Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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Quelle:
Neue Zürcher Zeitung Ressort Zürich und Region, 20. Juli 2002, Nr. 166, Seite 41
Lebensspuren aus einer römischen Kleinstadt
Zwei Publikationen zu den Grabungen in Oberwinterthur
rib. In mehreren Grabungskampagnen hat die Kantonsarchäologie seit Ende der siebziger Jahre verschiedene Areale in Oberwinterthur erforscht. Nachdem vorher längere Zeit nur Teile einer spätantiken Befestigungsmauer bekannt waren, ist Stück für Stück ein Bild des römischen Vitudurum entstanden, dessen Baugeschichte in einzelnen Bereichen über rund 300 Jahre verfolgt werden kann. Die Untersuchungen im Unteren Bühl und auf dem Kirchhügel, deren Ergebnisse jetzt in zwei umfangreichen Publikationen vorliegen, haben das Wissen über das Leben im römischen Vicus in wesentlichen Punkten erweitert.
Der Anfang des Westquartiers von Vitudurum, das im Bereich des Unteren Bühls lag, kann auf Grund der Befunde auf das Jahr 7 n. Chr. datiert werden. Es wies bereits alle Merkmale einer geplanten Überbauung auf. Nach einer vorangehenden Phase unsystematischer Bautätigkeit scheint die Siedlung damals entsprechend dem typischen römischen Bauplan mit rechtwinkligem Strassennetz und grösseren Wohnblocks von Grund auf neu gestaltet worden zu sein. Vitudurum bot also bereits kurze Zeit später den Anblick einer nach mediterranem Vorbild konzipierten Stadt. Die gesamte Ausdehnung der Siedlung kann nach den bisherigen Funden nicht bestimmt werden. Eine durch das Zentrum der Siedlung führende Strasse und ein ausgebautes System von Wasserleitungen und Abwasserkanälen zeigen aber, dass Vitudurum zumindest in spätrömischer Zeit über eine leistungsfähige städtische Infrastruktur verfügte.
Für die Rekonstruktion der Lebenszusammenhänge besonders wertvoll sind die gut erhaltenen Holzreste, die bei den Grabungen zutage getreten sind. Sie erlauben es, die Entwicklung des Hausbaus über zweihundert Jahre zu verfolgen, und lassen detaillierte Rückschlüsse auf den Stand der kaiserzeitlichen und spätrömischen Bautechnik zu. Reste von Mauern, Gruben, Herdstellen und kleine Einzelfunde ermöglichen zudem in einzelnen Fällen Aussagen über Gliederung und Verwendung der Räume. So lassen sich einzelne Gebäude als Werkstätten bestimmen, etwa zur Tuchherstellung oder zur Verarbeitung von Leder oder Eisen; es sind auch Verkaufs- und Lagerräume entdeckt worden, zum Beispiel das Geschäft eines Geschirrhändlers.
So lebendig das Leben in der römischen Provinzstadt durch diese Befunde in vielem wird, es ergeben sich auch Fragen. Da die Urbanisierung für die römische Provinzialverwaltung ein zentrales Element der Herrschaftsausübung war, dürfte die Initiative zum Ausbau von ihr ausgegangen sein. Doch welches Ziel sie mit dem aufwendigen Ausbau verfolgte, ist nicht so leicht zu sagen. Im dünn besiedelten Gebiet der heutigen Ostschweiz, das erst seit dem Feldzug des Drusus und des Germanicus um 15 n. Chr. direkt unter römischem Einfluss stand, könnte das Bedürfnis ausschlaggebend gewesen sein, das Terrain zu sichern. Die Archäologen erwägen aber auch, den Ausbau von Vitudurum als Ausdruck eines Baubooms in den Zentren zwischen Genfersee und Bodensee zu interpretieren. Träfe dies zu, so dürfte eine Reihe weiterer römischer Siedlungen im Schweizer Mittelland früher zu datieren sein. Die Befunde aus Oberwinterthur zeigen jedenfalls, dass schon die ersten Bewohner stark vom römischen «Way of Life» geprägt waren und vielleicht im Zuge der Stadtgründung angesiedelt wurden.
Ausgrabungen im Unteren Bühl. Die Baubefunde im
Westquartier. Ein Beitrag zum kleinstädtischen Bauen und Leben
im römischen Nordwesten (Vitudurum 6. Monographien der
Kantonsarchäologie Zürich 34). 2 Bde. samt Begleitmappe im
Schuber. Zürich/Egg. 267 und 337 S. mit zahlreichen Abb.,
Fr. 159.- (Subskriptionspreis bis Januar 2003: 129.-).
Ausgrabungen auf dem Kirchhügel und im Nordosten des Vicus
1988-1998 (Vitudurum 9. Monographien der Kantonsarchäologie
Zürich 35). Zürich/Egg. 370 S. mit zahlreichen Abb.,
Fr. 115.-.
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