Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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KZU


Quelle:

Neue Zürcher Zeitung Ressort Feuilleton, 30. Mai 2001

 

Nackte Weisheit

Alexander in Indien - antike Zeugnisse

Auf seinem Indien-Feldzug begegnet Alexander in der Nähe von Taxila indischen Weisen, die nackt umherwandeln, enthaltsam leben und sehr respektiert werden. Alexander, der nicht nur durch die Schule des Aristoteles gegangen ist, sondern auch seine Erfahrung mit den heimischen philosophischen Anarchisten, den Kynikern, gemacht hat, ist neugierig. Aber da die selbstbewussten Philosophen nicht zu ihm kommen wollen und er nicht zu ihnen gehen will, muss er einen Stellvertreter schicken. Der, Oneisikritos, kann sich gut mit dieser indischen Variante der Sophisten, den Gymnosophisten, verständigen. Nur mit der Nacktheit hapert es noch bei ihm. In jenen Leitbegriffen, die die nackten indischen Sophisten ebenso gut kennen wie ihre europäischen Kollegen, wird er belehrt, dass der Kleiderzwang Ausdruck einer - jedenfalls unter hitzigen indischen Bedingungen - unsinnigen Überordnung des Herkommens über die Natur sei («nomos» und «physis» hätten die griechischen Sophisten gesagt). Einer der Gymnosophisten lässt sich dann doch überreden, Alexander zu besuchen. Er heisst eigentlich Sphines, wird aber von den Griechen nach der indischen Grussformel «Kale» Kalanos genannt. Der Grosskönig und der grosse Gymnosophist finden Interesse aneinander.

Kalanos begleitet Alexander bis nach Persien zurück. Dort lässt er sich, als Gesundheit und Lebenskraft schwinden, in völliger Gemütsruhe auf einem Scheiterhaufen im Angesicht von König und Heer verbrennen. Offenbar ist dieser indische Sophist die konsequenteste Inkarnation philosophischer Unerschütterlichkeit, der den Griechen so sehr angelegenen «Ataraxie». Kalanos' Geschichte zeigt: Das hellenistische Zeitalter ist das erste Zeitalter der Globalisierung und zumal einer globalisierten Philosophie. Interkulturalismus, transkulturelle Studien und Interessen - wohlgemerkt aus Neugier, nicht zur Vorbereitung einer Mission - waren eine Selbstverständlichkeit. Noch nie zuvor und noch lange Zeit danach nicht konnten zwei Kulturen so viel voneinander lernen. «Gandhara» wurde die Chiffre dafür.

Der von Johannes Hahn besorgte Sammelband mit Zeugnissen antiker Historiker (Arrian, Strabo, Diodor, Plutarch, Megasthenes, Aelian . . .), die auf damals noch vorliegende Berichte von Augenzeugen zurückgehen, führt vorzüglich in diese einzigartige Epoche hinein. Philosophen und andere Geister, die das Unglück haben, 2300 Jahre nach dem Zeitalter des Hellenismus geboren zu sein, finden hier wünschenswerten Stoff für eine nachholende Zeitreise.

Ludger Lütkehaus

Johannes Hahn (Hrsg.): Alexander in Indien 327-325 v. Chr. Antike Zeugnisse. Verlag Jan Thorbecke, Stuttgart 2000. 300 S., Fr. 41.50.

 


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