Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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Neue Zürcher Zeitung Feuilleton, 10. Oktober 2001, Nr.235, Seite 62
Rom oder Tod
Gustav Seibt über den Kampf um die italienische Hauptstadt
In keinem der modernen Nationalstaaten lag die Wahl der Hauptstadt so nahe wie in Italien, in keinem hat sie so viele Schwierigkeiten bereitet. Das ergab sich aus der Doppelstellung Roms: einerseits politischer Mittelpunkt Italiens seit dem Römischen Reich und dadurch Orientierungspunkt aller politischen Sehnsüchte der Nation, andererseits Zentrum des Weltkatholizismus und seiner globalen Organisation wie auch lebendiger Ausdruck der Verbundenheit mit seinem kirchlichen Oberhaupt. Über alledem bestand durch die ganze Neuzeit hindurch eine internationale Konstellation, welche die Einigung Italiens lange Zeit verunmöglichte, weil die Rivalität der europäischen Führungsmächte ihr zuwiderlief.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren es zwei Aussenmächte, die in Italien die Vorherrschaft beanspruchten: Österreich und Frankreich. Die revolutionären Erhebungen des Doppeljahrs 1848/49 scheiterten vor allem deshalb, weil in Oberitalien Österreich aus seiner territorialen Basis Lombardovenetien nicht zu verdrängen war, während in Rom Frankreich als Schutzmacht des Papstes hervortrat und sich mit seinem Heer gegen Garibaldi und Mazzini durchsetzte und fortan die Ewige Stadt beschirmte. Es war die staatsmännische Leistung Cavours, in dieser scheinbar aussichtslosen Lage Frankreich gegen Österreich auszuspielen und im Einigungskrieg von 1859/60 dieses nicht nur zu verdrängen, sondern auch noch den Süden mit dem Königreich Neapel dem neuen Nationalstaat einzuverleiben, so dass der Staatsmann bei seinem Tode 1861 ein nahezu geeintes Italien hinterliess. Ende der 1860er Jahre blieb nur noch die «Römische Frage» übrig. Hier setzt das höchst anregende, gut lesbare Buch von Gustav Seibt, «Rom oder Tod. Der Kampf um die italienische Hauptstadt», ein, dessen Titel sich am Kampfruf Garibaldis - «Roma o morte» - orientiert.
Das offizielle Italien, seit 1864 in Florenz als provisorischer Hauptstadt etabliert, liess sich Zeit und wollte vor allem keinen Zwist mit Frankreich. Die Gelegenheit kam im Spätsommer 1870 mit dem Deutsch-Französischen Krieg und der Kapitulation Napoleons III. in Sedan am 2. September. Schon vorher hatte Frankreich seine Truppen aus Rom zurückgezogen. Nun fiel der Entschluss zum Griff nach der Hauptstadt, aber die italienischen Truppen wurden erst am 12. September in Marsch gesetzt. Ihr langsames Vorrücken, anhand zeitgenössischer Zeugnisse genüsslich geschildert, erreichte die Ränder der Ewigen Stadt nach zwei Tagen; den Angriff aber verzögerte man bis zum 20. September. Der päpstliche Widerstand beschränkte sich im Wesentlichen auf Kämpfe an der Porta Pia; dann lag die Stadt offen, ein Vierteljahrhundert später wurde der 20. September zum Nationalfeiertag erhoben. Der Besetzung vorangegangen waren allerlei Bemühungen, die aber zu nichts führten, da weder der Papst noch sein Aussenminister und Staatssekretär Antonelli sich zu Konzessionen bereit fanden. Die päpstlichen Nuntien konnten nur Gleichgültigkeit aus den verschiedenen Hauptstädten melden; als «niedrige Rache für das Konzil» (mit seinem Unfehlbarkeitsdogma) empfand derjenige in Wien der kühle Zurückhaltung des dortigen Staatskanzlers.
Zur Sanktionierung des Machtwechsels gehörte ein Plebiszit, das speditiv schon am 2. Oktober stattfand mit einem überwältigenden Mehr an Ja-Stimmen. An die Stelle des Vergleichs trat das einseitig erlassene Garantiegesetz, das dem Papst weitgehende Rechte, z. B. auf Bischofsernennungen ohne königliche Zustimmung, einräumte und ihm neben dem Vatikan auch den Lateranpalast, Castelgandolfo als Sommerresidenz und eine Jahresrente zugestand. Am 13. Mai 1871 unterzeichnete der König das Gesetz; seine Übersiedlung nach Rom verzögerte sich, Ende November eröffnete er die Parlamentssession im Montecitorio. Gegen päpstlichen Protest hatte er den Quirinalspalast bezogen.
Das bisher von der Geistlichkeit und der Aristokratie dominierte gesellschaftliche Leben Roms veränderte sich schon bald. Die Stadt, lange Zeit ein Hort der Modernitätsmüden, gewann durch gleichmässig angelegte Strassenzüge, zahlreiche Mietskasernen und Hotels jenseits der Innenstadt ein neues Aussehen. Demoliert wurde das bisher erhalten gebliebene Ghetto. Die Lage der Juden, die der besonderen Abneigung des Papstes ausgesetzt waren, weil er sie für die internationale Pressekampagne gegen den Kirchenstaat verantwortlich machte, besserte sich sehr rasch. Kehrseite des neuen Booms war der Anstieg der Grundstück-, Miet- und Lebensmittelpreise; unter der Raumnot hatten nicht zuletzt die Ministerien zu leiden, die sich oft auf viele Gebäude verteilen mussten. Zusätzliche Schwierigkeiten (auch räumlicher Art) bereitete der Zwang, die römischen Gesandtschaften zu verdoppeln, um den Vertretungen am Vatikan und am Quirinal zu genügen.
Tatsächlich blieb Rom bis ins 20. Jahrhundert eine geteilte Stadt, politisch wie auch hinsichtlich der Mentalitäten. Es wurde auch nie zu einem ökonomischen Zentrum, sondern zu einem der Verwaltung und des Tourismus. Die Frage einer päpstlichen Restitution blieb offen, da Italien die Zulassung des Vatikans zur Friedenskonferenz von 1919 verhindern konnte. Erst die Regierung Mussolini leitete einen Wandel ein, der schon im «Marsch auf Rom» begründet lag. Die Lateranverträge von 1929 mit der Wiederherstellung eines verkleinerten Kirchenstaates lösten die «Römische Frage» endgültig und stellten den einzigen dauerhaften Erfolg des Faschismus dar. Keinen Erfolg hatte die Monarchie. Als 1946 das italienische Volk über deren Beibehaltung abstimmen musste, gab der Vatikan keine Parole aus und unterliess es dadurch, das Haus Savoyen zu retten. Der 20. September 1870 blieb unvergessen.
Peter Stadler
Gustav Seibt: Rom oder Tod. Der Kampf um die italienische Hauptstadt. Siedler-Verlag, Berlin 2001. 352 S., Fr. 43.-.
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