonen lediglich mitgeteilt, dass es während des Spiels ihre Aufgabe sei, erstens den Käse so oft als möglich zu erhalten und zweitens herauszufinden, ob und allenfalls wie sie den Erhalt dieser Belohnung beeinflussen könnten.

Von vierzig Studenten lernten alle, mit dem kritischen Sprung mindestens fünf Sekunden zuzuwarten. Bloss zwei Personen fanden allerdings heraus, dass sie lediglich diese Zeit abzuwarten brauchten, die restlichen achtunddreissig Probanden entwickelten zum Teil hochkomplexe Theorien über die effizienteste Art, zum Käse zu gelangen. Einige gaben an, nur eine ganz bestimmte, ausgeklügelte Abfolge der Antworttasten führe zum Erfolg. Andere waren überzeugt, dass sie nach einem Aufenthalt in der dem Zielfeld gegenüberliegenden Bildschirmecke erst nochmals zur Startposition zurückkehren mussten, bevor sie dann aufs Zielfeld sprangen. Mit anderen Worten: Der Grossteil der Versuchspersonen «füllte» die einprogrammierte Wartezeit mit überflüssigem Verhalten - welches auch belohnt wurde, da es ganz einfach Zeit in Anspruch nahm. Der Hauptbefund der Studie bestand nun darin, dass diejenigen Versuchspersonen, welche in einem Fragebogen angaben, an ASW und verwandte magische Phänomene zu glauben, in stärkerem Masse von der Wirksamkeit solcher Rituale überzeugt waren als diejenigen, die sich als nichtgläubig einstuften. Folgestudien haben nun gezeigt, dass diese erhöhte Bereitschaft, zwischen indirekt assoziierten Gegebenheiten eine direkte Abhängigkeit zu sehen, von Eigenschaften unseres Sprachsystems abhängt.

Die Bedeutung von Assoziationen

Assoziationen bestimmen unser Leben. Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Übersinnlichen wird dies dort klar, wo es um die Interpretation «sinnvoller» Zufälle geht. Der nächtliche Traum, in einem Wettbewerb ein rotes Auto zu gewinnen, wird tags darauf nur selten Wirklichkeit. Was aber, wenn diesem Traum ein wahrscheinlicheres Ereignis folgt, etwa dass einem sein grünes Fahrrad gestohlen wird? Alle möglichen Reaktionen sind denkbar, von einem gänzlichen Übersehen der «Koinzidenz» über ein beiläufiges Aufmerken bis hin zur Überzeugung, dass der Traum ein prophetischer gewesen sein muss: Ist nicht das Fahrrad genauso sehr Fahrzeug, wie es das Auto ist? Sind nicht Rot und Grün durch ihre Gegensätzlichkeit aufs Innigste miteinander verwandt? Hat der Traum nicht den erlittenen Verlust symbolisch-beschönigend als Gewinn vorweggenommen? Ob psychoanalytisch oder parapsychologisch motiviert, der esoterische Geist findet stets wundersamste Bezüge, die unabhängige Ereignisse in ein sinngebendes Licht rücken.

Ein als Hellsehversuch getarntes Experiment hat Studenten mit unterschiedlicher Einstellung zum Paranormalen (konkret: ASW-Gläubige und ASW-Ungläubige) bezüglich ihres Assoziationsverhaltens untersucht. Die Probanden mussten mit verbundenen Augen einen Würfel mit drei verschiedenen Ereignismöglichkeiten (siehe Kasten) wiederholt werfen und nach jedem Wurf das eingetretene Ereignis raten. Analysiert wurde die sequenzielle Aufeinanderfolge der Rate-Antworten. Alle Versuchspersonen vermieden, mehrmals nacheinander dasselbe Ereignis zu vermuten (zum Beispiel «Schilf» in direkter Aufeinanderfolge). Dieser Effekt der «Repetitionsvermeidung» fand sich ausgeprägter für ASW-Gläubige als für ASW-Ungläubige. Aufschlussreicher war, dass die Probanden sich von individuellen assoziativen Verknüpfungen zwischen den einzelnen Bildern dazu verführen liessen, auch verwandt erscheinende Paarungen weniger häufig zu nennen, als rein statistisch zu erwarten wäre. Diejenigen Studenten, welche das Tierbild als (in der Abbildung nach rechts oben blickende) Ente interpretierten, vermieden, unmittelbar nach einem «Entenwurf» das Ereignis «Schilf» zu raten. Umgekehrt wählte, wer ein Häschen (in der Abbildung mit Blick nach links unten) erkannte, nach einem «Hasenwurf» nur selten die Karotte. Auch diesen Effekt der Vermeidung von assoziativ verwandten Ereignissen zeigten ASW-Gläubige in stärkerem Masse als ASW-Ungläubige. Diese Befunde lassen vermuten, dass der Glaube an paranormale Bezüge genährt wird von einer Unterschätzung dessen, was im Alltagsleben rein zufällig an Ähnlichkeiten aufeinander folgen kann, und einem ausgeprägten Sinn für assoziative Verwandtschaft.

Den neuropsychologischen Grundlagen hoch assoziativer Denkmuster sowie der Frage, inwieweit diese tatsächlich mit dem Glauben ans Paranormale verknüpft sind, ist ein Team des Zürcher KEY Institute for Brain-Mind Research nachgegangen. In einer Studie mit ausgewählten Studenten («hoch gläubig» versus «äusserst skeptisch» bezüglich der Existenz aussersinnlicher Phänomene) machten die Forscher Gebrauch von einer Methode, welche erlaubt, die Reaktionsweise beider Hirnhälften auf visuelle Reize hin separat zu untersuchen. Die dargebotenen Reize bestanden aus Wortpaaren, die entweder direkt miteinander verwandt waren (zum Beispiel Löwe - Mähne) oder aber lediglich einen indirekten Bedeutungsbezug aufwiesen (etwa Löwe - Streifen). In letzterem Fall, so haben frühere Experimente gezeigt, werden verbindende Begriffe wie Tiger oder Zebra im Gehirn einer Versuchsperson automatisch mit aktiviert.

Wesentlich ist dabei, dass das Ausmass dieser Mitaktivierung für die beiden Hirnhälften unterschiedlich ausfällt; während die linke, beim Rechtshänder «sprachdominante» Hemisphäre sich auf die fokale Analyse einiger weniger eng verwandter Begriffe spezialisiert, zeigt die rechte Hemisphäre eine diffusere Aktivierung, die selbst lose miteinander verknüpfte Begriffe umfasst. Die Zürcher Studie hat nun klar gezeigt, dass spezifisch in der rechten Hirnhälfte der Paranormal-Gläubigen Wortpaare mit bloss indirektem Bedeutungsbezug gleichermassen verarbeitet wurden wie eng verwandte Paare. In klarem Kontrast dazu behandelten die Skeptiker die indirekt verwandten Bezüge wie Kontrollreize, die überhaupt keinen Zusammenhang erkennen lassen (etwa Zitrone - Buch). Dieses Ergebnis legt nahe, eine Aktivierung rechtshemisphärischer Sprachprozesse als Grundlage für das automatische Erkennen von Bezügen zu vermuten, ob diese Bezüge nun Hand und Fuss haben oder nicht.

Kreativität und Wahn

Kreatives Denken lässt sich definieren als das Aufdecken von Zusammenhängen zwischen Konzepten, welche nicht offensichtlich verwandt sind; das Paradebeispiel hierzu ist die vielzitierte Entdeckung der ringförmigen Struktur des Benzols durch Kekulé auf einen Traum hin, in welchem sich eine Schlange in den Schwanz biss. Alle bisherigen Befunde der «Neuropsychologie des paranormalen Gehirns» deuten darauf hin, dass es die ASW-Gläubigen sind und nicht die Skeptiker, die ein erhöhtes Potenzial haben, versteckte Bezüge aufzudecken. Gleichzeitig macht ihre lockerere Assoziationsweise die Gläubigen allerdings auch anfälliger dafür, dort Verwandtschaften zu vermuten, wo gar keine sind. Genau hier reicht die Bedeutung des neuen Forschungszweiges über die blosse Frage nach den neuropsychologischen Korrelaten des Glaubens hinaus: Wo genau ist die Grenze zwischen kreativer und wahnhafter Beziehungsstiftung anzusetzen? Sind Personen, die ans Paranormale glauben, tatsächlich kreativer als Nichtgläubige? Oder versteckt sich in ihrer Gläubigkeit vielleicht eine «Vorform des Wahns»? Bezahlen die eingefleischten Skeptiker den Schutz vor einem übersteigerten Deutungszwang mit einer generell eingeengten Weltsicht?

In diesen Fragen überlappen sich die Forschungsinteressen von Psychiatrie und kognitiver Psychologie der Kreativität. Seit Eugen Bleuler, dem Schöpfer des Begriffs «Schizophrenie», ist bekannt, dass akut psychotische Personen ein auffallendes Assoziationsverhalten zeigen; sie ziehen ungewohnte, indirekte Assoziationen direkten Trivialbezügen vor, oft in einem Ausmass, das ihnen die Diagnose einer «Denkstörung» einbringt. Die moderne Neuropsychiatrie hat nachweisen können, dass denkgestörte psychiatrische Patienten in der Regel keine reguläre linkshemisphärische Sprachdominanz zeigen. Ihre Beziehungsideen müssen wahrscheinlich als Ausdruck eines hyperaktiven rechtshemisphärischen Sprachsystems aufgefasst werden, dessen semantische Netzwerke diffuser organisiert sind als diejenigen der linken Gehirnhälfte. Ob hoch kreative Personen eine qualitativ ähnliche funktionelle Hemisphärenorganisation zeigen, ist bisher nicht bekannt. Die Beobachtung, dass vereinzelte Patienten mit einer Schizophrenie bemerkenswerte literarische Werke hinterlassen haben, schliesst diese Möglichkeit nicht aus.

Und die Parapsychologie?

Es stellt sich die Frage, ob die Parapsychologie als Wissenschaft der ASW als kreatives oder wahnhaftes Unternehmen aufgefasst werden sollte. Von unterschiedlichen Seiten ist sie während des vergangenen Jahrhunderts wiederholt als das eine gepriesen oder das andere verdammt worden. Es wird wohl stets ein Streitpunkt bleiben, ob es Phänomene wie Telepathie und Hellsehen tatsächlich gibt. Unbestritten ist allerdings, dass die parapsychologische Forschung auf ihrem Sisyphusweg, deren Existenz nachzuweisen, hin und wieder durchaus kreative Ideen hervorgebracht hat. Als Beispiel sei eine Studie aus der Anfangszeit der Elektroenzephalographie erwähnt, in welcher Hirnstrommessungen an Personen mit angeblich paranormaler Begabung vorgenommen wurden. Noch bevor die EEG-Technik die Epileptologie revolutioniert hat, findet sich dort der Vorschlag, die Enzephalographie könnte, bei Epileptikern eingesetzt, allenfalls interessante Resultate liefern.

Gelänge es der Parapsychologie, sich auch als eine Wissenschaft des Glaubens an paranormale Phänomene zu definieren, dürfte eine Brücke zu den modernen Neurowissenschaften leicht zu schlagen sein. Schliesslich ist zu bemerken, dass einige Befunde der «Neuropsychologie des paranormalen Gehirns» mindestens so okkult anmuten wie manche Ergebnisse der traditionell-parapsychologischen Forschung. Ein Experiment hat kürzlich die Präzision gemessen, mit der Versuchspersonen mit verbundenen Augen die Mitte eines ertasteten Stabes angeben können. Gefunden wurde eine statistisch signifikante Korrelation zwischen der individuellen Ausprägung magischen Denkens und der Abweichung der subjektiven Mitte, in Millimetern, zur linken Seite hin. Zufall? Bedeutungsvoller Zusammenhang? Erst weitere Experimente werden die Antwort auf diese Fragen liefern können.

* Peter Brugger ist Oberassistent an der Neuropsychologischen Abteilung des Universitätsspitals in Zürich. Eine umfassende Literaturliste zum Artikel kann bei ihm angefordert werden (pbrugger@npsy.unizh.ch).

 

 


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