Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Quelle:

Neue Zürcher Zeitung Ressort Literatur und Kunst, 25. Mai 2002, Nr. 118, Seite 81

 

Porträt eines widerspenstigen Poeta doctus

Der Erotiker Catull in einer Monographie von Niklas Holzberg

Von Thomas Ribi

Seit seiner Wiederentdeckung im 14. Jahrhundert gehört Catull zu den meistgelesenen Autoren der lateinischen Antike, seit einigen Jahrzehnten ist er zumindest im deutschsprachigen Raum sogar ein eigentlicher Schulautor. Dies mag verwundern. Denn obschon die Obszönität eines Grossteils seines Werks naturgemäss auf das Interesse der zeitgenössischen Leserschaft zählen kann - einfach zu verstehen sind seine geschliffenen, von literarischen Anspielungen durchsetzten Gedichte keineswegs. Die Monographie, die der Münchner Latinist Niklas Holzberg vorlegt, ist in dieser Situation willkommen. Dies vor allem auch deshalb, weil das letzte deutsche Überblickswerk zu Catull über ein Jahrzehnt alt ist und die Forschung in Einzelstudien stattfindet, die an oft schwer zugänglichen Orten publiziert sind.

Der Untertitel von Holzbergs Buch, «Der Dichter und sein erotisches Werk», setzt klare Leitplanken für die Interpretation. Es behandelt die weitaus meisten der 116 überlieferten Gedichte, und zwar als komponierte Einheit, die zu durchgehender Lektüre - und weiterführendem Wiederlesen - gedacht war. Im Wissen darum, dass über die Person des Autors kaum gesicherte Information verfügbar ist, klammert Holzberg allfällige biographische Bezüge aus; die Vorstellung, aus den Gedichten liesse sich das Leben ihres Verfassers in einzelnen Stationen rekonstruieren, wird zu Recht zurückgewiesen. Er konzentriert sich darauf, die Texte zu interpretieren, und dies so, dass sie für ein Laienpublikum verständlich werden. Dass er auf die Forschungsdiskussion kaum eingeht, kommt der Lesbarkeit des Texts zweifellos zugut; da und dort wüsste man allerdings gern explizit, wo sich der Autor positioniert oder gegen wen er argumentiert.

Neben Gattungskonventionen und der starken intra- und intertextuellen Bezogenheit der Texte berücksichtigt Holzberg bei seiner Deutung vor allem die neuere Forschung zur Geschlechterordnung im antiken Rom. Damit mögen einige Probleme verbunden sein: Die einschlägigen Studien stützen sich meist auf spätere Quellen, und es ist fraglich, ob ihre Folgerungen, beispielsweise zur gesellschaftlichen Wertung der Homosexualität, ohne weiteres auf das um 55 v. Chr. publizierte Werk Catulls angewendet werden können; zudem überlagern sich im Geschlechterdiskurs der römischen Antike ererbte römische und importierte griechische Einflüsse in komplexer Weise, und in einer so stark von literarischen Konventionen bestimmten Dichtung ist es schwierig zu entscheiden, welche Aussagen gesellschaftlich akzeptierte Wertvorstellungen spiegeln.

Doch selbst wenn man ihm nicht in allen Punkten folgen mag, führt Holzbergs Interpretationsansatz im Ganzen zu plausiblen, oft überraschenden Ergebnissen. Bei einigen Gedichten, so dem wunderbaren Kleinepos über die Hochzeit von Peleus und Thetis (c. 64) bleiben freilich grosse Probleme zurück. Die Fokussierung auf den erotischen Bereich als Mittelpunkt des Werks liegt nahe, und es ist wohl vor allem als Ausdruck der Irritation früherer Philologengenerationen zu verstehen, wenn Geschlechtliches oft als unwesentliche Zutat weginterpretiert wurde. Holzberg seinerseits scheint beim Aufspüren sexueller Anspielungen da und dort etwas weit zu gehen. Doch immerhin zeigt Catulls Werk deutlich, dass die Gesellschaft der späten Republik ein Mass offener Obszönität tolerierte, das wenige Jahrzehnte später, zur Zeit des Augustus, nicht mehr denkbar gewesen wäre. Schwer tun wird man sich vielleicht zunächst mit Holzbergs Beharren auf dem durchgehend ironischen Ton und der durchwegs komischen Intention des Autors. Dies besonders in Gedichten, die gemeinhin als Ausdruck echten Gefühls gelesen werden, etwa in der Allius-Elegie (c. 68) oder im Selbstgespräch des 76. Gedichts, das der Latinist Wilhelm Kroll als «von tiefster Empfindung getragen» charakterisierte.

Mit dem von Gian Biagio Conte geprägten Begriff des «verborgenen Autors» versteht Holzberg das poetische Ich der Catull'schen Gedichte als Figur, die vor allem auf Grund ihres permanenten Versagens im erotischen Bereich komisch konnotiert ist. Die Lektüre des von Catull als «zierliches neues Büchlein» (lepidum novum libellum) bezeichneten Corpus, so Holzbergs Folgerung, sei für Zeitgenossen in erster Linie witzig und unterhaltsam gewesen, obschon sie für dessen tieferes Verständnis über einen hohen Grad literarischer Bildung verfügen mussten. Das so witzig wie raffiniert inszenierte Spiel des poetischen Ichs mit dem Tausch von Geschlechterrollen, das als konstitutives Element des gesamten Werks herausgestellt wird, stellt einige Passagen in neues Licht und dürfte einige Interpretationsprobleme lösen. Ob mit dieser komplexen Camouflage, wie Holzberg suggeriert, tatsächlich auch eine erotisierende Wirkung auf die - überwiegend männliche - zeitgenössische Leserschaft erzielt werden sollte, bleibe dahingestellt.

Holzbergs Deutung bestätigt einmal mehr, dass Catull trotz allem ein widerspenstiger Autor ist. Ein gelehrter Poeta doctus einerseits, der bei den Lesern umfassende Kenntnis der literarischen Tradition voraussetzt und den Willen verlangt, in sorgfältiger Lektüre versteckte Anspielungen zu entdecken und zu würdigen. Anderseits ein direkter, bisweilen ungestümer Dichter, der hinter der Maske des verruchten Gassenpoeten ein fintenreiches Spiel mit den Lesern treibt. Einzelne seiner Gedichte gehören zweifellos zum Kunstvollsten, was aus der römischen Literatur erhalten ist. Man wird sich Niklas Holzbergs Wunsch anschliessen, der spätrepublikanische Veroneser möge im Kanon der Weltliteratur gleichrangig neben Petrarca, Goethe oder Baudelaire stehen. Dazu aber muss er nicht nur gelobt, sondern auch gelesen werden. Als anspruchsvolle Einführung dürfte diese neue Monographie einen Beitrag dazu leisten.

Niklas Holzberg: Catull. Der Dichter und sein erotisches Werk. Verlag C. H. Beck, München 2002. 228 S., Fr. 43.50.

 

 


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